Abrechnungsrückschaufazit



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Abrechnungsrückschaufazit

Wir haben es gewollt, getan und geschafft: Wir waren mit dem Rad in der belgischen Mittelaltermärchenstadt Brügge. Trotz Übergewicht, trotz Diabetes, trotz Uralt-sein. Wir lassen uns immer wieder die Zahlen auf der Zunge zergehen, schreiben sie mit Kugelschreiber auf einen Zettel, um schwarz auf weiß nachlesen zu können, was so viele Glücksgefühle in uns ausgelöst hat und immer noch auslöst: Insgesamt 78 Stunden und 10 Minuten saßen wir auf unseren schwarzen Brooks-Sätteln, sind in 25 Tagen flotte 1275 Kilometer geradelt. Haben auf 17 verschiedenen Campingplätzen, in einem Hostel, in einer Pension, in einem Fass und in einer Gartenhütte geschlafen. Haben insgesamt € 701,75 nur für Übernachtungen ausgegeben, weitere 45 Euro für Wäschewaschen und –trocknen.

Und doch. Diese Zahlen, Fakten und Daten sind nicht nur unvollständig (wir haben keinen Überblick, wie viel wir eigentlich für notwendige Nahrungsmittel, wie viel für Luxus in Form von Essen gehen, Kaffee unterwegs, Eis und Süßigkeiten draufgegangen sind). Sie können nicht mal im Ansatz vermitteln, welch fantastisches Abenteuer wir als Liebespaar und gleichzeitig als Team erlebt haben. Wie viel unfassbare Freude, wie viel nervigen Frust, wie viel von sämtlich denk- und vorstellbaren Gefühlsachterbahnen wir gemeinsam durchlebt haben.

Ja, das musst du auch erst mal bringen, 24/7 miteinander sein zu wollen – und zu können. Auf engstem Raum. Vollkommen aufeinander angewiesen. Bereit, absolut zu vertrauen, Kontrolle abzugeben. Und gleichzeitig zu 100 Prozent Verantwortung zu übernehmen. Für sich selber und für den anderen. Es ist erstaunlich, wie leicht es war. Und das bei aller Anstrengung. Wir haben diese Tour gemeistert und genossen. Es gab keinen einzigen Moment, an dem einer von uns dachte: Schnauze voll. Feierabend. Abbrechen. Ab nach Hause. Obwohl es immer als Option existierte, haben wir sie nie in Betracht gezogen. Gemeinsam Brügge zu erreichen war unser Ziel und dieses Ziel haben wir erreicht. Manchmal mit Hängen, manchmal mit Würgen. Aber interessiert das am Ende noch irgendjemanden? Nö.

Unterkünfte mit Bewertung. Sieger sind das Campotel (Christian) bzw. der Waldseecampinplatz Bettmar (Tina)

Ja, es war zwischendurch anstrengend. Arschanstrengend. Mehr als einmal bin ich über meine physischen wie auch psychischen Grenzen gegangen. Mehr als einmal habe ich vollkommen die Kontrolle über meine Gefühle verloren. Und mehr als einmal hat Christian mich so motiviert, dass ich Kräfte mobilisieren konnte, von denen ich nur heimlich, still und leise gehofft habe, dass sie tatsächlich existieren. Und vermutlich ist das das Geheimnis dieses Erfolges, dessen universelle Gültigkeit ich nicht scheue zu behaupten: Jede Herausforderung, der man sich gemeinsam oder alleine stellt, fordert vor allem eins: Nicht aufgeben. Niemals. Und wenn man sich zusammen in welches Abenteuer auch immer stürzt, dann braucht es Verständnis für einander. Ist es wichtig, sich gegenseitig Mut zu machen, sich zu motivieren, einander blind zu vertrauen. Kann man übrigens alles lernen. Ehrlich.

Naja, und jetzt sind wir zurück und staunen immer noch, wie zufrieden Minimalismus machen kann, wie frei und entspannt es sich mit dem absolut Nötigsten reisen und am Ende eben zumindest zeitweise leben lässt. Und wir wurden verdammt genügsam: Pro Toilettengang maximal vier Blättchen Klopapier, statt einer halben Rolle. Wie kreativ wir wurden? Ich skandiere fröhlich: Socken zu Armschonern! Mülltüten zu Weinkühlern! Spanngurte zu Wäscheleinen! Sparsam waren wir vor allem bei Postkarten – gerade mal vier haben wir geschrieben und verschickt. Sorry an all, die keinen schriftlichen Gruß von uns bekamen.

Was bleibt eigentlich nach so einem Abenteuer? Schwielen am Hintern? Ja. Oberschenkel, die die Jeans zum platzen bringen? Jau. Waden, um die dich jeder Fußballer beneidet? Ja, auch. Aber vor allem bringt es das Wissen und die Gewissheit: Es gibt keine Hürde, die man nicht nehmen kann. Es gibt immer eine Lösung. Das Wichtigste, was bleibt, sind für mich allerdings diese zwei Fragen: Wohin beim nächsten Mal? Wann geht’s wieder los? (Beide Fragen sind übrigens bereits beantwortet).

Ja, Christian hat mich angesteckt. Jetzt bin auch ich süchtig nach weiteren Radtouren. Zähle ich sehnsüchtig die Wochen und Monate, bis die Räder wieder bepackt und abfahrbereit im Hof stehen. Es wäre gelogen zu behaupten, die Tour war ein einziges Fest. Sie war mitunter tierische Quälerei. Aber sie war eben auch großartig, einmalig, nicht wiederholbar. Und doch! Mitte Mai 2019 werden wir definitiv nicht, wie ursprünglich gedacht, in den Flieger nach Kuba steigen, sondern uns aufs Rad schwingen. Und dann heißt es wieder: Klingo-Castle – Couchpotatos on Tour.

All das haben wir in acht Packtaschen verstaut – und es war immer noch zu viel.

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

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Christian

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Tag 25 – von Vrouwenpolder nach Potsdam



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Tag 25 – von Middelburg nach Potsdam

So. Neue Woche, neues Glück. Und damit kommen wir gleich zur wichtigsten Frage des Tages: Wann ist eigentlich eine gute Zeit, um zu starten? Also, den neuen Tag entspannt, weil ausgeruht zu beginnen? Bevor hier irgendjemand Absurditäten in den Raum trötet, greife ich mal vor und erkläre: Definitiv ist 4.30 Uhr keine gute Zeit. Vollkommen indiskutabel. Maximal ok, um nach dem wattigen Lärmschutz zu tasten und sich in die Ohren zu schrauben. Liebe Daheimgebliebenen, liebe arbeitende Bevölkerung: 4.30 Uhr ist eine echte Kackzeit! Jeder, der um 4.30 Uhr aufstehen muss, wird von mir aufs allergrößte bedauert und bewundert. Ich finde 4.30 Uhr ist mindestens drei Stunden zu früh für alles.

Interessiert aber meine innere Uhr offensichtlich gar nicht. An diesem Montagmorgen um 4.30 Uhr macht es klack – meine Augen klappen auf, ich bin hellwach und gleichzeitig schreiend müde. Draußen ist irritierende Ruhe. Kein einziges Tirili, kein gedämpftes Tschilpen, kein scheues Kuckuck. Nüscht. Stille. Abgesehen vom leisen Schnorcheln im Nachbarschlafsack. Dafür kann ich nicht schlucken, ohne dass Reibeisenassoziationen vor meinem inneren Auge aufploppen. Mein Hals ist rau und wund und ich kann quasi seine Röte spüren. Ah, verdammt. Halsschmerzen! Ganz schlechtes Zeichen. Ich krame so leise es geht nach einem Bonbon, kuschele mich wieder in den Schlafsack und schlucke probehalber noch mal. Nein. Kein doofer Traum. Ich habe tatsächlich schmerzhafte Schluckbeschwerden. Ich werde krank? Echt jetzt? Keine 150 Kilometer vor Amsterdam? Gibt’s ja wohl nicht. Geht gar nicht. Ein winziges Gedankensamenkörnchen buddelt sich in mein noch träge arbeitendes Hirn. Ich kneife die Augen zu, es ist einfach noch viel, viel zu früh für alles. Ich beschließe, einfach nicht mehr zu schlucken, und während ich mich krampfhaft darauf konzentriere, schlafe ich wieder ein. Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ratzt mein Frühaufsteher immer noch, sind die Halsschmerzen noch immer da, zeigt die Uhr immerhin schon 7.30 Uhr.

Das Gedankensamenkörnchen von 4.30 Uhr ist zu einem riesigen Gedankenbaum gewachsen, der nur eine einzige Frucht trägt. Name: Fahrverweigerung. Mein Hirn beginnt direkt zu arbeiten und der Gedanken rollt sich vor mir aus zu zwei Sätzen: „Ich möchte heute lieber mit dem Zug nach Amsterdam. Ich möchte mich nicht quälen müssen.“ Überrascht liege ich einen Moment still und lausche in mich. Hab ich das wirklich gedacht? Ich möchte mit dem Zug nach Amsterdam – statt mit dem Rad zu fahren? Ich will mich nicht quälen müssen? Und nur, weil ich ein bisschen Halsschmerzen habe?! Was stimmt denn mit mir nicht?

Verlassen, aber mit pünktlichem Zugverkehr. Ohne Probleme kann man in Holland sein Rad mit in den Zug nehmen.

Beim rauspellen aus dem Schlafsack, beim Schlappen suchen, auf dem Weg zu den Waschräumen, beim Zähneputzen – meine Gedanken kreisen nur darum, wie ich es formuliere, ohne dass es kränklich oder zickig oder nörgelig oder …. „Ich würde gerne mit Zug nach Amsterdam fahren“, sage ich schließlich, während wir beim Frühstück sitzen. Es ist gerade mal 9 Uhr, die Sonne brutzelt jetzt schon, wir haben alles zusammen gepackt und ich habe tatsächlich die Geduld aufgebracht, bis zu diesem Moment zu warten. Überraschenderweise scheint Christian beinahe erleichtert – gibt allerdings zu bedenken, dass es von hier aus schwierig wird nach Amsterdam zu kommen. Völlig egal. Er ist nicht enttäuscht. Alles andere wird sich finden. Innerlich gönne mir einen riesigen Behaglichkeitsseufzer. 

Und was dann passiert, irritiert uns beide – und entlastet uns augenblicklich. Es steht nämlich die Frage im Raum, ob wir überhaupt noch nach Amsterdam wollen? Jetzt, wo die Luft offensichtlich raus ist – aus unseren Körpern wie auch aus den Geldbörsen. Wäre es ein aufgeben, jetzt direkt nach Hause zu fahren? Wir sind uns geradezu absurd schnell einig: NEIN. Unser Ziel war immer Brügge. Amsterdam hatten wir als Endpunkt gewählt, weil man von dort aus schnell (weniger als sechs Stunden) und unkompliziert (entweder per Flix-Bus oder der Deutschen Bahn) zurück nach Potsdam kommt. Jeder betont, kein Problem damit zu haben, dieses Mal nicht nach Amsterdam zu fahren. Läuft uns ja nicht weg, versichern wir uns gegenseitig und sind glücklich und stolz und befreit, dass wir diese Entscheidung so leicht und mühelos getroffen haben.

Bis zum Bahnhof nach Middelburg sind es knapp sieben Kilometer. Und während wir in die Pedalen treten, denke ich bedauernd, vielleicht war mein Vorschlag vorschnell; vielleicht sind die Halsschmerzen gar kein Warnzeichen meines erschöpften Körpers, sondern nur die Probe auf Exempel, ob ich die letzten 150 Kilometer auch noch schaffen will. Doch dieser kleine Gedankenkonflikt löst sich in Wohlgefallen auf, als wir den Bahnhof nach einigem rumkurven durch die Fußgängerzone finden. Am Bahnsteig treffen wir auf ein holländisches Radlerpaar – er wirkt wie ein Guru für Bewusstseinserweiternde Seminare; ihr sieht man an, dass sie seit über 50 Jahren raucht und das bisschen, was sie isst, lieber in Hochprozentigem zu sich nimmt. Beide sind unglaublich herzlich und hilfsbereit. Gemeinsam hieven wir unsere vier vollgepackten Räder in den richtigen Zug. So unkompliziert ist das nämlich bei unseren holländischen Freunden: Jeder Zug – ob Regio oder IC – hat mehrere Radabteile. Sind sie voll, hat man Pech. Ansonsten steigt man mit seinem Rad einfach ein. Ohne Reservierung, ohne kompliziertes Prozedere à la Deutsche Bahn, die sich einmal mehr ein absolutes Armutszeugnis ausstellt, wenn es um Spontan-Reisen geht. Unter drei Tage im Voraus reservieren geht da nämlich schon mal gar nicht. 

Zwei fröhliche holländische Reiseradler, denen wir beim Aus- und Umsteigen behilflich sind.

Die beiden Radler bitten uns, ihnen beim nächsten Bahnhof mit den Rädern zu helfen, weil sie nur zwei Minuten Umsteigezeit haben. Machen wir gerne. In einiger Hektik werden erst unsere beiden Räder an den anderen Mitfahrenden bzw. Aussteigenden vorbei geschoben und auf dem Bahnsteig geparkt. Dann die holländischen Fietsen, </em>dann unsere Räder wieder rein. Wir verabschieden uns eilig, aber fröhlich, uns fliegen noch Kusshändchen zu. Sehr schräg die beiden, sagen wir noch und schauen verträumt aus dem Fenster. Etwa eine Minute nach der herzlichen Verabschiedung starrt Christian mich an: „Wir müssen hier auch umsteigen.“ Hä? Wie jetzt? Scherz? Nein. Mein Navigator macht keinen blöden Witz, sondern zieht schon sein Rad aus der Ecke. Ich tue es ihm nach, wir hieven unsere Räder raus. Zum Glück müssen wir nur den Bahnsteig wechseln – aber: Unser Zug fährt ganz vorne los. Und wir stehen selbstverständlich ganz hinten. Wir sprinten los, ich nutze das Rad wie einen Roller, weil, fahren traue ich mich dann doch nicht. Ich erreiche den hintersten Wagon, als das Geräusch der sich schließenden Türen erklingt. Ich  drücke wie blöd auf den Knopf, der die Tür wieder öffnet. Sehe vorne den Schaffner zur Abfahrt winken. Ich winke ihm zu, versuche verzweifelt zu signalisieren, wir brauchen nur noch einen Moment. Drehe mich um, Christian ist noch immer mindestens zehn Meter entfernt. Warum rollert er nicht, denke ich und brülle gleichzeitig seinen Namen. Drücke erneut auf den Knopf und endlich, die Tür zum Zugabteil öffnet sich. Ich entwickle Bärenkräfte und hieve mein schweres Rad ohne Hilfe ins Abteil. Schaue dabei in die staunenden Augen vom Guru und der Schnapsdrossel mit den knallroten Lippen. Und endlich erreicht auch Christian den Zug, schiebt den Silberpfeil neben Betty Blue. In buchstäblich letzter Sekunde. Die Tür schließt sich und schon rollt der Zug an. Aller Holländer, so richtig was gelernt haben wir die vergangenen drei Wochen irgendwie nicht, oder? Die nächste Bahn wäre in einer Stunde gefahren. Also – wozu eigentlich der ganze überflüssige Stress?

Wir lachen stolz, dass wir es geschafft haben. Unsere beiden holländischen Radler freuen sich, dass wir uns wiedersehen und unsere Plauderei hat die Qualität von alten Bekannten, die sich zufällig wiedersehen. Bevor sie im Abteil verschwinden, bittet die rotlippige Schnapsdrossel, beim übernächsten Halt mit den Rädern zu helfen, weil sie dann nur – richtig! – zwei Minuten Zeit zum umsteigen haben. Der Guru unterbricht seine flatterige Gefährtin und beruhigt: Sie haben ganze sieben Minuten. Na ja, dann. Sie entschuldigt sich, immer so nervös zu sein und dann erzählen sie uns von ihrem Tripp, der sie quer durch Holland geführt hat. Sie nutzen dabei vrienden op de fiets (Fahrradfreunde): Man melde sich im Internet an, zahlt einmalig eine Gebühr von 80 Euro und kriegt dann für ein Jahr lang ganze Häuser oder eben Wohnung vermittelt. Pro Person, pro Nacht für 39 Euro, inklusive Frühstück. Ist jetzt noch mal um einiges teurer als mit dem Zelt, dafür aber natürlich spannend, luxuriös und preiswerter als im Hotel zu übernachten. Und da der Guru und die Schnapsdrossel jeweils die 70 fröhlich  überschritten haben dürften, ist das natürlich eine super Alternative zum Zelten bzw. zum Hotel. Die Fotos, die sie auf ihrem Handy zeigt, machen jedenfalls Lust darauf, dieses „System“ auch mal auszuprobieren. So in zehn Jahren oder wenn wir beide reich und berühmt geworden sind. 

Dann kommt der Schaffner, will aber nicht etwa unsere Tickets sondern, sondern grinst uns an und fragt mit charmantem Akzent auf Englisch, ob ich das gewesen wäre, mit dem Aufspringen in letzter Sekunde. Ich nicke und entschuldige mich zerknirscht. Und er? Grinst diebisch erfreut und lacht: „You did a good job – I did a good job. Everybody is happy.“ Wie? Keine oberlehrerhafte Standpauke, die man sich bei der Deutschen Bahn mit gesenktem Kopf hätte anhören müssen? Nee. Es gibt ein Lob, dass wir so pfiffig waren, den Zug noch geschafft zu haben. Komm, Liebling, lass uns zu den Holländern ziehen.

So komfortabel reisen Räder bei der holländischen Bahn: Mit eigener Parkbucht, wo sie niemanden stören.

