Deppenzepter



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Der Tag der Abreise wird kurzerhand zum Tag VOR der Abreise. Denn plötzlich verfallen wir zwar in blinden Aktionismus (Steuererklärung fürs erste Quartal, diverse Rechnungen überweisen, Mahnungen bezahlen, Bad putzen, doch noch andere Schuhe besorgen), gleichzeitig erstarren wir ob der anstehenden Aufgaben. Und am Morgen der Abfahrt – die Schnittchen (nahrhaftes Roggenbrot für mich, ohne-Kommentar-Sandwichtoast für Christian) sind geschmiert, das Quinoa mit Früchten genau wie der Reis mit grünem Spargel luftdicht in Tupper verpackt, die vier Getränkeflaschen gefüllt mit Saft, Wasser, Tee und eine mit Magnesium Brausetabletten -,  gucken wir uns an und sprechen aus, was wir schon am Vortag dachten: Lass uns um einen Tag verschieben. Wir verschieben – und sind erleichtert.

Ich nutze das neue Zeitfenster, um einen Ersatz für die viel zu schwere, arschteure, aber vor allem wertvollen Stauraum klauende Nikon D90 zu besorgen. Mein Job, denn ich bin hier die mit dem Fotografenfimmel und -auge. Und weil ja das Handy nur bedingt Selbstauslösertauglich ist, muss eine Hilfe her. Wir hassen die Menschen, die ihn nutzen, aber am Ende wird er uns bestimmt sehr aus Herz wachsen, der gemeine Selfiestick.

Beim Discounter im Hauptbahnhof versuche ich mein Glück. Obwohl ich lieber zu den in rot gekleideten Jungs im Sterncenter gefahren wäre. Hätte ich mal auf meinen Instinkt gehört – dann hätte der sehr freundliche, sehr übergewichtige, sehr geruchsintensive – nennen wir ihn Peter – nicht auf seine Mittagspause verzichten müssen. Ich spielte die von mir nur selten genutzte Mädchenkarte aus: Freundliche, leicht piepsige Stimme, schief gelegter Kopf, große hilflose Augen: “Ich brauch so einen Selfiestick. Können Sie mir bitte zeigen, wie der funktioniert?”

Peter hat die drei Bluetooth-tauglichen Selfiesticks ausgepackt (einer in apartem neonpink, einer im von mir favorisierten unaufdringlichen Silber und einer in Schwarz mit innovativer metallicblauer Applikation). Keines erkennt mein Handy an. Peter bleibt geduldig, betont, wie geduldig er ist und versucht es immer und immer und immer wieder. Kommt zu der Überzeugung, dass mein Handy zu alt ist und ich dringend ein neues brauche (ja, natürlich.) Er scheitert fulminant auf ganzer Linie. Schielt immer wieder zur Uhr auf seinem Handy der allerneuesten Generation (es ist so groß wie mein kleines IPad) und seufzt schließlich: “Keine Ahnung.” Und ich? Bleibe ganz geduldig, obwohl ich normalerweise zickig werde, wenn ein angeblicher Fachverkäufer keine Ahnung hat. Und das dann auch noch zugibt – eigentlich sehr viel sympathischer als der Fachverkäufer beim großen Radhaus in Berlin, der im Brustton der Überzeugung sagte, das Ritzel würde passen – tat es dann aber nicht. Egal.

Während ich also immer noch keinen Selfiestick mein eigenen nennen darf, schaue ich mich unauffällig nach TECH-Nick um. Wo ist der Kerl, wenn man ihn mal braucht? Er erscheint nach geschlagenen 58 Minuten in Person von Micha, Glatze, dafür Bart und sehr viel weniger förmlich als sein junger Kollege. “Schätzlein, was willst du denn mit nem Deppenzepter, wenn du ne Nikon hast?”, fragt er und ich kann nicht anders: Ich strahle vor Glück! Als zertifizierte Dramaqueen brauche ich genau das – ein Deppenzepter! Muss ja auch nicht mit Bluetooth sein, mit Kabel reicht mir. Und genau da lag der Fehler: Mein mobiles Apfeltelefon unterstützt diesen Bluetooth-Kram nicht. Micha wünscht uns viel Spaß auf der Tour und ich präsentiere meinem Herzenskönig voller Stolz unser neues Symbol der Könige der Straße.

Und der Herzkönig gibt hier auch gleich ein Statement zur “Präsentation des Deppenzepters”, das sich wie folgt gestaltet:

Wir nehmen also die vollbepackten Reiseräder und fahren in den Park Babelsberg, um uns nach einem geeigneten Hintergrund umzuschauen. Der könnte oben beim Schloß sein. Ähm schwierig, weil erst zu weit, dann zu dicht und dann blödes Licht. Vielleicht an der Gerichtslaube? Die gleichen drei Probleme zuzüglich Menschen, die einfach nicht auf ein Selfie von uns gehören. Weiter zum Flatowturm. Licht doof, Entfernung kompliziert und zu viele Menschen. Des Königs Laune sinkt.  Selbst wenn ein Bild gut klappt, sind entweder die Deppen oder die Räder schlecht zu sehen. Ich beginne die Selfiesticks auch aus der Besitzersicht zu verachten. Die Königin hingegen ist voller Tatendrang. Noch mal runter ans Wasser, um es mit einem Blick auf Sonnenuntergang und/oder Hans-Otto-Theater zu versuchen. Ein einsamer Fuchs sieht so verwirrt aus, wie ich mich fühle. Wir haben scheinbar beide das gleiche Ziel: weg hier. Aber Maria Stuart der Fotografie hat sich dieses Foto in den Kopf gesetzt und wir haben gemeinsam bereits so viel Zeit hinein investiert, dass es wirklich Blödsinn wäre jetzt abzubrechen. Kurz schießt mir der Gedanke in den Sinn, wir könnten doch noch 1-2 Wochen verschieben, nur um das perfekte Motiv zu finden, da ist das Bild schon im Kasten. Es gilt also doch: Gut Ding will Weile haben.
Ich für meinen Teil habe übrigens das Wort Deppenzepter so liebgewonnen, dass ich es in meinen täglichen Sprachgebrauch übernommen habe.

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