Der Guru hatte behauptet, in Hengelo würde es einen Bahnschalter der Deutschen Bahn geben. Da könnten wir dann unsere Rad-Reservierung bekommen. Deswegen sind wir ziemlich entspannt, was unsere Weiterfahrt nach Potsdam angeht. Denn via Internet können wir zwar zwei Sitzplätze für uns reservieren, aber nicht für unsere Räder. Ich schalte per whatsapp Christians Schwester ein, die unschlagbar ist, wenn es um recherchieren von unmöglichen Dingen ist. Aber auch Jule kann nicht weiterhelfen. Wir vertrösten uns gegenseitig auf Hengelo. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Es gibt dort keinen Schalter der deutschen Bahn. Dafür bekomme ich eine „Notfallnummer“, die ich anrufe. Auf Englisch erkläre ich unseren Wunsch – wir möchten noch heute nach Deutschland, mit unseren Rädern. Familienangelegenheit. Dringend und so. Ein bisschen auf die Tränendrüse würde helfen, dachte ich. Tja, nicht denken, nachdenken. Hätte ich das getan, wäre mir wieder eingefallen, dass bei der Deutschen Bahn (und bekanntlich nicht nur da) größter Wert auf Umständlichkeit und Kundenunfreundlichkeit gelegt wird.  Die freundliche Holländerin bestätigt das auch, gibt alles – kann uns nach 20 Minuten aber auch nur Tickets inklusive Radreservierung für den folgenden Tag, 14.30 Uhr ab Osnabrück organisieren. Ich sehe mich schon mit den Eltern meines besten Freundes telefonieren, ob sie uns in ihrem Garten zelten lassen würden. Ich gebe meine Kreditkartennummer am Telefon durch (Ich will keinen Kommentar hören! KEINEN!), bestätigte die Zahlung von 99 Euro für zwei Personen und zwei Räder und entscheide dann gemeinsam mit Christian, dass wir auch versuchen können, uns mit den Regionalbahnen nach Hause durchzuschlagen. Das, was ich vor einer halben Stunden noch vehement abgelehnt hatte, erscheint mir angesichts der drohenden Zeltnacht in irgendeinem Osnabrücker Garten jetzt doch irgendwie verlockend. Also verschweige ich, dass die Tickets bereits per Visa bezahlt sind und denke: Hm, blinden Aktionismus muss man sich auch leisten wollen.

Ach, und irgendwie ist es alles sehr vergnüglich. Wir haben zu trinken, genug zu essen, die Sonne scheint und irgendwie ist es absurd, dass wir jetzt mit der Bahn nach Hause fahren. Christian freut sich auf unser trautes Heim, ich habe dazu keine Meinung. Nee, stimmt nicht. Ich würde lieber mit dem Rad weiterfahren. Gleichzeitig bin ich aufgrund meiner Erschöpfung  auch dankbar, heute nicht radeln zu müssen. (Äh, Moment mal. Wo sind eigentlich meine Halsschmerzen?) Wir fahren in kleinen Abschnitten durch die Niederlande zunächst bis nach Niedersachsen. Fast alle wären sie Tagesetappen mit dem Rad. In der  Westfalenbahn haben wir eine sensationell freundlich-witzige Schaffnerin, die uns Vorschläge macht, wie wir am besten weiterkommen. Hat Christian zwar alle Verbindungen längst per Handy organisiert, aber ich habe das Gefühl auch ein bisschen was zu unserer Rückreise beitragen zu wollen.
Dann steht auf der Kippe, ob wir überhaupt die letzte Bahn ab Magdeburg bekommen. Ich bin dafür, jetzt schon (es ist 17.30 Uhr) einen möglichen Abholdienst zu organisieren. Mir fallen auf Anhieb zwei Freundinnen und Schwägerin Jule ein, die diesen Job erledigen könnten. Christian ist dagegen, dass wir jemanden mit unserer Angelegenheit behelligen. Dieser Moment hat tatsächlich mehr Streitpotential als alles, was wir in den vergangenen Wochen miteinander erlebt haben. Aber wer will sich schon das Ende eines unglaublichen Abenteuers versauen, indem er auf seiner Meinung beharrt? Christian will es jedenfalls nicht und nimmt mir damit den Wind aus den Segeln.

Hauptbahnhof im niedersächsischen Braunschweig, 18.30 Uhr und ganz 7 Minuten Zeit zum Umsteigen.

Ich beginne für unseren Blog zu schreiben, Christian liest. Wir schaffen mit Leichtigkeit den Regio von Braunschweig nach Magdeburg und kniffeln im leeren Abteil eine große Partie. Überhaupt vergeht die Zeit unglaublich schnell. Viel zu schnell. Alles läuft so unverschämt unkompliziert – kenm’ ich sonst nicht von der Bahn -, dass wir Montagnacht, bzw. Dienstagmorgen um 1.10 Uhr auf dem Potsdamer Hauptbahnhof die Räder aus dem letzten Regio dieser Nacht, die Rolltreppe erst hoch und dann wieder runter schieben. Unglaublich. Unfassbar. Noch vor 13 Stunden saßen wir irgendwo in Holland – jetzt sind wir zuhause.
Der Vollmond begrüßt uns. Wir schwingen uns auf unsere Räder, machen einen kurzen Zwischenstopp bei unserer Lieblingskneipe, die gerade schließt und wo man uns offensichtlich überhaupt nicht vermisst hat. Wir radeln weiter durch die laue Sommernacht und sind uns einig: Eigentlich könnten wir die ganze Nacht durchfahren nach … wohin auch immer.

An diesem Morgen spielen viele Faktoren für unsere Entscheidung eine Rolle. Klar, das Wetter der letzten Tage war unglaublich anstrengend und die uns heimsuchenden Krankheiten ebenfalls. Finanziell war zumindest ich am selbstgesetzten Limit, auch wenn Amsterdam sicher gerade noch zu stemmen gewesen wäre. Allerdings stellt sich mir die Sinnfrage dieses Unternehmens: Fahren wir jetzt mit dem Zug nach Amsterdam, um uns die Stadt im Zweitageseiltempo anzuschauen, nur um dann wieder mit dem gleichen Zug in die Gegenrichtung zu fahren? Denn sicher ist eines: Mich stören die Räder in Großstädten erheblich. Was mich auf dem Land unglaublich flexibel und frei macht, erweist sich in Städten oftmals als ziemlicher Bremsklotz. Nein, ich will nicht mit dem Rad durch Amsterdam, auch wenn es eine der fahrradfreundlichsten Städte auf diesem Kontinent sein soll. Amsterdam anfahren, nur um im Nachhinein behaupten zu können, in Amsterdam gewesen zu sein? Alles in allem spricht für mich viel gegen die Fortsetzung der Reise, aber nichts so sehr wie die Tatsache, dass ich einfach unglaublich erschöpft bin und gleichzeitig super aufgeregt, auf das, was da jetzt vor mir, vor uns liegt: Ein neuer Abschnitt im Leben. Und ich kann ihn kaum erwarten.
Ja, ich möchte jetzt nach Hause und ja, ich bin glücklich mit der Entscheidung und ja, ich bin fröhlich, als wir in Middelburg ankommen und den Zug besteigen können. Die letzten 6 Etappen der Tour liegen jetzt zwar noch vor uns, aber diese werden wir heute alle in einem Rutsch erledigen. Auch wenn es zwischenzeitlich so aussieht, als würden wir irgendwo für eine Nacht stranden, habe ich wie immer Vertrauen in das Leben.
Und während wir aus den Zugfenstern schauen, erkennen wir hier und dort Stellen und Orte, die wir Tage oder Wochen zuvor aus eigener Kraft erreicht haben. Mir fallen Geschichten zu ihnen ein, und Stimmungen, die unser Handeln bestimmt haben, werden wieder spürbar. Und am Ende des Tages werden aus den heute Morgen geplanten 64 Kilometern plötzlich 862 Kilometer. Meine Erschöpfung, die mir in den letzten Tagen so unaufhaltsam in die Knochen geschlichen ist, weicht der Freude, endlich wieder zu Hause zu sein. Und noch etwas fällt mir auf, nämlich, dass man den viel beschworenen Punkt des Aufhörens oftmals verpasst. Wenn es am schönsten ist… Dazu habe ich ganz klar eine Meinung: Man weiß erst auf der Talfahrt, wann man den Höhepunkt überwunden hat. Und dann, nicht vorher, sollte man den Punkt zum Absprung finden. Ich glaube, das haben wir ganz gut geschafft. Ohne Plan, sondern nur aus dem Bauchgefühl heraus.

 

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Tag 24 – von Dishoek nach Vrouwenpolder



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Tag 24 – von Dishoek nach Vrouwenpolder

Heute ist es endlich soweit und ein weiterer Höhepunkt der Tour steht an: Ein Regentag!

Auch wenn es mit Mary und Robert echt lustig und gemütlich ist, aber direkt nach dem Aufstehen den Hasen dabei zu beobachten, wie er mal wieder Kinder für das gemeinsame Spaßprogramm einsammelt, ist einfach zu viel! Ich denke, Rattenfänger von Hameln, und bin schon wieder fassungslos, ob der dröhenden Musik und der vor Begeisterung kreischenden Kinder, die dem wild winkenden Hoppler hinterherrennen. Ich bin heute wieder einmal viel zu früh wach. Der Husten und die einsetzende Sonne treiben mich aus dem Zelt, und so beschließe ich, noch ein bisschen Schreiberei hinter mich zu bringen. Es ist kurz nach 6 und auf dem Campingplatz herrscht noch Ruhe und Frieden. Von den angekündigten Kinderlärm haben wir heute Nacht nichts mitbekommen, was eventuell daran lag, dass Tina während meiner gestrigen Dusche kurz bei deren Eltern um ein bisschen Ruhe gebeten hat. Mary erzählte, dass die junge Generation Camper offensichtlich keine Ahnung hat, wie man sich auf einem Campingplatz benimmt. Wie? Naja, Rücksichtnahme, ab 22 Uhr ist eben Platzruhe und dann wird geflüstert, statt lautstark die Kinderentwicklung diskutiert. Also bin ich direkt zu unseren Nachbarn – drei deutsche Elternpaare, alle um die Ende 20, Anfang 30 -, und habe sie mit gesenkter Stimme darauf aufmerksam gemacht, dass man jedes Wort im 10 Meter entfernten Zelt hört… Puh, manchmal komme ich mir vor wie Else Kling. Während ich schwer ins Schreiben vertieft bin, bemerke ich kaum, dass sich der Himmel langsam zuzieht. Erst als die ersten Tropfen aufs Display fallen, erkenne ich den Ernst der Lage und spurte zum Zelt, um einige vor dem Eingang verstreute Dinge in Sicherheit zu bringen. Kaum ist alles weg, hört auch der Regen auf. Trotzdem ist es noch immer viel zu früh, um Tina zu wecken und so nehme ich das Tablet, um einen erneuten Schreibversuch zu unternehmen. Gegen 8 beschließe ich, die Blogerei ab jetzt langweilig zu finden und schleiche vorsichtig ans Zelt, um mal nach meiner Dame zu schauen. Diese sitzt bereits zwar noch etwas zerknautscht im Zelt, hat aber übermütig gute Laune. Zumindest bis zum großen Auftritt von Koos Konijn – dem dusseligen Nervhasen. Was für die meisten Eltern hier wahrscheinlich toll ist, haben sie doch jetzt ein bisschen Zeit für sich, nachdem das verlauste Viech ihre Kinder adoptiert hat, ist für uns eher grenzwertig. So lässt auch mein Husten spontan nach und ich fühle mich superfit und unglaublich ausgeruht für die heutige Etappe. Noch eine Nacht werde ich hier auf keinen Fall verbringen!

Kurz vor Abfahrt startet der Regen – pausiert für eine viertel Stunde und hört dann nicht mehr auf

Ein weiteres Mal kündigt sich Regen an und ich dränge darauf, das Zelt abzubauen und die Räder fahrfertig zu machen. Ist erst einmal alles in den Taschen, stört mich der Regen nicht mehr sonderlich, denn einen Unterschlupf für sich selbst findet man zum Glück fast überall. Robert und Mary laden uns derweil zu einem letzte Tee bzw. Kaffee ein und beginnen ihrerseits ebenfalls mit den Abbauarbeiten. Sie wollen heute weiter nach Domburg, wo sie einen lang ersehnten Platz auf einem Campingplatz ergattern konnten. Wir sind zum Frühstück bei Mary und Robert eingeladen, aber irgendwie kriegen wir das nicht gebacken. Zwischen Artikel-schreiben und Räder zusammenpacken passt kein entspanntes Tee- bzw. Espresso-trinken. Und dann beginnt es auch schon zu tröpfeln. Eine herzliche Verabschiedung und das Versprechen in Kontakt zu bleiben später setzen wir uns auf unsere Räder und fahren zur Ausfahrt, nur um 30 Sekunden später von einem einsetzenden Regenschauer unter das Vordach der an den Platz angeschlossenen Imbissbude gezwungen zu werden. Das hat auch einen Vorteil, können wir doch Mary und Robert beim Verlassen des Platzes eine halbe Stunde später noch einmal zuwinken. Unsere Abfahrt hat sich auf 13 Uhr verschoben, und meine gute Laune wird vom Regen weggewaschen. Als sich die ersten verzweifelten Strandbesucher ebenfalls unter dem Dach in Sicherheit bringen und es langsam aber sicher voll zu werden droht, lässt der Regen endlich soweit nach, dass wir beschließen, die Strecke in Angriff zu nehmen. Unser Glück hält auch sagenumwobene fünf Minuten an, bis der Regen mit einer ungeahnten Heftigkeit zurückkommt und wir auf einem leeren Parkplatz erst einmal die Zeltplane über unsere Köpfe ziehen müssen, um nicht binnen kürzester Zeit komplett durchnässt zu werden. Das ist zwar schon irgendwie gemütlich, aber für unsere Tour ein bisschen hinderlich. 

Ab jetzt kennt das Wetter keine Gnade mehr und unterscheidet sich lediglich in der Intensität des Regens. Ein stetiger Wechsel zwischen viel und sehr viel zwingt uns während des Fahrens immer wieder dazu, zu pausieren und unseren Kleidungsvorrat anzufassen, um uns eines trockenen Shirts oder einer wärmende Jacke zu bedienen. Ich habe mal wieder etwas gefunden, um meine schlechte Laune zu verdoppeln. Die Regenjacke! Teuer bezahlt, vom gleichen Ausstatter wie unser großartiges, wunderbares Zelt und meine grandiosen Radlerhosen – VAUDE – versagt, wie eine teure Regenjacke nur versagen kann. Ich werde nass. Klitschnass. Und immer ruhiger. Zum Ausflippen ist es einfach zu ungemütlich und zu kalt. Zu allem Unglück führt uns die Karte auch noch ein wenig an der Nase herum und gibt uns keine Möglichkeit, meine Schlamperei beim morgendlichen Planen in irgendeiner Form zu kompensieren. Wir fahren im Zickzack und fliehen zwischendurch mal unter das Dach einer Tankstelle, mal unter das Vordach einer örtlichen Pflegestation. Auch auf die radreisefreundlichen Öffnungszeiten der Supermärkte ist hier kein Verlass und somit fällt eine Verpflegung für das heutige Abendessen auch ins sich inzwischen überall sammelnde Regenwasser. Zu all der Ungemütlichkeit kommt tatsächlich der scheinbar unzerstörbare Humor meines Chef-Navigators. Er ist offensichtlich krank – was er übrigens ziemlich gut runterspielen kann, sodass mir gar nicht bewusst wird, wie angeschlagen er tatsächlich ist – und trotzdem nicht verlegen um ernsthaft doofe Sprüche wie: „Nur wer mal einen Tag im Regen gefahren ist, kann von sich sagen, ein echter Reiseradler zu sein.“ Oder: „Das lässt sich prima erzählen, zuhause, in ein paar Wochen. Dann lachen wir drüber.“ Äh, ‘tschuldigung, dass mich dieser Aspekt gerade kein bisschen interessiert.

In der kleinen Stadt Serooskerke lässt das Wetter dann endlich von uns ab und wir beginnen an der Erreichbarkeit des heutigen Zieles zu zweifeln. Seit der Verabschiedung von unseren beiden Münchnern Campern sind inzwischen dreiStunden vergangen und wir haben gerade einmal 22 Kilometer geschafft. Weitere 45 Kilometer sind unser beider Meinung nach illusorisch, zumal wir dringend zumindest einen Wäschetrockner bräuchten, um die ganzen durchgeweichten Klamotten wieder irgendwie nutzbar zu machen. Also planen wir kurzerhand um und entscheiden uns, nach den guten Erfahrungen des letzten Platzes, noch einmal für eine Naturkämperei in ca. 10 Kilometern Entfernung. Einmal mehr ist es überraschend, dass sämtliche Distanzen unter 30 Kilometer wie ein Katzensprung erscheinen. Und sogar 30 Kilometer und mehr wirken nicht mehr bedrohlich oder auch nur irgendwie vorauseilend erschöpfend. Und wahrlich, es ist auch ein toller Platz, der uns nach dem Durchfahren des wunderschönen, fast mittelalterlichen Örtchens Veere erwartet. Ich möchte zum Campingplatz und dann mit trockenen Füßen zurück nach Veere. Ja, vermutlich wieder mal Touri-Nep, aber die vielen kleinen Cafés und geöffneten Geschäfte wecken eine Sehnsucht in mir, wie bislang nicht einmal auf der Fahrt. Ich sehe mich schon kleine Mitbringsel erbeuten…

Bei Regen bleibt einem eben nichts anderes übrig, als den Gaskocher im Zelt anzuwerfen

Es gibt hier Natur so weit das Auge reicht, Duschen und auch ein paar Toiletten. Nur eine Waschmaschine und einen Trockener gibt es leider nicht. Aber gerade heute ist beides unerlässlich und so ziehen wir schweren Herzens wieder von dannen, um nach einem anderen Platz Ausschau zu halten. Eine Sache will ich allerdings noch wissen: Wie teuer ist diese Campingoase eigentlich? Da es hier keine klassische Rezeption gibt, sondern nur einen Automaten, an dem man seine Übernachtung buchen kann, versuche ich zumindest theoretisch einmal eine Übernachtung zu erstehen. Als der Automat von mir theoretische 37 € verlangt, falle ich fast in Ohnmacht. Dann kaufe ich lieber ein paar Kisten Krombacher und rette den Regenwald damit. Der Platz ist wirklich ein Traum. Mitten im Wald gelegen, ein Teich, der schon beinahe See ist; ein verzweigter Bachlauf, über den Holzbrücken führen; kleine Lichtungen, auf denen man sein Zelt genauso wie sein Wohnmobil stellen kann. Und dann kommt da noch dieses ziemlich alte Radler-Pärchen. Sie filmt ihn, als er auf den Platz fährt. Zwei, die mit Sicherheit seit Jahrzehnten regelmäßig mit Rad und Zelt unterwegs sind. Zu gerne hätte ich ein paar Geschichten von ihnen erfahren. Nach ein paar weiteren Versuchen, einen Campingplatz zu finden, der nicht unverschämt teuer ist, werden wir in endlich in dem kleinen, ebenfalls sehr touristischen Ort Vrouwenpolder fündig. Hier können wir für einen erschwinglichen Betrag unser Zelt aufschlagen und sowohl die Waschmachine als auch den Trockner benutzen. Der Betreiber verlangt gerade mal 22 Euro und dann ist da ja noch sein zweijähriger Schäferhund, der sich hingebungsvoll den Bauch kraulen lässt und liebevoll mein Handgelenk zwischen seine strahlend weißen Zähne nimmt und überhaupt schrecklich albern ist. Wo ein Köterkind rumrennt, da können wir uns entspannen. Trotzdem sind wir ein bisschen deprimiert. Denn dafür, dass wir gerade einmal die Halbinsel durchquert haben, haben wir insgesamt über 5 Gesamtstunden gebraucht und dabei lediglich eine Strecke von 42 Kilometern zurückgelegt. Hast du nicht gesagt, Luftlinie haben wir gerade mal 15 Kilometer überbrückt? Während wir die Wäsche waschen, kocht Tina uns aus unseren letzten nahrhaften Vorräten noch ein leckeres Abendessen und irgendwie fühle ich, dass mir die Puste ausgeht…

Zum ersten und einzigen Mal gibt es ein drei-Gänge-Menue. Gekocht im Zelt, in einem Topf. Hat geschmeckt.

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Tag 23 – von Brügge nach Dishoek



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Tag 23- von Brügge nach Dishoek

Es ist Samstag der 26.05.2018, ca. 17:30 Uhr und wir stehen mit vor Schrecken geweiteten Augen an der Rezeption eines Campingplatzes und müssen mit ansehen, wie ein 1,70m großer Hase auf der Ladefläche eines Golfwägelchens und mit ohrenbetäubendem Lärm abtransportiert wird. Nein, das ist keine Nagetierbekämpfung, das ist Tierquälerei allererste Güte!
Stunden früher.
Ich bin ziemlich angeschlagen und ein hartnäckiger Husten hält mich fest in seinem Griff. Keine gute Ausgangsposition für die anstehende Tagesetappe, die uns in Richtung des Amsterdamer Bahnhofs und damit in wenigen Tagen wieder nach Hause bringen soll. Aber die Sonne gibt sich nach ihrem gestrig eher schwachen Auftritt heute richtig Mühe und scheint uns geradezu auffordern zu wollen, wieder aufs Rad zu steigen, um Brügge zu verlassen. Gestern Abend hatten wir noch kurz überlegt, ob wir nicht doch noch den Brügger Belfried besteigen sollten, aber ich würde heute Morgen schwächebedingt lieber passen Wir hätten einen vermutlich sensationellen Blick über Brügge gehabt. Aber für insgesamt 24 Euro? Och nö. Die geplante Etappe wird schon noch anstrengend genug. Auch Tina ist nicht sonderlich gut drauf, denn eine junge spanische Dame hat ihr mit ignoranten und unfreundlichen Art ein bisschen die Laune verhagelt. Lediglich eine mittelalte Salzburgerin scheint heute Morgen noch auf unserer Seite zu stehen, wenn auch das einzige, was uns zu verbinden scheint ist, dass wir vermutlich alle drei inzwischen das inoffiziell zulässige Hostelalter überschritten haben. Hinzu kommt, dass die Spanierin gestern Abend mit einer kompletten Reisegruppe eingetrudelt ist, während wir wahrscheinlich inzwischen zu lange nur mit uns allein waren. Ich kenne Spanier als fröhlich, herzlich und zugewandt. Daher irritiert mich das perfektionierte Zickengehabe dieser Seniorita noch vor dem Frühstück – sie überprüft mehrfach schmollmundig den Sitz ihrer langen Haare im Handy, wirft mir immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzende Blicke zu, reagiert auf mein zaghaftes Lächeln mit Augenverdrehen. Das ganze dämliche Stutenbissigenprogramm, während ich Trockenfrüchte schnipple.

Neugierige Blicke für uns Reiseradler an diesem Samstagmorgen in einer Seitenstrasse von Brügges Innenstadt

Während Tina heute Morgen noch schlief, habe ich mich erstmals auch theoretisch mit Brügge beschäftigt und noch ein paar interessante Fakten recherchiert. Und Anderem, dass auf dem, die Ostseite der Stadt umgebenen Deich, noch einige intakte Windmühlen stehen sollen und so beschließe ich, dass unser Weg aus der Stadt heraus ein anderer sein wird, als in die Stadt hinein. Ich möchte nicht noch einmal durch das Tourigedränge, das ohne Zweifel auch jetzt um halb 11 schon eigesetzt hat, und wähle den kürzesten Weg aus der Innenstadt hinaus, auch wenn dieser der längste ist, denn man einschlagen kann, um nach Norden und damit auf den Nordseeküsten-Radweg zu gelangen. Also geht es erst einmal nach Süden, um dann die Stadt in östlicher Richtung zu umfahren. Und so kommen wir dann nicht nur an den Windmühlen, sondern auch noch am sogenannten Minnewater vorbei, auf dem zahlreiche Schwäne ihr Dasein fristen. Da ich die Legende sehr interessant finde, ernenne ich mich spontan selbst zum Stadtführer und egal, ob Tina sie hören möchte oder nicht, klugscheißere ich sie trotz des dichten Verkehrs einfach so vor mich hin. Tina musste die lange Version ertragen, ihr bekommt die kurze:
Ein Verschwörer gegen den damaligen König hieß Pieter Lanchals (auch Lankhals genannt) und als die Verschwörung aufflog, wurde er nicht nur gefoltert und geköpft, nein vielmehr hat der damalige König Brügge dazu verurteil, dass an dieser Stelle auf ewig Schwäne, oder eben Langhälse, zu halten sind. Ist zwar schon 520 Jahre her, aber die Brügger scheinen sich daran zu halten.
Ich mag ja immer eher directors-cut-versions, die ich selber nie zu Gehör bringen kann, weil ich ständig Details vergesse.

Ich weiß nicht, ob die Tina die Geschichte wirklich gefallen hat – Unbedingt! Habe nur leider schon nach 10 Kilometern wieder die Hälfte vergessen-, denn sie macht ein bisschen den Eindruck, fliehen zu wollen und beschließt auf Grund ihrer Ungeduld, nicht auf das Herablassen einer uns jetzt blockierenden Klappbrücke warten zu wollen und einen anderen Flussübergang zu suchen. Ich bin nicht ungeduldig, sondern genervt. Viel zu viele Eindrücke, zuviel Krach, zuviel Gedränge, zuviel Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, zuviel von allem, was gemeinhin Zivilisation genannt wird. Zwar finden wir diesen, jedoch bringt er uns etwas von meinem geplanten Weg ab und somit verfehlen wir den Kanal, der uns zum Radweg bringen soll um einige hundert Meter. Trotzdem, erst einmal raus aus der Stadt und dann sehen wir weiter. Was soll schon schief gehen? Wir halten uns Richtung Norden und da kommt in wenigen Kilometern Küste und zur Küste wollen wir ja sowieso.

Eine Bootsfahrt, die ist lustig, eine Bootsfahrt, die kost’ Geld … mit 8 Euro pro Person gibts Brügge vom Wasser aus

Als ich merke, dass wenige Kilometer doch ziemlich lang sein können, erbitte ich mir einen kurzen Stopp um das Navi befragen zu dürfen und stelle fest, dass nach Norden gar nicht mal soooo richtig ist. Wir hätten eigentlich eher gen Nord-Ost gemusst. Tinas Ungeduld hin oder her, mir ist bereits heute Morgen bei der Routenplanung ein grober Fehler unterlaufen und so stehen wir jetzt irgendwo in einem Brügger Vorort und versuchen uns zu orientieren. Zum Glück kommt uns ein niederländischen Pärchen entgegen, das uns davon erzählt, in dieser Ecke schon länger regelmäßigen Urlaub zu machen. Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt ein holländische Radl-Pärchen daher. Und nein, nach Brügge fahren sie nicht hinein – zu viele Touristen. Allein heute Vormittag kommen in Seebrügge (ein offizieller Stadtteil der Märchenstadt) 2 Kreuzfahrtschiffe an, die 4000 neue potentielle Pralinenkäufer, Museumsbesucher und Straßenbefüller für einen Tagesbesuch auskotzen werden. Das muss man sich mal vorstellen: 4000!!! und das zusätzlich zu der spanischen Reisegruppe in unserem Hostel. Und okay, und auch die Reisegruppen der anderen 200 Hotels und Hostels und Pensionen. Privatzimmer noch nicht einmal mit eingerechnet. Man muss ja nur ein bisschen hilfesuchend wirken – zack! Hält jemand. An diesem Morgen steht uns die Rat- und Orientierungslosigkeit echt auf der Stirn geschrieben. Und die beiden Endsechziger haben echt Freude, uns weiterzuhelfen. Wir sollen immer geradeaus fahren und dann stoßen wir automatisch auf den LF1 Richtung Amsterdam. Wir haben uns also quasi gar nicht wirklich verfahren – wunderbar.
Um hier auch noch einmal die mühsam gesammelten Fakten wirken zu lassen:
Tina schrieb gestern das 118.000 Einwohner in Brügge leben. Das stimmt zwar, aber davon wohnen nur lediglich 20.000 in der Altstadt, die an “guten” Tagen gern einmal die doppelte Menge an Touris zu bespaßen versucht. Gründe für die „nur“ 20.000 – wir erinnern uns: Mietwucher.
Zu unserem Glück hatten die Niederländer eine Ausschilderung zum gesuchten Radweg in etwa 3 Kilometer im nächsten Ort gesehen. Wir bedanken und verabschieden uns höfflich und setzen unseren Weg immer noch in Richtung Norden fort. Und tatsächlich, nach wenigen Kilometern ist er endlich ausgeschildert: der LF1! Dieser Weg wird zwar kein leichter sein, soll uns aber ab hier innerhalb der nächsten 4 Tage bis in die Holländische Hauptstadt führen führen. LF1 bedeutet Landelijke Fietsroutes und meint den niederländischen Abschnitt des Nordseeküstenradwegs.
Sicher kann sich jeder denken, dass es sozusagen die Kernkompetenz eines Radfernweges ist, seinen Benutzer in die Verzweiflung zu treiben. Denn statt uns direkt und auf gerade Linie nach Nordosten zu führen, geht es jetzt erst einmal quer über alle Himmelsrichtung, durch uns inzwischen gut bekanntes und schmuckloses belgisches Hinterland, bis wir an dem Kanal ankommen, der uns zwei Tage zuvor in die gelobte Stadt geführt hat. “Kanäle können sie die Belgier”, geht es mir erneut durch den Kopf. Denn ab hier ist das Radfahren wieder eine große Freude, auch wenn wir nun natürlich nicht mehr auf unseren wundervollen Pappel-Kathedralen-Kanal abbiegen können. Dennoch ist das Fahren hier um einiges angenehmer als auf den zu engen Landstraßen. Wir kommen gut voran und sind bereits nach 2 Stunden in der ehemaligen Festungsstadt Sluis in den Niederlanden.
Leider will sich heute bei mir kein richtiges Fahrgefühl einstellen. Irgendwas steckt mir in den Knochen und die vorhin hochgelobte Sonne brennt inzwischen wieder erbarmungslos. Hinzu kommt ein kräftiger Ostwind, der uns die Tage zuvor wunderbar als Rückenwind diente, heute aber jeden Kilometer zu verdoppeln scheint.

Großer Spaß: Aus eigenem Antrieb bringt man sich mit dieser handbetriebenen kleinen Fähre über den Kanal

An einem Wegweiser kurz hinter Sluis müssen wir uns dann entscheiden. Fahren wir den direkten, aber vermutlich langweiligen Weg nach Breskens, von wo uns eine Fähre nach Vlissingen, unserem heutigen Tagesziel, bringen wird. Oder folgen wir dem LF1, der laut Karte mit einer Küstenführung seine Aufwartung macht? Natürlich entscheiden wir uns für den Umweg… Was ist schon ein bisschen Umweg, wenn du direkt mit Blick aufs Meer fahren kannst? Ok, menschenleerer Strand ist anders. Aber dafür kannst du junge Menschen beim Bier-Staffellauf bewundern. Was Bier-Staffellauf ist? Ich behaupte, eine typisch holländische Kombinationsdisziplin für Menschen zwischen 16 und 25. An dieser Stelle also unser Spieletipp des Tages: Zwei Mannschaften, 20 Meter Strandabschnitt, jede Menge Bier, ein Schiedsrichter. Fertig ist die sportliche Spaßaktion, die uns irgendwie auch ein bisschen Respekt abverlangt. Hey, wer rennt schon bei 32 Grad in praller Sonne barfuß um die Wette, ext eine Flasche Bier, galoppiert durch den heißen Sand zurück, schlägt ab und wartet, bis er ein zweites Mal in die Spur geschickt wird? Richtig – die Holländer.
Wir und, huch, es ist Samstag, eine Millionen anderer Radfahrer. Immer wieder landen wir so in Grüppchen voller Rentner, Familien oder sonstigen Bummlern, die sich hier eine Erholung von der anstrengenden Woche auf der Arbeit in der Schule oder beim Arzt genehmigen wollen. Natürlich zu Recht, aber des einen Freud ist eben des anderen Leid. Und so stören wir uns besonders an den E-Biker, die exakt 18 Stundenkilometer schnell über längere Strecken fahren. Sie behindern unseren Fahrfluss erheblich, denn bergauf überholen sie uns, nur um dann direkt eine Nasenlänge vor uns zu “flanieren” und bergab machen sie sich so breit, dass man nur geringe Chancen hat, im Gegenverkehr an ihnen vorbeizuziehen. Irgendwie nicht weniger ignorant als SUV-Fahrer. Sehr sehr bedenklich… Schafft man es dann doch, kommt die nächste Düne und das Spiel geht von vorn los. So erreichen wir zwar das erste Mal nach 1100 Kilometern die Nordsee, können uns aber ob des hohen Verkehrsaufkommens nur so wenig daran erfreuen, dass wir den vermeintlich schöneren Radweg nach einigen Kilometern aufgeben und den Wochenendradlern das Feld überlassen. Wir ziehen uns zurück auf die parallel zum Strand verlaufende Küstenstraße, beziehungsweise auf deren Radweg. Die hat zwar keine so geile Aussicht, aber dafür sind wir raus aus der kräftezerrenden Massenveranstaltung auf der Düne. Darf ich mal fragen, wo die eigentlich alle herkommen, dieses Touris?

Als Reiseradler muss man Verzicht üben: Freiwillig schiebt niemand vollgepackten Räder durch den Sand

Da der Radweg sich nur gelegentlich mit dem LF1 überschneidet und uns die Dünen außerdem vor dem inzwischen recht böigem Wind schützen, kommen wir somit trotz Wind und Hitze ganz gut voran und erreichen um 14.35 Uhr den Fährhafen in Breskens.
Beim Kauf der Tickets erklärt mir die nette Verkäuferin, dass wir uns beeilen sollen, denn die Fähre legt in 2 Minuten ab. Na klar, inzwischen sind wir die Ruhe selbst und werden zum hetzen gezwungen! Aber eine weitere Stunde am Hafen wollen wir dann auch nicht warten, zumal sich Mary und Robert gerade gemeldet haben, und uns auf ihren Campingplatz in Dishoek eingeladen haben. Sie schreiben auch, dass wir sogar ihre Parzelle mitnutzen können, ihr Wohnwagen benötigt ja nur wenig Platz. Da wir uns sehr über das Wiedersehen freuen, sagen wir spontan zu und ich prüfe auf der Karte die Strecke. Nur noch wenige Kilometer und der Campingplatz liegt direkt am LF1. Wenn Google ihn nicht ausdrücklich als Familiencampingplatz angepriesen hätte, wäre er perfekt. Aber es ist egal, für eine Nacht wird es schon gehen und da ich mich inzwischen schlapp und krank fühle, bin ich zufrieden, keinen weiteren Platz suchen zu müssen und vor allem, nach ein paar Kilometern das Ende des Fahrtages zu wissen.
Also legen wir einen kleinen Spurt ein, erreichen die Fähre in dem Moment, als die Männer die Leinen losmachen wollen und können uns tatsächlich noch einen Platz im Bauch des Stahlriesens sichern. Auch wenn diese hektischen Spurteinlagen immer ein bisschen doof sind, so freuen wir uns doch jedes Mal wie Schneekönige, wenn wir sie erfolgreich gemeistert haben. Ich bin total dankbar, dass auf uns gewartet wurde. Denn wenn wir ehrlich sind: Wir haben länger als zwei Minuten gebraucht.
Knapp 20 Minuten benötigt die Fähre über die Westerschelde, dem südlichsten Meeresarm der Niederlande, in dem die durch Antwerpen fließende Schelde mündet. 20 Minuten, in denen wir von voller Leistung in eine Ruhepause katapultiert werden. Und jetzt merke ich ganz deutlich, dass mir die letzten Kilometer heute sehr schwer fallen werden und so vertrödeln wir in Vlissingen auch keine Zeit, sondern setzen unseren Weg auf dem LF1 gleich nach Ankunft der Fähre unvermindert fort.
Trotz der etwas komplizierten Radwegführung quer durch den Hafen, über enge Holzbrücken, durch die halbe Stadt entlang einer Promenade, die auf Grund des herrlichen Hochsommerwetters auch an der Côte d’Azur beheimatet sein könnte, und auch ebenso vollgeparkt und überlaufen scheint, finden wir eine halbe Stunde später den Platz, der uns unser heutiges Nachtlager zur Verfügung stellen soll.
Während meine bessere Hälfte sich um die Bezahlung des Platzes kümmert, sehe ich Robert und Mary bereits Händchen halten vom Strand kommen. Passt perfekt. Tina erklärt der jungen Dame an der Rezeption, dass wir in die Nähe der beiden wollen, aber nur, wenn da keine Kinder rumlaufen. Ihr Gegenüber schaut verwirrt und meint, hier laufen überall Kinder herum. Es wäre ja schließlich ein Familienplatz. Was ich nicht bemerke, ist Tinas zerknirschtes Gesicht als sie die Rezeption verlässt. Zerknirscht? ZERKNIRSCHT?! Ich platze fast vor fassungsloser Empörung und heiliger Wut. Ich freue mich sehr über unsere beiden Bayern, und als sie uns sogar zum Essen einladen, bin ich happy.
Tina hingegen ist angesäuert. ANGESÄUERT?! Ha! Ich bin bereit zu töten! Wir müssten eigentlich dringend schreiben und ob das mit den vielen Kindern hier etwas wird, ist zu bezweifeln. Außerdem schlägt der Campingplatz mit 38€ für eine Nacht zu Buche und daher alles bislang dagewesene. In Worten achtunddreißig. Begründung: Man muss nur über die Straße hopsen, die Düne hoch – und schon ist man an der Nordsee. Na ja, dann. Auch hier gelten die üblichen Immobiliengründe für die Preisfindung: Die Lage – die Lage – die Lage. Als sich jetzt auch noch eine junge Dame im 1,90 m großen Hasenkostüm auf die Ladefläche eines Golfwägelchens platziert um mit Kinder-Party-Musik die Kleinen zum gemeinsamen Spielen zu animieren, klappt uns endgültig die Kinnlade herunter.
Aber Mary und Robert kümmern sich rührend um uns und bewirten uns mit frischen Kartoffeln, Steak und Soße und Salat. Unsere bayerischen Reisefreunde sind so lang und schlank wie wir eher mittelgroß und… naja, wohlgenährt sind. Unfassbar, dass Mary und Robert ihre vier Steaks, die zusammen nicht mal 200 Gramm auf die Waage bringen, mit uns teilen. Es gibt sogar Servietten und Wein zum Essen. Wir sitzen so bequem auf den Polstern des Wohnwagens, den sie liebevoll Knutschkugel nennen, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufstehen würde. So gestärkt gehen wir nach dem Essen an den Strand um das erste Mal auf der Tour die Nordsee in Ruhe zu begutachten. Abschließend schaffen wir es tatsächlich noch ein paar brauchbare Texte zu schreiben. Ich hätte gerne einen gigantisch-romantischen Sonnenuntergang mit explodierenden Farben und so. Wird nix. Zwar wandere ich barfuß durch den Sand und durchs Wasser, aber die Sonne geht erstens hinter uns unter und zweitens mehr als unspektakulär. Deswegen gibt’s auch kein Sonnenuntergang-an-der-holländischen-Nordsee-Selfie. Nicht etwa, weil Christian den Deppenzeppteneinsatz boykottiert, wo es nur geht.

Der einzige Sonnenuntergang am Meer war weniger spektakulär als erwartet, aber dennoch wunderbar romantisch

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Tag 22 – Ruhetag in Brügge



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Tag 22- Ruhetag in Brügge

Darf man dem Internet glauben, haben sich die knapp 118.000 Einwohner von Brügge (Stand 2017) längst mit den Touristenströmen – jährlich etwa 6 Millionen Besucher aus aller Welt – arrangiert, genau wie mit dem Überangebot an Pralinenshops, den Kutschen, den Booten auf dem Kanal… Man darf uns glauben, wenn wir schwören: Wir haben ein paar Dinge ausgelassen, die ein „echter“ Touri in diesem wunderschönen Unesco Weltkulturerbe glaubt erleben zu müssen: Wir haben weder 50 Euro für eine halbstünde Kutschtour durch den historischen Stadtkern investiert, noch die 8 Euro pro Person für eine etwa 25 minütige Bootstour. Wir haben uns die 12,50 Euro pro Person gespart, um vom Belfry den fantastischen Blick auf die mittelalterliche Stadt zu genießen. (2007, als Brendan Gleeson den Turm erklimmen wollte,  kostete der Eintritt übrigens noch 5 Euro.) Ok, ich konnte am Vortag nicht auf die belgische Waffel verzichten und heute, am späten Nachmittag, haben wir für 9 (in Worten neun!) Euro zwei Portionen belgische Pommes gegessen, die leider alles waren, nur nicht lecker. Egal. Abstriche gehören dazu.


Und so habe ich übrigens den Vortag erlebt: Christian fragt mich nach 50 Kilometern fahren, wie ich mich denn heute eigentlich fühle, so kurz vor dem Ziel. In mir toben seit dem Morgen so viele Empfindungen, dass ich sie nicht sortiert bekomme. Also sage ich „totales Emotionschaos“. Vermutlich hat er mit dieser Antwort gerechnet, denn er nickt nur und dann fährt er wieder vor und lässt mich mit der Gefühlsachterbahn alleine. Ich rufe mich zur Räson, jetzt nicht in Tränen auszubrechen, sondern das fahren zu genießen, den Moment, das Wissen, heute ist der Tag der Tage: Wir werden in wenigen Stunden Brügge erreichen. Ich erkläre meinem aufgewühlten, meinem anderen Ich, dass es doch schon auch schön wäre, sich zu freuen, statt sich in tränenreicher Überforderung zu suhlen. Überzeugt. Ich lächle probehalber. Für die Beckerfaust, kombiniert mit einem gellenden Yeaha-Schrei fehlt mir dann aber doch der Mut.
Und dann steht da auf einem Schild: „Brügge 20 km“. Natürlich muss ich das fotografieren. Genau wie das mit „Brügge 16 km“. Als es nur noch 9 Kilometer sind, verzichte ich auf ein weiteres Foto. Es geht am Kanal lang, vorbei an Kühen und Schafen und Hühner und doch habe ich keinen Blick mehr für das fröhliche Viehzeug. Ich starre geradeaus, bin auf Autopilot. Und dann: Brügge, Stadtgrenze. Wenn ein Ortseingangsschild geben sollte – ich habe es nicht gesehen. Ich fahre wie in Trance über eine der 14 Brücken Richtung Zentrum. Ich möchte wetten, meine Augen sind riesig, vermutlich steht mein Mund offen und geatmet habe ich ganz bestimmt auch nur alle 50 oder 70 Sekunden oder so.
Ich registriere aus dem Augenwinkel die vielen kleinen Hotels, die B&B-Schilder. Es geht am Kanal entlang, der den historischen Kern umschließt. Sind es viele Touristen an diesem Donnerstagnachmittag, die sich hier tummeln oder nicht? Vermutlich. Ich aber habe keinen Blick für die Menschen um mich herum, nur für die Architektur, für die Häuser. Selbst auf Christians „Wie unser Holländisches Viertel, nur in schön.“, antworte ich nicht. Staunen, fahren, Kopf rechts, Kopf links. Meine Augen sind überall, versuchen alles aufzunehmen und sind hemmungslos überfordert. Und dann stehen wir plötzlich auf dem weiten Rathausplatz. Und ja, wenn auf irgendwas Verlass ist, dann auf meine überbordenden Gefühlsausbrüche. Da rollen sie dann eben doch, die Tränen der Freude, der Überforderung, der Erleichterung. WIR SIND IN BRÜGGE.

Nach einigem Suchen haben wir dann unser „Hostel Lybeer“ gefunden, fünf Minuten zu Fuß vom Marktplatz, 196 Euro für zwei Nächte (ein echter Schnapper. Je nach Geldbeutel kann man auch locker das doppelte oder bei unbedingtem Luxuswillen eben das Zehnfache pro Nacht blechen.) Im Zimmerpreis nicht inbegriffen: Die Unterbringung von Betty & Silverstar. Aber, und das nenn ich mal vorbildlich, es gibt keine fünf Minuten vom Hostel entfernt (irgendwie scheint hier alles keine fünf Minuten entfernt zu sein), eine bewachte Tiefgarage, wo man die Räder für 24 Stunden parken kann. Kostenlos!

Kaum haben wir uns für das „Luxury Hostel“ entschieden und den Schüssel für Zimmer 4 (zweiter Stock, superenge Treppen) bekommen, beginnt es zu grollen und gleich darauf auch zu regnen. Während ich die Formalitäten erledige, schleppt Christian unsere acht Satteltaschen, das Zelt und die beiden Lenkertaschen nach oben. Wir wollen sofort die Räder in trockner Sicherheit wissen. Ich tippe trotz fehlender Brille selbstbewusst auf einen Punkt auf der Karte, den mir das junge Ding an der Rezeption aufgekringelt hat, und dann geht’s los. Aus alter Gewohnheit überlasse ich Christian die Führung.

Nun ja, bist du fremd in einer Stadt, versteif dich bloß nicht auf Zeit- und Distanzangaben der Einheimischen. Funktioniert nicht. Im Regen kurven wir von rechts nach links, suchen die Radgarage, finden sie aber nicht. Es nervt.

Tatsächlich gehört die Navigation innerhalb von Städten nicht unbedingt zu meinen Kernkompetenzen. Und ich weiß auch nicht, welcher Narr mich immer reitet, diese Aufgabe schnell mal eben meistern zu wollen. Städte überfordern mich und Brügge eben auf Grund der Tatsache, dass hier so unglaublich viele verschiedene Eindrücke auf mich einprasseln noch viel mehr. In Dörfern oder kleinen Städten ein Zentrum zu finden ist meist leicht. Such dir den Kirchenturm heraus und dann hast Du auch den Ortskern. Aber was, wenn da 10 Kirchtürme sind? Dann muss man sich Details merken und da bin nicht sonderlich gut drin. Wenn jetzt noch der Druck des Regens dazu kommt, mache ich ganz automatisch Flüchtigkeitsfehler. Aber…
am Ende finden wir den Eingang natürlich doch noch, schließen unsere treuen Gefährte mit etwas mulmigen Gefühl aneinander und sind zu spät, um noch was im Supermarkt einkaufen zu können. Als wir fast eine dreiviertel Stunde später tropfnass in unserem winzigen Zimmer sind, hopsen wir schnell unter die Dusche und schleppen unsere restlichen Lebensmittel – Nudeln, Tomaten, eine Ecke Zuccini, zwei Lauchzwiebeln – in die Hostelküche und kochen unser Abendbrot. Christian nimmt das hauseigene Bier (flotte 4 Euro für 0,33 l) ich einen Weißwein (mit 3,50 Euro irgendwie fast ok) – und sind beide nicht begeistert, was uns hier geschmacklich für zu viel Geld geboten wird. Aber, hey, Brügge ist eine DER Touri-Städte überhaupt. Da darf man nicht ernsthaft für Preise diskutieren. 
Was ich natürlich trotzdem tue. Ich finde die Preise nämlich wirklich schwierig und bin selten gewillt, solchen Wucher auch noch zu unterstützen. Ich weiß, dass ich da manchmal eine Spaßbremse bin, aber solche Touriabzocke finde ich einfach blöd. Brügge ist nach der Versandung des Nordseezugangs im 16ten Jahrhundert absolut verarmt und es lag praktisch im Koma, bis ein findiger Geschäftsmann kam, dessen einzige Leistung es war, die Stadt zu einer touristischen Atraktion zu erklären und seit dem wird bares Geld in rauen Mengen gescheffelt. Inzwischen ist es für viele der ursprünglichen Einwohner überhaupt nicht mehr finanzierbar dort zu wohnen. Ein Schicksal, welches Brügge mit Prag und vielen anderen Städten solcher Art teilt. Eine Stadt ist für mich aber mehr als ein paar Häuser und Museen. Es gehört eben auch seine Einwohner dazu und die verschwinden nach dem Einsetzen der Massen. Was übrigbleibt, ist dann oftmals nur ein großes Museum ohne eigenes Leben. Im Falle von Brügge ist dies vielleicht etwas übertrieben, aber wir sind eben auch noch nicht am Ende der Fahnenstange was Wochenendtrips, Billigflugangebote und Kreuzfahrten angeht. Ich frage mich allerdings wie Menschen, dessen Budget knapper als das unsere ist, jemals in den Genuss einer solchen Sehenswürdigkeit kommen können? Irgendwie erinnert mich das an zu Hause, wo ja gern einigen Menschen mangelndes Interesse für Kultur und daher eine Spezialisierung auf Nachmittagsfernsehen vorgeworfen wird, aber zeitgleich Theater- und Konzertkarten für die Masse immer schwerer zu finanzieren sind. Ja liebe Kulterschaffende: Wenn Menschen bereits beim Kauf eines Bahntickets den Restmonat durchzurechnen beginnen, braucht ihr Euch nicht wundern, dass sie kaum für 39€/Person in die deutsche Oper stürmen.Was ich natürlich trotzdem tue. Ich finde die Preise nämlich wirklich schwierig und bin selten gewillt, solchen Wucher auch noch zu unterstützen. Ich weiß, dass ich da manchmal eine Spaßbremse bin, aber solche Touriabzocke finde ich einfach blöd. Brügge ist nach der Versandung des Nordseezugangs im 16ten Jahrhundert absolut verarmt und es lag praktisch im Koma, bis ein findiger Geschäftsmann kam, dessen einzige Leistung es war, die Stadt zu einer touristischen Atraktion zu erklären und seit dem wird bares Geld in rauen Mengen gescheffelt. Inzwischen ist es für viele der ursprünglichen Einwohner überhaupt nicht mehr finanzierbar dort zu wohnen. Ein Schicksal, welches Brügge mit Prag und vielen anderen Städten solcher Art teilt. Eine Stadt ist für mich aber mehr als ein paar Häuser und Museen. Es gehört eben auch seine Einwohner dazu und die verschwinden nach dem Einsetzen der Massen. Was übrigbleibt, ist dann oftmals nur ein großes Museum ohne eigenes Leben. Im Falle von Brügge ist dies vielleicht etwas übertrieben, aber wir sind eben auch noch nicht am Ende der Fahnenstange was Wochenendtrips, Billigflugangebote und Kreuzfahrten angeht. Ich frage mich allerdings wie Menschen, dessen Budget knapper als das unsere ist, jemals in den Genuss einer solchen Sehenswürdigkeit kommen können? Irgendwie erinnert mich das an zu Hause, wo ja gern einigen Menschen mangelndes Interesse für Kultur und daher eine Spezialisierung auf Nachmittagsfernsehen vorgeworfen wird, aber zeitgleich Theater- und Konzertkarten für die Masse immer schwerer zu finanzieren sind. Ja liebe Kulterschaffende: Wenn Menschen bereits beim Kauf eines Bahntickets den Restmonat durchzurechnen beginnen, braucht ihr Euch nicht wundern, dass sie kaum für 39€/Person in die deutsche Oper stürmen.

Wir sitzen also da, nippen an unseren Getränken, beobachten die vielen vor allem jungen deutschen Gäste und realisieren nur mühsam, dass wir es wirklich geschafft haben. Wir sind in Brügge. Als es gegen 22 Uhr aufhört zu regnen, raffen wir uns auf, die nächtliche Märchenstadt wenigstens ein bisschen zu erkunden.

Wir finden den Turm, aus dem Brendan Gleeson als Auftragskiller Ken stürzt. Auch einige andere Motive aus „Brügge stehen und sterben“ entdecken wir. Diese Stadt ist unwirklich in ihrer mittelalterlichen Pracht und übervoll mit Eindrücken geht’s nach zwei Stunden zurück in unser winziges Zimmer. Ich bin froh, dass wir nicht auf einem Campingplatz sind.


Heute ist also unser offizieller Brügge-Ruhetag. Aber natürlich kann man nicht ernsthaft von Ruhe sprechen, wenn man mit tausenden Touristen durch die Straßen pflügt. Ich schlafe mal wieder länger als ich eigentlich will. Christian war schon bei den Rädern (alles ok) und im Supermarkt (Preise wie in der Apotheke), es gibt unser übliches Frühstück in einem winzigen Innenhof. Der Himmel ist enttäuschend bedeckt, es ist diesig, die Luft riecht nach Regen. Strahlend blauer Himmel wäre die perfekte Kulisse für die mittelalterlichen Steinbauten gewesen. Wir lassen uns ohne konkretes Ziel treiben, gehen mal links, mal rechts, versuchen den Touristenströmen auszuweichen, spotten und staunen und bewundern. Landen in einem winzigen Gebäude mit verwunschenem Innenhof, der direkt an den Kanal grenzt. Es ist so verdammt romantisch, hier könnte ich Weltbestseller schreiben. Mindestens. Blöderweise ist David de Graef schneller gewesen und hat das verwinkelt-romantische Häuschen aus einer anderen Zeit gemietet. Hier entstehen verstörenden Bilder, jenseits der Moral, aus einer Parallelwelt, die gleichzeitig faszinieren und verstören. Er ist ein freundlicher, zierlicher Mensch mit flatterigem Silberhaar. Einem Gespräch ganz offensichtlich nicht abgeneigt – allerdings hat ihn sich bereits ein Pärchen gekrallt und der weibliche Part schießt mit bösen Blicken um sich. Mir fehlt es heute an Lässigkeit, um diese offensichtliche Aufforderung, sie gefälligst mit dem Künstler alleine in dem Raum zu lassen, zu ignorieren. Ich schleiche um die großformatigen Paintbrush-Bilder in Sepia herum, formuliere all die Fragen, die ich ihm stellen möchte, im Kopf – um dann nach 15 Minuten vergeblichen Wartens resigniert aufzugeben. Ich habe das Gefühl, eine große Chance vertan zu haben.
Christian hat draußen rauchend auf mich gewartet, Touris beobachtet und ist nicht so richtig happy mit den vielen Menschen. Ich kann die heute alle wunderbar ausblenden. Im bummeligen Schlenderschritt geht’s über ein kleine Brücke. Waren wir hier schon mal?
Oder zweimal?

Haben wir dieses Gebäude nicht gerade erst von der anderen Seite bewundert? Was an Eindrücken an diesem Tag auf uns einprasselt, ist überwältigend. Eine ehemalige Kirche, die jetzt Partylocation ist. Eine hochmoderne Brücke, die aus weißen Dreiecken an Stahlseilen an einen mehrmastigen Schoner erinnert. Ein sich aus dem Kanal erhebender Wal – weißer Rücken, blauer Bauch – aus vor Haiwaiis Küsten gesammelten Tonnen von Plastikmüll. Die Architekten Jason Klimoski und Lesley Chang vom New Yorker StudioKCA haben anlässlich der zweiten Kunst-Triennale dieses spektakuläre wie gigantische Mahnmal gegen den Klimawandelt konstruiert. Ja, auch Christian lässt sich zur Free-Willy-Geste hinreißen. Ob sich der monströse Plastik-Wal tatsächlich zum Selfie-Magneten entwickelt? Ich jedenfalls lasse unser Deppenzepter stecken. Genieße die Kunst lieber pur, will das Foto irgendwann ohne unser dümmlich-verzücktes Grinsen betrachten.
Einen weiteren Beitrag der diesjährigen Kunsttriennale entdecken wir einige Stunden später, den orange-pinkfarbenen „Selgascano pavilion“. Eine meiner Meinung nach nicht wirklich durchdachte Installation der spanischen Architekten José Selgas und Lucia Cano (beide Jahrgang 1965). Es soll ein idealer Erholungsort auf dem Kanal sein. Entschuldigung, schon mal bei 28 Grad im Schatten unter Plastik gegessen? Nicht? Na, dann viel Spaß beim Schwitzen bis zum Erstickungstod.

Der Selgascano pavilion – ein oranger Lindwurm auf einem nicht sonderlichen belebten Seiten-Kanal
Free Willy – von den New Yorker Architekten anlässliche der zweiten Kunst-Triennale in Brügge erschaffen

Wir gucken und staunen und starren und bewundern weiterhin, schlendern, bleiben stehen, diskutieren, bewundern noch mehr und am Ende haben wir sechs Stunden lang gefühlt sämtliche Straßen von Brügge einmal
oder zweimal!
abgelaufen. Und haben dabei nur einen Bruchteil dessen gesehen, was dieses Kleinod zu bieten hat.
Manches aber auch zweimal.
So verpassen wir bedauerlicherweise das Museum der flämischen Meister, darunter mit Werken von Jan van Eyck, über den ich gerade ein spannendes Buch gelesen habe. Wie wir überhaupt auf einiges verzichten, nicht nur, weil der Boden unserer Tourkasse mittlerweile sehr sichtbar ist, sondern weil uns einiges unangemessen teuer erscheint. Einmal ins Diamantenmuseum – 12 Euro pro Person. Och, nö. Christian will mir sowieso kein Brilli-verziertes Armband schenken. Und ganz ehrlich – wen interessiert ein Schokoladenmuseum? Uns jedenfalls nicht. Obwohl: Hätten wir Diamanten und Schoki kombiniert, wären es nur 14 Euro pro Person gewesen.
Um ehrlich zu sein: Selbst für eine vergleichsweise kleine Stadt wie Brügge braucht man wenigstens drei Tage, um ernsthaft sagen zu können, sie erlebt zu haben. Aber die Wahrheit ist auch: Wir sind nach diesem Tag nur noch platt und so voller Eindrücke, dass wir wissen, mental packen wir keinen weiteren Tag, haben jetzt schon den kompletten Overflow. Deswegen geht’s auch morgen weiter Richtung Amsterdam. Sind noch knapp 190 Kilometer, als gut 3 entspannte Radel-Tage.
Als wir nach dem Abendessen – wieder gekocht in der Hostel-Küche – zusammensitzen, ziehen wir ein müdes, aber glückliches Resümee, das da lautet: Brügge ist eine einzigartige, eine spannende, aufregende Stadt. Es hat sich absolut gelohnt. Und ja, ich würde auch noch ein zweites Mal her kommen. Vielleicht eher im Herbst? Ach, absurd zu glauben, dass es dann weniger Touristen hierher treibt.

Plötzlich überkommt mich eine grenzenlose Erschöpfung. Und die hat nichts mit dem heutigen Pflasterlaufen zu tun. Mir wird auf einmal klar, dass ich nicht mehr mag. Wir haben unser großes, unser erstes gemeinsames Ziel erreicht. Amsterdam erscheint mir plötzlich als Bürde. Ich schiebe den Gedanken beiseite, dass ich jetzt eigentlich lieber nach Hause möchte und verschweige auch Christian das Gefühl der Motivationslosigkeit. Ich bin vermutlich einfach nur müde.

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Tag 21- von Kamperhoek nach Brügge

Rückblick 1: Wir schreiben einen grauen Samstagabend im November 2017. Heute liegt nichts an und so beschließe ich, Tina endlich einen meiner Lieblingsfilme unterzujubeln. Ein Film, in dem es um zwei Auftragskiller geht, die einen Job vermasseln und untertauchen müssen. Ein Film, in dem die beiden Hauptdarsteller unterschiedlicher kaum sein könnten, und ein Film über eine Stadt, die eine Mischung aus langweiliger Geschichtsstunde und aufregendem Mittelaltermärchen zu sein scheint, reduziert auf sich selbst am Rande eines modernen Universums. “Brügge sehen und sterben” ist ein Film voller Widersprüche und unüberwindbarerer Differenzen und er hat kein Happy End, außer diesem, dass er innerhalb von 107 Minuten auch in Tinas Top-10-Liste der Filme ziemlich weit nach oben schießt. Und eigentlich sind dieser Samstagabend und dieser Film der Auslöser und der Beginn der Tour, auch wenn ich ihn bis Februar 2018 nur als Film und nicht als Ziel im Sinn behalte. Ich LIEBE Brendan Gleeson, und Colin Farell war nie besser als in diesem Film vom wunderbaren irischen Drehbuchautor und Regisseur Martin McDonagh.

Rückblick 2: Letztes Jahr ist schief gelaufen was nur schieflaufen konnte. Zu wenig Urlaub, zu viel Krankheit, zu schlechtes Wetter. Unserer Fahrradreise nach Prag stand vermutlich von Anbeginn unter keinem guten Stern, auch wenn die Rahmenbedingungen gut waren. Die Ausrüstung war vorhanden, der Wille da und die Vorfreude groß. Vielleicht ein bisschen zu groß? Vielleicht alles zu Anspannung, Erfolgs- und Erwartungsdruck mutiert? Was genau der Grund war, warum so viel schief gegangen ist, wissen wir nicht. Aber heute, fast ein Jahr danach, ist es auch egal. Wir planen erneut eine Tour. Um dieses Mal die Vorfreude möglichst klein zu halten, plane ich allein und wann geht das besser als an einem echt langweiligen Arbeitstag, an dem aber auch rein gar nichts passiert? Nur ein Ziel habe ich noch nicht. Ich weiß nur, diesmal muss es nach Westen gehen, um den Emotionshammer, den die osteuropäischen Staaten bei mir verursacht haben, mit möglichst wenig Wucht zuschlagen zu lassen. Weil, wenn einer in Emotionen kann, dann ist es Tina.
Also kreise ich mit der Maus über die Weltkarte und überlege, welche Länder ich gern besuchen würde. Klar, mein Plan nach Spanien steht noch, ist aber zu weit, um es Tina als erste Tour anzutun. Deutschland komplett durchfahren, nach Frankreich und dann nach Spanien… ich weiß nicht. Zumal mein eigenes Budget das eigentlich auch nicht hergibt. Vielleicht Irland? Tina hat hier ein paar Monate gelebt und ist immer wieder gern zurückgekommen. Aber Irland bedeutet eben auch quer durch Deutschland, die Niederlande, Belgien, Nordfrankreich und dann mit der Fähre nach Irland übersetzen oder erst nach England und dann von da aus.
Beim Berechnen der ungefähren Route fällt mir eine Stadt ein, die wir, so haben wir uns nach dem Film gegenseitig versprochen, einmal besuchen wollen. Brügge! Warum eigentlich nicht Brügge? Ich lasse Google die Strecke durchrechnen und das Ergebnis ist mehr als zufriedenstellend. “Nur” 832 Kilometer sagt der Routenplaner. Ich öffne ein zweites Fenster mit einer Webseite eines Reiseradlernetzwerkes und klicke mich entlang der vorgeschlagenen Route durch die Übernachtungsmöglichkeiten. Das verlängert die Strecke ein bisschen, aber selbst wenn wir zelten würden, wäre kaum einer der Campingplätze direkt auf der Strecke. Am Ende des Arbeitstages weiß ich: 879 Kilometer in 20 Tagen durch drei Länder. Fast einen ganzen Monat also und dann? Wie kommen wir zurück? Bekomme ich so lange Urlaub? 3 Wochen sollten gehen. Das bekomme ich vielleicht durchgesetzt, aber 6 Wochen? Mein Chef zeigt mir einen Vogel. Heute ist wohl kein guter Tag für einen frühen Feierabend. Also mache ich Überstunden und suche nach einem Rückweg. Von Brügge aus wird es schwierig. Es gibt nicht einmal eine direkte Zugverbindung nach Amsterdam, von wo aus ein IC direkt nach Berlin fährt. Wenn wir mit dem Zug von Brügge nach Hause wollen, bedeutet das, nach London oder Paris zu fahren und dann nach Berlin. Eine ganz schöne Juckelei und vor allem eines: sehr teuer. Ich frage Google noch einmal nach einer Route von Brügge nach Amsterdam. Und ohne ein konkretes Ziel zu nennen, schicke ich Tina folgende Eckdaten: 24 Tage + einige mehr bei Bedarf. 1200 Kilometer, 3 Länder. Also alles sehr entspannt und völlig stressfrei. Muss nur noch das Wetter mitspielen.

Sieht aus wie ausgestopft, ist aber nur vor Schreck erstarrt und flüchtet kurz darauf in seinen Stall

Wir schreiben den 27.02.2018 und unsere Tour ist geboren und nur einer weiß Bescheid, wo es hingeht: ICH! Vor Vorfreude reibe ich mir die Hände und bin auch ein bisschen stolz darauf, nichts verpetzt zu haben. Fahrradfahren verlernt man angeblich nicht und scheinbar ist es mit dem Recherchieren ähnlich. Denn als ich an diesem Abend voller Überstunden völlig überarbeitet nach Hause komme, hat meine Ex-Journalistin ein Grinsen auf den Lippen: Fahren wir vielleicht nach Brügge? Verdammt! Das hat dir der Teufel gesagt! Rumpelstilzchens Schmach konnte nicht größer sein. Dieses neugierige Weib. Kann die nicht einfach mal mit dem Nachdenken aufhören? Da ich echt schlecht lüge und es daher gar nicht versuche, kommt die Wahrheit exakt 2 Stunden nachdem ich sie zu verschleiern begonnen habe, ans Licht. Ich schwöre, ich habe nicht recherchiert. Einer guten Bekannten erzählt, dass wir Anfang Mai mit dem Rad auf Tour wollen und ich keine Ahnung habe wohin. Und während ich das sage, schießt mir plötzlich Brügge durch den Kopf. Zuhause ziere ich mich ein bisschen nachzufragen, denn eigentlich will ich es nicht wissen und vor allem will ich Christian nicht die Freude verderben. Also frage ich, ob es möglicherweise sein könnte, dass wir nach Brügge fahren. Und dann bin ich einfach nur überwältigt, dass mein vor Monaten geäußerte Wunsch, diese Stadt mal in echt zu sehen, ausreicht, um so belohnt zu werden. Ich hätte mir kein schöneres Ziel für unser erste gemeinsame Radtour vorstellen können.
 

Unterkunft von Außerirdischen? Radaranlage? Olympisches Feuer? Wir haben es nicht herausgefunden

Zurück in die Gegenwart:
Heute ist es also soweit und die finale Etappe steht an. Während ich schon hellwach bin, schläft Tina noch und ich plane noch einmal alles durch. Dann schaue ich beim Bauern vorbei, um ihm vielleicht ein paar frische Eier abzukaufen. Er tut alles, was in seiner Macht steht und klaut sechs Eier ein paar Hennen einfach unterm Hintern weg. Als er mir sie in die Hand drückt, sind sie noch warm und eigentlich viel zu frisch zum essen, wir werden es aber trotzdem tun.
Auf dem Rückweg zum Zelt taumelt mir Tina noch schlaftrunken auf dem Weg zu den Toiletten entgegen und voller Stolz drücke ich ihr meinen gerade erworbenen Schatz in die Hände. Ja… sie wäre theoretisch schon begeistert, müsse aber jetzt dringend aufs Klo. Verstehe. Offensichtlich haben wir gelegentlich andere Prioritäten. Also lasse ich sie ziehen und baue in der Zwischenzeit unsere Küche auf einer Bank auf.
Während das Wasser für Kaffee und Tee dem Siedepunkt entgegenstrebt, kommt ein älterer Herr zu mir und fragt mich nach dem Ziel unserer Reise. Brügge, verkünde ich stolz, wohlwissend, dass es heute soweit sein wird. Wohin er denn unterwegs sei und wie lange er noch Urlaub hat, frage ich ihn. Er zeigt nur auf seine Kleidung und meint, er würde jetzt arbeiten gehen. Und tatsächlich, der ältere Herr macht jedes Jahr 5 Monate Urlaub auf dem Bauernhof und arbeitet als Gegenleistung einfach mit. Ob Bauer und Camper in einem Familienverhältnis zu einander stehen, oder sich dieses Arbeitsverhältnis über jahrelanges Campen entwickelt hat, vermag ich nicht zu sagen. Manche Details scheinen mir zu intim, als dass ich nachfragen möchte. Meine Erfahrung sagt, die Menschen werden es schon erzählen, wenn sie es für erwähnenswert halten. Und ich sage dir, man muss den Menschen die Möglichkeit geben, dass sie reden! Die richtige Frage stellen, ernsthaft interessiert sein, statt zurückhaltend – und schwupps, erzählen sie dir ihre Lebensgeschichte.
Während wir noch beim Frühstück sitzen, zieht sich der Himmel wieder zu. Sehr schade, denn als ich vor zwei Stunden aufgestanden bin, sah alles nach einem perfekten Sommertag aus. Somit unterbrechen wir das Frühstück und verstauen in Windeseile unsere Habseligkeiten, um sie vor einem eventuellen Wolkenbruch zu bewahren. Ganz besonders das Zelt will ich diesmal trocken wissen, da wir uns noch nicht einig sind, ob wir uns in Brügge eine Pension suchen oder doch auf dem Campingplatz landen. Da bin ich mir bereits mit mir einig, dass ich in eine Pension möchte. Warte aber auf den richtigen Moment. Schließlich werden wir Brügge sicherlich nicht für nen kleinen Euro unterkommen. Trotz der Drohkulisse werden wir aber, zumindest für heute Vormittag, verschont und können nach erfolgreicher Packaktion unser Frühstück in Ruhe beenden.

Der beste Apfelsaft meines Lebens – irgendwo in einer winzigen Kneipe, in einem winzigen belgischen Kaff

Zurück in die Gegenwart:
Heute ist es also soweit und die finale Etappe steht an. Während ich schon hellwach bin, schläft Tina noch und ich plane noch einmal alles durch. Dann schaue ich beim Bauern vorbei, um ihm vielleicht ein paar frische Eier abzukaufen. Er tut alles, was in seiner Macht steht und klaut sechs Eier ein paar Hennen einfach unterm Hintern weg. Als er mir sie in die Hand drückt, sind sie noch warm und eigentlich viel zu frisch zum essen, wir werden es aber trotzdem tun. Auf dem Rückweg zum Zelt taumelt mir Tina noch schlaftrunken auf dem Weg zu den Toiletten entgegen und voller Stolz drücke ich ihr meinen gerade erworbenen Schatz in die Hände. Ja… sie wäre theoretisch schon begeistert, müsse aber jetzt dringend aufs Klo. Verstehe. Offensichtlich haben wir gelegentlich andere Prioritäten. Also lasse ich sie ziehen und baue in der Zwischenzeit unsere Küche auf einer Bank auf.
Während das Wasser für Kaffee und Tee dem Siedepunkt entgegenstrebt, kommt ein älterer Herr zu mir und fragt mich nach dem Ziel unserer Reise. Brügge, verkünde ich stolz, wohlwissend, dass es heute soweit sein wird. Wohin er denn unterwegs sei und wie lange er noch Urlaub hat, frage ich ihn. Er zeigt nur auf seine Kleidung und meint, er würde jetzt arbeiten gehen. Und tatsächlich, der ältere Herr macht jedes Jahr 5 Monate Urlaub auf dem Bauernhof und arbeitet als Gegenleistung einfach mit. Ob Bauer und Camper in einem Familienverhältnis zu einander stehen, oder sich dieses Arbeitsverhältnis über jahrelanges Campen entwickelt hat, vermag ich nicht zu sagen. Manche Details scheinen mir zu intim, als dass ich nachfragen möchte. Meine Erfahrung sagt, die Menschen werden es schon erzählen, wenn sie es für erwähnenswert halten. Und ich sage dir, man muss den Menschen die Möglichkeit geben, dass sie reden! Die richtige Frage stellen, ernsthaft interessiert sein, statt zurückhaltend – und schwupps, erzählen sie dir ihre Lebensgeschichte! Während wir noch beim Frühstück sitzen, zieht sich der Himmel wieder zu. Sehr schade, denn als ich vor zwei Stunden aufgestanden bin, sah alles nach einem perfekten Sommertag aus. Somit unterbrechen wir das Frühstück und verstauen in Windeseile unsere Habseligkeiten, um sie vor einem eventuellen Wolkenbruch zu bewahren. Ganz besonders das Zelt will ich diesmal trocken wissen, da wir uns noch nicht einig sind, ob wir uns in Brügge eine Pension suchen oder doch auf dem Campingplatz landen. Da bin ich mir bereits mit mir einig, dass ich in eine Pension möchte. Warte aber auf den richtigen Moment. Schließlich werden wir Brügge sicherlich nicht für nen kleinen Euro unterkommen. Trotz der Drohkulisse werden wir aber, zumindest für heute Vormittag, verschont und können nach erfolgreicher Packaktion unser Frühstück in Ruhe beenden.

Auf dem Weg nach Brügge gehts durch die Pappelkathedrale – vermutlich unsere eindrucksvollste Strecke

Die Tour habe ich heute das erste Mal nur nach den angegebenen Knotenpunkten in der Niederlandenkarte geplant. Das bedeutet, ich kann mir auf der Karte den Ort heraussuchen, den ich ansteuern möchte und schreibe mir nur noch die Zahlen auf, die ich beim Fahren auf den Schildern vorzufinden hoffe. Diese fahren-nach-Zahlen-Strategie hat den Vorteil, dass wir immer abseits der Hauptstraßen radeln können und trotzdem diverse Orte durchqueren. Also eigentlich eine tolle Sache, die sich die Niederländer da ausgedacht haben. Der Nachteil ist, dass sich die Wege dadurch oftmals erheblich verlängern und wir mehr als einmal im Zickzackkurs durchs Land schlängeln, um stark befahrene Straßen zu vermeiden. Für eine entspannte Tour ist das fantastisch, wenn man aber die vom Navigationsgerät ausgerechneten Strecken mit den real gefahrenen Strecken vergleicht, schlägt das gern einmal mit 10 oder 15 Kilometern mehr zu Buche. Die heutige Strecke sollte laut Navi 62 Kilometer betragen, es werden dann aber insgesamt 79. Ach, was solls. Kurven wir eben im Kreis ums eigentliche Ziel… Ist übrigens DER Bringer, wenn’s richtig heiß ist – oder es aus Eimern gießt. Knaller. Hat man nach der Tour alle Sympathien / die Bewunderung / das Mitgefühl aller auf seiner Seite, soviel ist mal sicher. Ich höre schon die wohltuenden Kommentare a la „Ach du Scheiße!“ und „Echt jetz? Boah, ihr Armen.“ und „Also, ich wäre ausgeflippt!“ 

Als sich nach einigen Kilometern auch noch Mary und Robert per sms melden, die uns in einem laut ihrem Navi von uns zu durchquerendem Ort mit uns treffen wollen, muss ich ob des zusätzlichen Umweges leider passen. Es ist zwar erst der zweite Fahrtag nach dem Ruhetag, aber die uns inzwischen verfolgenden abendlichen Regengüsse beginnen mich langsam mürbe zu machen und so möchte ich nach Möglichkeit einen weiteren Zwischenstopp zum Ziel vermeiden. In uns beiden kommt gelegentlich das Gefühl hoch, dass der jeweils andere gar nicht so unbedingt nach Brügge will und wir alle möglichen Vermeidungsstrategien entwickeln, nur um noch ein bisschen langsamer voranzukommen und somit die Tour noch ein bisschen auszudehnen. Für mich ist das natürlich völliger Quatsch und auch meine Tina reagiert auf meine diesbezügliche Bemerkung mit gleicher Heftigkeit. In Wahrheit muss ich zugeben: Das ist hier der letzte Tag der Pflicht. Danach kommt die Kür und bei Dingen die über 100% gehen, bin ich nicht sonderlich gut. Erkenntnis des Tages: Zusammen das erste gemeinsame, große Ziel zu verfolgen, ist wunderbar und aufregend. Gemeinsam kurz vor diesem Ziel zu stehen, verunsichert.Einen weiteren Nachteil hat der heutige Zickzackkurs übrigens auch noch. Wir haben Wind aus Nord-Nord-West. Das bedeutet, dass der Weg nach Brügge, der sich auf direkter Line in Richtung Süd-West befindet uns keine Probleme machen würde. Dieses Zickzack führt uns allerdings abschnittsweise auch gern einmal in Richtung Norden, um uns ein paar Kilometer später dann wieder nach Süden und Westen zu leiten. So kommt es, dass sich langsame und kräftezerrende Passagen mit leichten und entspannenden Abschnitten abwechseln. Klar, den ganzen Tag Gegenwind zu haben ist Mist, aber immer wieder Kraft mobilisieren, dann pausieren und wieder Gas geben, ist für mich noch anstrengender. Es ist ein bisschen wie bergauf und bergab, und am Ende biste dann doch wieder auf der gleichen Höhe. Nix geschafft und trotzdem platt. Gegenwind gehört auch zu den unerfreulichen Zutaten dieser Tour, die in dem Moment echt übel sind. Aber mit ein bisschen Abstand stolz als Hürde gesehen werden, die gemeistert wurde. Ich sage nur, Teuteburger Wald. Dennoch kommen wir heute gut voran und fahren ein Teilstück lang sogar auf einem Deich, der die Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien symbolisiert. Ein Dorf belgisch, ein Dorf niederländisch, die Kuh links ist Belgierin, das Schaf rechts Niederländer und Alles und Jeder, der uns auf dem Weg begegnet, gehört nirgendwo hin. Hier sind selbst wir einige Kilometer lang staatenlose Europäer, ohne wirklich zu spüren, wie frei von Gesetzen und Regeln wir eigentlich gerade sind. Verdammt, hätte ich das bloß in dem Moment realisiert. Ich hätte glatt … ok, vergiss es. Hätte ich sowieso nicht. Einen letzten rein niederländischen Stopp machen wir dann doch noch in einem kleinen Dorf, in dem uns eine uralte Wirtin Apfelsaft und Kaffee verkauft. Was im Übrigen der letzte Laden mit günstigen Preisen dieser Tour sein wird… Nur mal so am Rande, denn gemerkt haben wir das natürlich in diesem Moment auch nicht.

Als im nächsten Ort auf einem Radwegschild das erste Mal Brügge ausgewiesen ist, gibt es kein Zurück mehr. Ab jetzt sind wir endgültig auf der Zielgeraden, und da es erst kurz nach 14 Uhr ist, gibt es auch keinen Grund die letzten 20 Kilometer nicht mehr zu fahren. Ab jetzt geht alles ganz leicht. Noch ein kleiner Spurt entlang einer Hauptstraße und dann biegen wir auf einen Radweg an einem Kanal entlang ab, der uns das letzte Stück erheblich versüßen soll. Eigentlich sind es zwei Kanäle nebeneinander, komplett mit Pappeln bepflanzt. Tina drückt ihre Begeisterung mit den Worten: “Wie in einer Kathedrale!” aus. Mathe ist ein Arschloch und im Abschätzen von Höhen / Distanzen generell bin ich eine Doppelnull. Also, ohne es wirklich zu wissen, möchte ich schwören, dass das die längste Pappelallee der Welt ist. Einfach nur u n f a s s b a r! Was sich in seiner majestätischen Schönheit vor uns in kilometerlanger Pracht zeigt, lässt sich nicht wirklich auf einem Foto bannen. Ich drehe eines der wenigen Videos dieser Reise, in der Hoffnung, dieses Gefühl von Ehrfurcht zu Hause vermitteln und vor allem, mich immer wieder in den Moment hineinversetzen zu können. Eine letzte Kurve und wieder ein wundervolles Stück an einem Kanal lang und schon sind wir in Brügge. Der Weg war genauso toll wie Brügge beim Einfahren unspektakulär ist. In den Vororten weist nichts auf die Schönheit hin, die uns wenig später schier den Atem verschlagen sollte. Immerhin, hier schienen die Menschen deutlich interessiert an uns Reiseradlern zu sein. Denn bereits ein paar Kilometer vorher fuhr ein Rennradfahrer dicht an mich heran und fragte mich nach Herkunft und Ziel, konnte nur ungläubig staunen, dass wir die gesamte Strecke mit dem Rad und dem Zelt gemeistert haben.

In Brügge selbst fragt mich ein junger Mann, woher wir kommen. Ich sage aus Potsdam. Er schaut verständnislos und schüttelt den Kopf. Ich sage, aus Deutschland. Ein verstehendes Lächeln und er fragt eine Reihe von ihm bekannten deutschen Orten ab. Ob wir vielleicht aus Freiburg kommen. – Nein, Potsdam. – Frankfurt vielleicht? – Nein, Potsdam. – Duisburg, Köln, Hannover, Münster, Stuttgart? Nein, Potsdam bei Berlin. – Berlin? Hmm, hat er auch noch nicht gehört.
Nun bin ich dran mit der Sprachlosigkeit. Berlin, das ist die Hauptstadt von Deutschland! Aber es hilft nichts. Sagt ihm nichts. – Hamburg vielleicht? Mir geht die Puste aus. Ich lächle ihn an, und meine, Berlin sei an der Grenze zu Polen. Jetzt schaut er bewundernd. Wir erreichen Brügges äußere Ausläufer, kurz vorm innerstädtischen Ring und schon beginnt das Mittelaltermärchen. Unseren ursprünglichen Plan, per Deppenzepter ein entsprechendes Foto zu machen, haben wir vergessen. Es gibt zuviel zu sehen. Als wir dann endlich im altertümlichen Kern von Brügge ankommen, überfordert mich die Situation schlichtweg. Tausende von Touristen. Ein Café jagt das nächste. Hotels und kleine Läden mit Andenken, Pralinen und sonstigem Gedönst, soweit das Auge reicht. Skulpturen im Rahmen der Triennale. Ich mag es ja persönlich nicht so gern, wenn es irgendwo sehr voll ist und Brügge ist an diesem Nachmittag für mich ziemlich voll, wenn auch noch erträglich. Wir stoppen auf dem Burgplatz und Tina besorgt uns zur Feier des Tages erst einmal eine richtige belgische Waffel mit Obst und Sahne. Ich, die sämtliches Touri-Gehabe immer lautstark abgelehnt hat, kann nicht widerstehen und gehe zu dem mobilen Waffelverkäufer, der mit vier eckigen Waffeleisen gleichzeitig hantiert. Davon ausgehend, dass es höflicher ist, die Bestellung in Englisch aufgeben, bitte ich um etwas ganz besonders. Er verkauft mir eine Waffel mit Erdbeeren und Sahne und ich bestellt eine zweite, für Christian, mit Banane und Schokolade. Macht 14 Euro, die ich ohne zu schlucken bezahle. Und während ich warte, stellt sich der Waffelverkäufer als Sprachgenie heraus. Er plaudert in spanisch, portugiesisch, italienisch, französisch, schwedisch, englisch sowieso und – in deutsch. Als wir später unsere Leckereien aus purer Verzweifelung mit unserem Campingbesteck genießen, versuchen wir hochzurechnen, was der Waffeldealer wohl täglich verdient – uns bleibt die Waffel beinahe im Hals stecken.

 

Gesünder wäre sicherlich ein Zitronenwasser gewesen. Gab’s auf dem Marktplatz in Brügge aber nicht

Plötzlich kommen in mir gemischte Gefühle hoch. Einerseits ist die Tour hiermit geschafft. Wir haben uns ein Ziel gesetzt und dies ohne ernsthafte Schwierigkeiten als Team, als Paar erreicht. Wir haben uns mehr als einmal durchgebissen und Hürden überwunden, von denen wir vorher nichts geahnt haben. Anderseits, was kommt nun? Wie wollen wir diese Erfahrung noch steigern? Denn nach exakt 3 Wochen und 1122 Kilometern ist die Tour hier und heute eigentlich vorbei. Ein emotionales Chaos in mir lässt mich Brügge zum Zwischenziel degradieren. Nein, das ist nicht das Ende der Tour. Amsterdam ist das Ende! Aber – bin nicht ich auch derjenige, der ständig mahnt, dass man eben auch mal begreifen muss, wann genug genug ist? Während wir also die Waffel mümmeln, erkläre ich, dass ich hier in Brügge schlafen möchte, nicht irgendwo auf dem Zeltplatz, fünf Kilometer entfernt. Wir suchen und finden ein „Luxury Hostel“, das mit 84 Euro die Nacht ein echter Schnapper ist. Man kann nämlich locker auch 1300 Euro für eine Nacht bezahlen.
Ich grüble noch ein bisschen, während wir den Weg zu unserem Hostel suchen und als endlich unser allabendlicher Regen einsetzt, beschließe ich: Egal! Jetzt sind wir erst einmal hier. Egal, ob es das Ende der Reise ist oder nicht. Aber es lässt sich nicht verhehlen, ich bin erleichtert und angespannt zu gleich…

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

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Tag 20 – von Antwerpen nach Kamperhoek



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Tag 20- von Antwerpen nach Kamperhoek

Ja, ja, ich gebe es zu. Ein sonderlich großer Belgien-Fan bin ich nicht. Auch wenn wir hier durchaus die eine oder andere nette Begegnung hatten, die Stimmung ist irgendwie spürbar anders. Irgendwie deutsch eben. Das ging mir damals in Bulgarien schon so und Belgien fühlt sich für mich genauso an. Manchmal ist eben die eigene Stimmung nicht so doll, man ist nicht gerade freundlich oder aufmerksam. Und dann brauchen manche Menschen eben länger, um mit anderen warm zu werden. Gerade ich als Brandenburger kann ein Lied davon singen. (Du – und vor allem der wunderbare, der einzigartige Reinald Grebe. Wenn ich ihn zitieren darf: Es gibt Länder, wo was los is’ – Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt Brandenburg).
Aber dann kommt man in ein Land in dem alles viel wärmer zu sein scheint. Die Menschen sind spürbar besser drauf, die Gärten und Häuschen liebevoller und viel offener angelegt. Nichts schreit nach “Meins! Hau ab!” (Im Gegenteil. Jeder Busch, jeder Baum, jede Blume, ja, jede Dachpfanne und jeder Gartenzaun winken fröhlich und einladend: „Huhu! Guten Tag. Schön, dass du da bist. Willkommen. Herzlichst. Fühl dich wohl.“)
Das ist schon ein krasser Gegensatz zu einigen Teilen Deutschlands, in denen sogar Wohnwagen eingebunkert werden. Und dann folgt auf diesen wunderbaren Landstrich mit den tollen Menschen (Niederlande) ein Land, das wie zu Hause ist (Belgien). Wären die Niederländer genau solche Stiesel wie wir oder die Belgier, dann wäre mir das wahrscheinlich auch gar nicht so sehr aufgefallen. Aber so ist das eben, ein Völkchen sticht raus und plötzlich findet man das Gewohnte doof.   (Ich gehe einen Schritt weiter. Unser erster Kontakt mit belgischem Boden verpasst uns einen prompten Stimmungsdämpfer. Während Christian in gewohnter Toleranz bittet, dem kleinen Land – das übrigens auch ein Königspaar hat – eine Chance zu geben, habe ich mein Urteil nach weniger als 20 Minuten in Stein gemeißelt: Belgien ist grau, ungepflegt, wirkt ärmlich, unfreundlich und höchst resignativ.)

Ich würde gern noch mit dem Vorurteil aufräumen, dass es ja klar ist, dass die Niederländer so gut drauf sind, weil die ja ständig bekifft sind (Königsfamilie, mein Herzensmann, KÖNIGSFAMILIE!).Ehrlich gesagt, kann ich das aber gar nicht. Ich habe zwar keinen einzigen Coffee-Shop bewusst wahrgenommen, aber ob die eine oder andere unserer Begegnungen nicht gern mal einen raucht… ich weiß es nicht. Egal wie, wenn es den Deutschen und Belgiern zu einem Freundlichkeitsschub verhelfen würde, dann legalisiert doch endlich das blöde Grass.
Warum erzähle ich das eigentlich? Weil ich morgens bei der Planung noch 113 km bis Brügge ausgerechnet habe. Zuviel für einen Tag, zumal das Wetter nicht wirklich gut aussieht und wir heute Morgen echt lange zum Trocknen und Abbauen benötigen. Bis um 10 Uhr hat es geregnet und als wir dann mit unserem Tagwerk beginnen wollen, ist der Himmel noch immer so wolkenverhangen, dass wir jeden Moment mit einer neuen Dusche rechnen. Die restliche Wäsche muss noch mal in den Trockner – aber wir haben keine 50 Cent-Stücke mehr. (Einsatz für Miss Pragmatismus. Am Vorabend habe ich eine elegante blonde Dame Anfang 60 gesehen, die mit verkniffenem Gesichtsausdruck zwei Weinflaschen in den Container warf. Blöderweise ist sie am heutige Vormittag die einzige, die vor Wohnwagen mit Überdacht sitzt. Also marschiere ich mit dem Euro zu ihr und ihrem nach Erfolg und Arroganz aussehenden Mann und eröffne meine Charmeoffensive mit den Worten: „Would you please save my life?“ Ich höre schon meinen besten Freund sagen: Geht’s nicht ne Nummer kleiner? Nö. Geht’s nicht. Passt perfekt. Denn als ich mit Dackelblick die flache Hand ausstrecke, in der das ein-Euro-Stück blinkt und erkläre, mein Mann und ich seien mit dem Rad unterwegs, durch den Regen aber alle Klamotten nass und wir würden die gerne in den Trockner werfen, damit wir uns in dem nassen Zeugs nicht den Tod holen, weil wir ja schließlich noch bis nach Brügge wollen (puh. Einmal Luft holen), tja, also da fordert sie ihn auf, nach zwei fünfzig Cent Stücken zu gucken. Sie selber lächelt freundlich und dabei ungläubig. „By bike?“, hakt sie nach und ich nicke bescheiden. Sehr beeindruckt von diesem Ziel gibt sie mir den Rat, unbedingt noch Gent anzuschauen, eine ganz wundervolle Stadt. Und will wissen, was ich denn von Antwerpen halte? Ihr Mann ist in seiner Hosentasche (natürlich – Kerle wie er schleppen immer jede Menge Kleingeld in der Hosentasche mit sich rum.) fündig geworden und wir tauschen eins zu zwei. Ich halte mich bedeckt, was Antwerpen angeht, meine brachiale Offenheit könnte möglicherweise missverstanden werden. Die beiden sehen sich jetzt verliebt an und er sagt, dass sie seit 40 Jahren jedes Jahr für zwei Wochen hier auf dem Campingplatz sind. Antwerpen sei eine so fantastische Stadt. Aha. Ist uns bislang entgangen. Und plötzlich werfen sich die beiden so was wie einen verliebten Blick zu als er sagt, sie würden Antwerpen besser als Amsterdam kennen und sie dazu nachdrücklich nickt, da denke ich, wie reizend die beiden doch eigentlich sind. Sie wünschen eine erfolgreiche Fahrt, wiederholen, wie einmalig schön und dabei unterschätzt Gent ist und dann stolziere ich mit der lebensrettenden Beute zurück zu unserem Zelt. Wenn ich könnte, würde ich Wagners Walkürenritt pfeifen und dabei die zwei 50er fahnengleich schwenken. So drücke ich sie meinem Herrn der Wäsche bloß mit einem lässigen „erledigt“ in die Hand und stelle betont nebenbei die Frage, wie groß der Umweg über Gent eigentlich wäre.) Und so kommt es, dass wir erst gegen 13:00 Uhr starten können und somit meines Wissens wieder einmal einen Rekord aufgestellt haben.

Die Route wird jetzt also über Gent gehen und da wir beide keine wirkliche Lust auf belgische Dörfer haben, wähle ich die Route entlang einer stark befahrenen Hauptstraße. Einer zu stark befahren… Als wir in der kleinen Stadt Belveren unsere erste Pause machen, stellen wir fest, dass uns das beiden keine wirkliche Freude bereitet. (Und das liegt nicht an dem plötzlich hohen Polizeiaufkommen. Wir stehen an einem Kreisel, als uns drei VW-Busse versetzt und in unterschiedliche Richtung kurvend auffallen. Allerdings ohne Blaulicht. Während wir noch überlegen, ob wir eigentlich wirklich nach Gent müssen, hält einer der Busse, ein glatzköpfiger Polizist mit graumeliertem Hipsterbart lehnt sich aus dem Fenster und fragt auf belgisch oder flämisch oder was auch immer, ob wir zwei zu Fuß flüchtende Männer gesehen hätten. Einer trage ein Baseballcap. Ich schüttelte mit einem angemessen bedauernden Gesichtsausdruck den Kopf, setze ich „Sorry“ hinzu, ernte dafür ein freundlich-resigniertes „Danke“ und der Bulli verschwindet im Kreisverkehr. Ich ernte einen bewundernden Blick von Christian, der nachfragt, was den Gesetzeshüter den eigentlich gefragt hat und ich gebe mich verwundert, dass er die Frage nicht verstanden hat. Schrei du mal über Jahre Krimis, dann weißt du, was die Polizei dich fragt, wenn sie offensichtlich jemanden sucht. Es ist IMMER irgendwer auf der Flucht.) Wir entscheiden uns ohne Diskussion gegen Gent, bzw. gegen Belgien. Also planen wir kurzerhand um und unter Inkaufnahme eines zusätzlichen Tages bis Brügge entscheiden wir uns für eine Weiterfahrt über Niederlande. Der Vorteil dabei ist, dass die Campingplatzdichte in Belgien eher gering ist und wir in Holland sicher eine passende und preiswerte Unterkunft finden.
Trotzdem geht es noch eine Zeitlang erneut durch trostlose belgische Dörfer und über triste, schlecht gepflasterte Nebenstraßen, die uns aber nicht mehr so schlimm wie an unserem ersten Belgientag vorkommen. Denn – die bunten, freundlichen Niederlande winken. Immerhin gibt es auf diesem Abschnitt keinen Kanal, den die Belgier nach Lust und Laune mit Industriebauten zugepflastert haben. Eine letzte Versorgung mit Lebensmitteln und dann geht es wieder über die Grenze. Diesmal sogar mit einem von mir gewünschten Schlagbaum.

Ob wir uns das nun einreden oder nicht, die Stimmung wird dann auch gleich wieder schlagbaumartig besser und auch meine neuen Karten kommen nun zum ersten richtigen Einsatz. Ich kann jetzt endlich nach Knotenpunkten planen und um unser Ziel, einen auf der Karte ausgewiesenen Campingplatz zu erreichen, geht es wieder durch schöne Landschaft, deren städtischer Höhepunkt die Stadt Hulst ist. Sie ist, trotz auf dem flachen Land errichtet, komplett von Wasser umgeben. Wir stoppen in der Innenstadt an einer Sitzbank (In unmittelbarer Nähe einer Kirche, zu unserer rechten ein seltsames Kunstwerk, bestehend auf Enten oder Gänsen aus Bronze), und grübeln bei Brötchen mit Aufschnitt mal wieder über die Unterscheide der Niederländer zu den Belgiern, als uns ein Bataillon sehr alter Damen von unserem Platz vertreibt. Darunter auch drei Nonnen, die alle so gebrechlich sind, dass sie in Rollstühlen sitzen. Selten habe ich mich so deplatziert gefühlt wie in diesem Moment. Tina witzelt, hier sind gerade locker 2000 Jahre versammelt. Was der Grund für diese Ansammlung war, wissen wir bis heute nicht. Denn diese Gruppe ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass wir nicht einmal eine Chance haben nachzufragen. (Die Wahrheit ist eine andere: Wir trauen uns nicht. Ich bin fasziniert von der sanften Heiterkeit der uralten Frauen. Besonders eine sehr zierliche Dame mit schlohweißem Haar, in weißer Bluse und wadenlangem Rock, deren Rücken so gekrümmt ist, dass sie mit beinahe waagerechtem Oberkörper in kleinen Schritten gehen muss, berührt mich. Trotz ihres vermutlich biblischen Alters und ihrer offensichtlichen Gebrechen, von denen ich nur ahnen kann, wie schmerzhaft sie sein müssen, wirkt sie fröhlich und gelassen. Und während sie sich mit einer Hand an der Lehne der Bank abstützt und mit der anderen das Gesangsbuch oder eine Bibel festhält, scheint sie einen Scherz mit den zwei unwesentlich jüngeren Damen auf der Bank zu machen. Es ist ein leises Schnattern und plötzlich wird mir bewusst: Auch diese Damen waren alle mal junge Mädchen. Vielleicht sind sie zusammen zur Schule gegangen… Ich bedauere meinen fehlenden Mut, die Damen anzusprechen, in ein Gespräch zu verwickeln. Dagegen beschleichen Christian komische Fluchtgedanken, ihm ist das zu viel naher Tod auf einem Haufen. Er will nur weg.

So packen wir also zusammen und steuern unser neues Tagesziel, die Natuurkampeerterreinin Kamperhoek an. Ein letzter Einkauf in Vogelwaarde wird uns durch einen wahnsinnig gut gelaunten Mitarbeiter versüßt, der während unser gesamten Verweilzeit fröhlich ein Lied nach dem anderen im Radio mitpfeift.
Als wir dann endlich um 18.30 Uhr auf unserem Ziel ankommen, erwartete uns ein absolut fantastischer Campingplatz, der auf einem aktiven Bauernhof errichtet ist. Hier wird gleichzeitig Bio-Landwirtschaft und Beherbergung praktiziert, die ganz offensichtlich auf Familien oder ganze Schulklassen ausgerichtet ist. In 12 großen Zelten mit Luxusausstattung können bis zu 8 Personen schlafen und leben. Zusätzlich gibt es Hütten und eine liebevoll angelegte Zeltwiese. Da kann uns auch der inzwischen treue abendliche Regenschauer nicht die Freude verhageln. (Ich bin begeistert von dem Konzept, das u.a. vorsieht, dass Kinder für die Dauer ihres Aufenthaltes die Verantwortung für eines der zahmen Hasen übernehmen können. Vor jedem der Zelt steht nämlich ein mobiler Hasenkäfig.)
Die Distanz zu Brügge hat sich heute durch den Bogen über die Niederlande wieder ein bisschen erhöht, statt verringert. Aber es ist trotzdem ein toller Abschluss und keiner von uns ist unglücklich darüber, Belgien für einen Tag den Rücken gekehrt zu haben. Morgen werden wir allerdings nicht mehr drum herumkommen.

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Tag 19 – Ruhetag in Antwerpen



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Tag 19- Ruhetag in Antwerpen

Als ich aufwache, war Christian schon beim Supermarkt, hat kleine Obstkuchen und Käsekuchen und zwei Kerzen (eine drei, eine zwei) gekauft und ich bin gerührt. Das Handy, was ich tagsüber ausschließlich als Kamera nutze, bleibt auch an diesem Morgen aus. Ich habe Geburtstag und bin froh, ihn nicht zu feiern, sondern nur zu genießen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und meine neue Bekannte vom Vorabend aus dem Waschraum lädt Christian und mich auf einen Espresso ein. Mary und Robert aus München urlauben seit 15 Jahren mit ihrem kleinen Wohnwagen (Knutschkugel) durch die Weltgeschichte und ich hatte mich schon gestern in das fahrende Zuhause verknallt. Heute kann ich es mir von innen ansehen und bin entzückt. Ein echte Alternative zum Zelt – in zehn Jahren oder so.

Geburtstagsfrühstück auf Belgisch: So kann man das neue Lebensjahr auch ganz wunderbar feiern

Wir stehen also zusammen, plaudern ein bisschen und dann schließen wir uns Mary und Robert, die ihre Räder dabeihaben, spontan auf deren Weg zum MAS (Museum aan de Stroom) an. Wir haben große Lust mit diesen beiden reizenden Bayern ein paar Stunden zu verbringen. Der definitive Vorteil: Mary recherchiert viel und gerne und erfolgreich. Deswegen weiß sie auch, dass es in unmittelbarer Nähe des Campingplatzes eine kostenlose Fähre gibt. Und die nutzen wir, um die Schelde zu überqueren. Schon vor Abfahrt der Fähre kommen wir ins Gespräch mit einem bärtig-bärigen Brillenträger Mitte 40. Der Sohn eines Pastors ist in Antwerpen hängen geblieben, lebt hier seit 30 Jahren und überschüttet uns mit Informationen, von denen bei mir nur hängen bleibt: In den kommenden Jahren wird das Ufer begrünt, werden die alten Lagerhallendächer abgerissen. Und: Antwerpen ist die Stadt der Gegensätze. Sie galt lange als das Venedig Belgiens, bis in den 70er Jahren viele historische Gebäude, die vom Krieg verschont geblieben waren, abgerissen wurden und durch scheußliche Hochhäuser ersetzt wurden. Und: Das neue Lotsenhaus sieht aus wie ein gestrandetes Schiff mit einem aufgesetzten Diamanten. Und dann noch dieses: In Rotterdam darf jeder ein Hochhaus bauen, solange es sich nur von denen unterscheidet, die bereits existieren. Was unser selbsternannter freundliche Stadtführer eigentlich arbeitet, wissen wir nicht. Ich glaube, er sollte Stadtführer sein. Ein unglaubliches Wissen geballt in einem netten Kerl. Wir lernen auch, das Antwerpen nie in der Hanse war, weil sie die Zölle und Gebühren nicht mit den anderen Mitgliedern teilen wollten.

Vermutlich DAS Wahrzeichen von Antwerpen: Der beeindruckende Kubus MAS (Museum aan de Stroom)

In wenigen Minuten ist die Schelde überquert, wir rollen von Bord und steuern das MAS an. Ich kann mich selten bis nie für moderne Architektur begeistern. Ich stehe mehr auf Jugendstil und so. Aber das MAS-Bebäude mit seinen roten Granitsteinen, die übrigens aus Indien stammen und nur noch ein einziges Mal in Europa verbaut wurden, und zwar in Berlin, das beeindruckt mich. Die (derzeit) 3184 silbernen Hände, die von weiten wie Nietnägel in den Quadern aussehen, die gewellten Glasfassaden – das ist schon einmalig und sehr beeindruckend. Wir fahren mit den Rolltreppen Stockwerk um Stockwerk nach oben, bewundern die riesigen von Rubens inspirieren Fotos vom belgischen Künstler Athos Burez deren Farbintensität und Motive von einer brachialen Wucht und gleichzeitig zarten Komposition sind (ja, ich kann auch in Kunstkritik.) Von oben betrachtet hat Antwerpen die selbe Wirkung wie am Vortag: Irritierend, auf gar keinen Fall anziehend. Es ist ein chaotisch-kreatives Bild, was sich uns darbietet und wir wissen bis zu unserer Abfahrt nicht, was wir von dieser Stadt eigentlich halten sollen. Der Aufstieg zur Dachterrasse ist übrigens umsonst. Eintritt muss man nur für das eigentliche Museum bezahlen. Als weiteres kostenloses Highlight kann man sogar noch eine Etage mit derzeit nicht ausgestellten Objekten besuchen und bekommt somit als Bonus einen Blick hinter die Kulissen des Museums. Das MAS ist definitiv einen Besuch wert, auch wenn wir unzähligen Schulkindern begegnet sind, deren Lehrer wohl bei dem halbherzigen Wetter keinen rechten Bock auf klassischen Unterricht hatten.

Christian, Mary und Robert (v. li. n. re.) bekommen vom freundlichen Deutsch-Belgier Infos zu Antwerpen

Es wird kühler, wir finden den perfekten Kartenladen und kaufen endlich eine gescheite Radkarte und können die von der Tankstelle dem Müll überlassen. Ich möchte noch in die Peter-und-Paul-Kirche. Auch wenn mich schon 1996 als Atheistin durchaus wohl fühle und mit Kirche als Institution nichts am Hut habe – die Gebäude faszinieren mich immer aufs neue. Weil ich mir immer bewusst bin, was die Menschen vor vielen Jahrhunderten ohne modernste Technik geschaffen haben. Ob es Holzschnitzereien oder Steinarbeiten sind – ich verneige mich voller Ehrfurcht vor den Erbauern, Erschaffern, den Künstlern. Hier sind es vor allem die dreidimensionalen Holzschnittarbeiten vom Leidensweg Christi. Die Brutalität der Geschichte wird für mich fühlbar wie nie zuvor. Der Sohn Gottes scheint mit jedem der 13 Bilder zu altern. Die Gesichter der geschnitzten Figuren sind von beunruhigender und erschütternder Lebendigkeit. Sie sind bedrückend und gleichzeitig faszinierend. Gerne würde ich über das dunkelbraune Holz streichen, die Linien der Gesichter, der Kleider mit den Fingerkuppen erkunden – aber natürlich tue ich es nicht. 

Mary und Robert verabschieden sich noch in der Kirche flüsternd mit inniger Umarmung von uns – sie wollen weiter. Wir haben Handynummern und Emailadressen getauscht und werden versuchen, in Kontakt zu bleiben, uns vielleicht noch mal zu treffen. Kaum sind die beiden weg, vermissen wir sie schon. Sie sind uns in wenigen Stunden ans Herz gewachsen.

Als wir die Kirche verlassen, ist mir so kalt, dass ich den nächstbesten Klamottenladen entere, von einer jungen Schäferhündin aufs stürmischste begrüßt werde und innerhalb von sieben Minuten den Laden mit einem langärmeligen giftgrünen Pulli mit V-Ausschnitt für 29 Euro wieder verlasse. Auf der Suche nach einem Fahrradladen (Christian will seit Tagen sein defektes Rücklicht ersetzen), bekommen wir einen kleinen Eindruck vom anderen, vom quirligen, bunten, individuellen und kreative Antwerpen. Aber mir fehlt die Lust, jetzt noch zu bummeln. Auch im dritten Radladen wird uns nicht weitergeholfen. Hier sind sie inzwischen so auf E-Bikes fokussiert, dass ein schlichtes zu verkabelndes Rücklicht nicht zu haben ist. Nie bekomme ich, was ich will!!! Ich hätte auch ein giftgrünes Rücklicht genommen, aber nix da. In Antwerpen werde ich einfach nicht fündig. Ich bekomme langsam das Gefühl, analoge Fahrräder sind  out. Zurück auf unserem Zeltplatz wird gekocht, gegessen und dann komme ich nicht mehr drum rum: Ich höre meine Mailbox ab, freue mich über die vielen lieben Glückwünsche zum Geburtstag (und bedanke mich in den kommenden Tagen sukzessive bei jedem per sms). Beim anschließenden Mega-Kniffel verkünde ich meinen Entschluss fürs kommende Jahr: Ich will nicht nach Kuba fliegen, sondern eine große Radtour machen. Christian lächelt milde und ich glaube, auch ein bisschen fröhlich. Aber jetzt geht’s erst mal nach Brügge. Und zwar in nur noch zwei Etappen.

Egal ob von oben oder unten: Antwerpen ist irritierend ob seiner chaotischen Architektur

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Tag 18 – von Keersop nach Antwerpen

Über sich hinauswachsen – check. Mit dem heutigen Tag erledigt. Und zwar mit Bravour, wenn ich das ohne falsche Bescheidenheit mal sagen darf. Aber ich will nicht vorgreifen.
Wir verlassen unsere Campingbucht „De Meeres“ gegen 9.30 Uhr. Vorher reiße ich mir noch den abgelaufenen Chip, der mich bis jetzt viel zu genau mit aktuellen Zuckerwerten versorgt hat, vom linken Oberarm. Die erste katastrophale Erkenntnis des Tages: Ich werde nicht nahtlos braun nach Hause kommen. Weil dieses verdammte Leukoplastpflaster, das mir die Apothekerin hinter Minden großzügig über den Sensor geklebt hat, nicht UV-durchlässig ist. Skandalös! Damit ist meine Entscheidung vom Vorabend bestätigt: Kein neuer Sensor mehr am Oberarm! Den Rest der Reise werde ich meine Zuckerwerte wieder wie in den vergangenen 18 Jahre testen: Per Stechhilfe und Teststreifen. Ja, ist unbequemer, aufwendiger und vor allem nicht während der Fahrt zu erledigen. Ja, das pieksen in die empfindlichen Fingerkuppen ist jedes Mal schmerzhaft. Trotzdem. Und an dieser Stelle möchte ich vorgreifen: Ab diesem Morgen normalisieren sich meine Werte. Und damit entspanne ich mich in schwindelerregender Geschwindigkeit, meine Laune verbessert sich erheblich. Erkenne: Zu häufiges testen der Zuckerwerte macht nervös und übellaunig. Ein mediales Phänomen, welches auch von Smartphones bekannt ist. Haste eines, guckste ständig drauf. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nicht ganz unschuldig an den Zuckerdramen bin. Wann immer möglich, habe auch ich das kleine glänzende Gerät an Tinas Arm gehalten, um dann auf diesem wunderbaren Touchmonitor eine Zahl zu erkennen, durch die ich auf Tinas Zustand schließen konnte… vorbei die schöne Zeit. Aber tatsächlich, ohne die ständigen Messungen gibt es auch kein schnelles Reagieren auf ansteigende oder abfallende Zuckerwerte mehr und das bringt viel Ruhe ins Zuckerdrama. Tina hat heute Morgen eine der elementarsten Entscheidungen der Tour einfach so aus dem Bauch heraus getroffen. Gut gemacht!

Der Blutzucker-Sensor war zwei Wochen mit Leukoplast angeklebt – nahtlose Bräune adé.

Runter vom Campingplatz, links auf den Radweg. Es dauert, bis ich den richtigen Rhythmus finde und nach drei vergeblichen Anläufen finden wir endliche eine Tankstelle, an der wir eine Straßenkarte der Niederlande kaufen können. Und eine halbe Stunde später passieren wir auch schon das blaue Schild mit den goldenen 12–EU-Sternen-Kreis, in dessen Mitte in weißer Schrift „België“ steht. Wir küssen uns grenzüberschreitend. Wir sind jetzt in Vlaanderen, wie ein weiteres gelbes Schild mit stilisiertem Löwen erklärt und noch einige Meter weiter wird schriftlich behauptet: „De provincie Antwerpen heet u welkom“. Scheint nicht so, als müsste ich meine rudimentären Französischkenntnisse rauskramen. Trotzdem suche ich während der Weiterfahrt nach den entsprechenden höflichen Frage-Formulierungen bezüglich eines Platzes für unser Zelt, wahlweise für ein Fremdenzimmer. Overigens vond ik niet dat de provincie Antwerpen ons had verwelkomd.
Der richtige Tritt-Rhythmus stellt sich endlich ein, es geht über Feld- und Waldwege, zunächst nicht spürbar schlechter als in den Niederlanden. Da stoppt Christian plötzlich. Ein graues Kraftpaket, locker 69 Zentimeter Schulterhöhe, mit altersweißer Schnauze, tiefer Stimme, wild wedelnder Rute und dem Anspruch, Haus und Hof laut bellend zu verteidigen, versperrt meinem vorausfahrenden Christian den Weg. Zuversichtlich, dass nichts passieren wird, fahre ich betont entspannt an dem kläffenden Hund vorbei, ohne auch nur eine Sekunde ernsthaft zu befürchten, er könne mir in die Wade beißen. Erstaunlich dieses Grundvertrauen in das Gute im Hund. Ich bilde mir eine Menge darauf ein, 13 Jahre lang „Hundemutti“ gewesen zu sein. Vielleicht zu viel? Hochmut kommt schließlich vor dem Fall, schießt es mir deswegen auch durch den Kopf, aber ich verdränge den Gedanken sofort wieder. Ein bellender Hund beißt nicht. Weiß doch jeder. Und der hier schon gleich gar nicht. Ganz bestimmt. „Alles gut, entspann dich“, sage ich dennoch freundlich, ohne daran zu denken, dass der Vierbeiner möglicherweise kein Deutsch versteht. Meine betont selbstbewusste Haltung überträgt sich zu meiner Irritation nicht auf Christian. Der steht, die Beine von den vorderen Packtaschen wenigstens einigermaßen geschützt, und scheint auf ein Wunder zu hoffen. Aber nein, der Hund wirft sich ihm nicht zu Füßen oder löst sich gar in Luft auf. Er bellt munter und laut und durchaus energisch. Wäre ich weniger Hundeerfahren, ich würde laut brüllen vor Angst. So gebe ich mich überlegen und versichere Christian mehrfach, dass der Hund ihm nichts tun wird. Dass der nur freundlich sein Revier markiert. Naja, der krawallgebürstete Rüde rennt dann doch ein paar Meter Zähne fletschend und sehr laut bellend neben uns her und mein wunderbarer Tourguide ist stinksauer und zetert einige hundert Meter lang über die Frechheit, dass so eine Bestie frei rumlaufen darf, freundliche Radwanderer aus dem Nichts heraus so energisch bedroht. Im Normalfall habe ich keine Angst vor Hunden, nur scheint mir die Kombination Fahrrad und Dorfköter echt ein bisschen problematisch. Aber der glimpfliche Ausgang der Situation fließt auch in meinen Erfahrungswertebogen ein und schmälert die fiesen Angriffe in Serbien, der Türkei und Griechenland. Mal ganz ehrlich, liebe Hundebesitzer: Haltet eure Bestien doch einfach innerhalb geschlossener Zäune und weg von öffentlichen Straßen. Mit Sätzen wie: “Der tut nix”, kann ich als unwissender Fahrradfahrer nichts anfangen, denn ich kenne euren Hund nicht und weiß eben nicht, ober er bloß aus Angst oder Revierverhalten kläfft oder ob er sich gerade mit Leichtigkeit von der schweren Eisenkette losgerissen und durch den Natodraht gebissen hat, um auf die Straße zu kommen; um nach dem halben Rind zum Frühstück jetzt noch einen Radfahrer als Zwischenmalzeit zu verspeisen. 

SO muss ein Grenzübergang aussehen! Hätten wir gewusst, was uns erwartet, gelächelt hätte ich nicht.

Um Christian vom Schrecken abzulenken, lästere ich jetzt über die scheußlichen kleinen Häuser, die vereinzelt unseren Weg säumen. Lieblos, grau, halbfertig oder halbverfallen, das lässt sich im Vorbeifahren schwer sagen. Wir sind auch nicht so wahnsinnig begeistert von der Landschaft und verfallen schnell wieder in schweigendes Treten. Kurz darauf versperren uns Hühner den Weg – sie gackern in einer Dreiergruppe über unseren Weg und lassen sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Auf Christians Klingeln reagieren sie mit gelassenem Trippeln von links nach rechts. Einzig ein ziemlich zerrupft aussehender Hahn bleibt wie angenagelt mitten auf der Straße stehen. Ich stoppe, will wissen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Ist es nicht. Dem schwarzen Federvieh fehlen nicht nur die schmückenden Schwanzfedern, sondern auch das linke Auge. Hier bekommt der flotte Spruch, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, einen bitteren Beigeschmack. Der einäugige Hahn wirkt krank und verloren und unser Mitgefühl mit dem armen Gockel hält lange an.

Stoisch bleibt dieses Federvieh mitten auf dem Radweg stehen. Dann erkennen wir: Es ist blind…

Wir erreichen einen Kanal, der für die kommenden Stunden unsere Route bestimmen wird. Wieder stoppt Christian unerwartet. Dieses Mal mit strahlenden Augen und der Bitte, unbedingt ein Foto zu machen. Die Rede ist von einem „Aardbeien-Automaat 7/7“. Nach Brot- und Kartoffel-Automaten ist das hier neu für uns beide: Sieben Tage die Woche werden hier in 250 Gramm-Schachteln für 4 Euro erntefrische Erdbeeren verkauft. Und offensichtlich mit Erfolg. Denn während wir noch vor dem Automaten stehen und staunen, kommt eine ältere, kurzhaarige Bäuerin in Jeans, T-Shirt und Schürze. Sie schiebt eine Art Service-Wagen mit Stiegen voller abgewogener Erdbeeren vor sich und bestückt den Automaten. Wir nicken einander freundlich zu. Da sie kein Deutsch spricht, Christina aber großartig im dechiffrieren fremder Worte, sagt er „camping“ und „Brügge“ und sie nickt beeindruckt und wünscht uns gute Fahrt (glaube ich zumindest). Wir ziehen keine Erdbeeren, weil wie sie gleich essen müssten. Wollen wir in dem Moment nicht, also geht’s weiter, immer am Kanal entlang. Also ich will schon. Aber nicht weil ich Erdbeeren essen möchte, sondern offenbar habe ich einen Hang zur Automatenspielsucht. Ich möchte hiermit den anderen Zockern mal raten, nur noch solche Automaten zu bespielen. Die Erfolgsquote liegt bei annähernd 100%. Und dieser Weg ist abgrundtief hässlich. Soviel versammelte Scheußlichkeit, Kilometer um Kilometer, das drückt ein bisschen auf die Stimmung. Industrie rechts und links des Wassers. Wir passieren einen Frachter, der Christian heißt, und irgendwann gibt es einen Kick: Die Kombination Rückenwind und schnurgerade Strecke sorgen plötzlich für ungeheuren Fahrspaß. Wir treten in die Pedale, liefern uns kleine Wettrennen. Die Laune steigt und ich grinse breit – 32 Zähne, alle oben – und rase mit 32 Km/h an meinem Liebsten vorbei. Der grinst zurück, holt mich ein, wir fahren nebeneinander und genießen das Tempo. Ich brülle übermütig: „Wenn das so weitergeht, können wir ruhig bis Antwerpen fahren.“ Bei Kilometer 78 pausieren wir kurz an einem Umspannwerk, an dem das Rauchen verboten ist. Umspannwerk, Gasverteilstation, wer kennt da schon den Unterschied. Aber die Techniker in Belgien scheinen im Gegensatz zu den Landschaftsgestaltern – die Bänke für müde Touristen aufstellen, oder eben nicht –  einen guten Job zu machen, denn undicht war offensichtlich nichts. Und eine kleine Funktionskontrolle hat noch niemandem geschadet… glaub’ ich jedenfalls. Ich rauche übrigens überhaupt nur wegen der Automaten, is’ klar, ne? Während er nach einem Campingplatz sucht, steckt sich Christian eine Kippe an, passiert uns eine Gruppe von 25 E-Bike-Radlern im hohen Rentenalter, haben wir bereits gefühlt 25 Brücken links liegen gelassen und entscheiden, wir verzichten auf den ursprünglich geplanten Campingplatz und fahren weiter bis Antwerpen. Sind ja nur noch knapp 20 Kilometer. Mich piekst der Hafer und ich bin so voller Kraft und Adrenalin und Lebensfreude, dass ich es wahrhaftig auf 34,7 Km/h bringe. Auf gerader Strecke! Ein lauter Juchzer brodelt in mir, will raus – ich lasse ihn und balle dabei die Faust. Dieser Moment ist unbeschreiblich.

Fangfrische Erdbeeren, 250 Gramm für 4 Euro – da lacht das Herz, aber das Portemonnaie bleibt zu.

Dann erreichen wir tatsächlich Antwerpen. Und sind schockiert. Mich erinnert dieser Teil der Stadt an die frühen 80er Jahre, wenn wir durch Berlin nach Warnemünde fuhren. Christian bestätigt das bedrückende Ostblock-Flair. Zu allem Überfluss zieht sich der Himmel zu, wird erst Taubenblaugrau, dann Schieferschwarz und es beginnt zu regnen. Wir stellen uns unter, neben einem kleinen Supermarkt, aus dem mehrere Afrikanerinnen mit heulenden Kleinkindern herauskommen und uns mitleidig angucken. Wir warten auf das Ende des Regens, doch der Himmel ist Gewitterwolkig und es grummelt. Immerhin, der Regen wird weniger, es ist warm genug, um ohne Regenjacke fahren zu können. Christian lotst uns souverän durch die Stadt, die immer scheußlicher, dreckiger, lauter, stinkender und bedrohlicher zu werden scheint. Es sind keine Frauen zu sehen, nur an geschlossenen Läden hockende und rauchende Männer mit leeren Blicken, Männer in Grüppchen stehend, gehend oder sitzend. Graffiti übersähte Häuserwände, schmutzige, enge Gehsteige. Verfallende Gebäude. Alles atmet Armut und ich frage mich ratlos, wo ist der Teil von Antwerpen, von dem so viele Menschen schwärmen? Während wir abwechselnd über Kopfsteinpflaster, holperige Gehwege und dann wieder rissigen Asphalt unseren Weg suchen, bete ich die ganze Zeit, dass wir nicht überfallen und ausgeraubt werden. Dabei werden wir nicht mal neugierig angesehen. Trotzdem bin ich froh, als wir endlich raus sind aus dieser bedrückenden Bronx und uns an der Schelde wiederfinden. Dem Fluss, der Antwerpen teilt. Und der keine Brücken hat, um den Schiffsverkehr nicht zu behindern.
Es ist ein wildes Gewusel auf dem kombinierten Fußgänger-Radweg. Der Himmel ist immer noch bedrohlich grau und es grummelt. Inzwischen blitzt es auch und ich werde ungeduldig vor Angst. Bei Blitz und Donner auf dem Rad? Lässt das Herz zwar höher schlagen – aber ganz sicher nicht vor Begeisterung. Christians Navi behauptet, es gäbe eine Brücke. Wir fahren vor und wieder zurück, vorbei an denen das Ufer säumenden und alten musealen Booten Schutz bietenden Hallendächer. Endlich wird klar: Die angebliche Brücke ist der 931 gebaute und 1933 eingeweihte Sint-Annatunnel. Wir überqueren die Baustellen verengte Straße während einer Rote-Ampel-Phase und dann erleben wir die abenteuerlichste Fahrt dieser Reise: Über zwei hölzerne Holzrolltreppen geht es 31 Meter in die Tiefe. Die schwer bepackten Räder verkantet, beide Bremsen gezogen, holpern wir bis zum Tunnelboden, der einen Durchmesser von 4,30 Metern hat und 572 Meter lang ist. Es ist ziemlich kalt hier unten, man darf als Radfahrer nicht schneller als 5 km/h fahren. Aber nachdem ich sehe, wie die anderen Radler in die Pedalen treten, hält mich nichts mehr davon ab, so schnell wie möglich diesen maximal 12 Grad kaltem schnurgraden Tunnel zu durchqueren. Für den Weg zurück ans Tageslicht nutzen wir dieses Mal den Lastenaufzug, den maximal 40 Personen gleichzeitig nutzen dürfen und der seit den 1990er zum Großteil von den Radfahrern genutzt wird. Sieht ein bisschen so aus, als würden nur doofe Touris mit ihren (vollgepackten) Rädern die historischen Rolltreppen nutzen. Jeder, der mal eine Reise nach Antwerpen wagt, sollte einmal diesen Tunnel benutzen. Das macht wirklich tierischen Spaß.

Kraft und Konzentration braucht es bei diesem Abenteuer: Die Holzrolltreppe im Sint-Annatunnel
Ein bisschen gruselig, schnurgerade, beinahe 600 Meter lang und sehr sehr kalt: Der Sint-Annatunnel

Kaum haben wir die Straße betreten, beginnt es wieder zu regnen. Es sind noch zwei Kilometer bis zum Campingplatz, der mitten im Hafengebiet liegt. Voller Hoffnung, dass der Blitz uns nicht in letzter Minute erschlagen wird, folge ich Christian. Die Schranke am Campingplatz umfahren wir. Im Pförtnerbüro sitzt niemand. Ich rufe bei der angegebenen Nummer an und rechne damit, dass ich jetzt aber in französisch unser Begehr formulieren muss. Denkste, die nette Dame am anderen Ende der Leitung spricht mit herrlichem Akzent und damit in perfekt verständlichem Englisch. Wir mögen uns einen Platz aussuchen und dann morgen bezahlen. Während ich telefoniere, scharwenzelt eine bunte Katze um mich herum, eine rothaarige macht es sich auf einem der gepolsterten Sitze vor dem Büro gemütlich und kommt Christian durch den leichten Nieselregen zu mir – er hat bereits einen Platz für uns ausgesucht.
Wir bauen das Zelt auf. Die Stimmung ist dem Wetter entsprechend angepasst. Ich koche aus Resten unser Abendbrot, wir essen schweigend und dann gratuliert mir mein Herzensmann zu 94,91 gefahrenen Kilometern. Reine Fahrzeit an diesem Tag: 5 Stunden, 17 Minuten. Und als ich später in den Waschräumen einer wildfremden Frau beim Zähne putzen von dieser persönlichen Höchstleistung erzähle, wird mir bewusst: DAS heute war die bisher größte sportliche Leistung meines Lebens. Ein cooleres Geschenk hätte ich mir zu meinem morgigen Geburtstag kaum selber machen können. Übrigens verquatschen sich die fremde Bayerin und ich uns. Sie kann nicht glauben, dass eine Reiseradlerin ernsthaft von Potsdam nach Brügge im Kleid fährt und darüber hinaus auch noch einen Lockenstab im Gepäck hat. Echt nicht? Tue ich und habe ich. Bei allem Pragmatismus: Ein bisschen Eitelkeit muss sein.
Und währenddessen stolpern ein fremder Bayer und ich zombiegleich über den Platz und suchen unsere Frauen, treffen uns vor dem Damenklo, atmen erleichtert auf, als wir die Hühner schnattern hören, wünschen uns eine gute Nacht und gehen schon mal schlafen.

Nach dem Gewitter über Antwerpen: Blick vom Campingplatz au den Hafen

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Tag 17 – von Arcen nach Keersop



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Tag 17- von Arcen nach keerson

Gut gelaunt geht es nach dem gestrigen Ruhetag wieder auf die Straße. Nachdem ich ja die offizielle Morgenfütterung vom Vortag verschlafen habe, bin ich begeistert von dem mehr als reichhaltigen und liebevoll arrangierten Frans-Frühstück. Neben dem Glas O-Saft und frischen Erdbeeren, Joghurt, gekochtem Ei, Wurst-, Käseteller und Tomaten-Gurken-Teller gibt es für jeden vier Brötchen und zwei Crossiants!! Liebe B&B’s / Pensionen in Deutschland: SO geht Service. Und Frans hat uns auch noch großzügige Streifen Alu-Folie und einen Brotbeutel hingelegt mit der Bemerkung, wir sollen uns Brötchen für die Tour schmieren. Ach, Frans, du gute Seele. Als ob du geahnt hast, dass diese Käsestullen am späteren Nachmittag quasi unsere Beziehung retten werden. Wer noch definitiv zu erwähnen ist: Das Pärchen neben uns am Frühstückstisch, das sich mit den Worten vorstellt, gemeinsam 140 Jahre alt zu sein. Sie sehen keinen Tag älter als 125 gemeinsame Jahre aus. Sehnsüchtig schiele ich zu ihrem Brötchenkorb, denn sie haben zwei von den dunklen, rustikalen Baguette-Brötchen, wir leider keines. Der winzige Fressneid hält die komplette Futterstunde und wäre auch am Ende belohnt worden, wenn ich mich letztlich nicht zu sehr geschämt hätte, das angebotene Baguette zu nehmen. Weil, ich habe nämlich vorher unseren fast unberührten Wurstteller rübergereicht. Und damit eine freundliche Gegengeste quasi provoziert. Was soll’s. So ein bisschen Verzicht üben kann eigentlich nicht schaden. Die beiden Niederländer jedenfalls tauen sehr schnell auf. Die männlichen 70 Jahre sprechen sehr gut Deutsch – hat er in den 1960er Jahren als Pfleger bei seinem einjährigen Berlinaufenthalt gelernt. Als die Mauer gebaut wurde, musste er zurück in die Niederlande und wiederholt einige Male in leichtem Singsang, er habe noch einen Koffer in Berlin. Wir vermuten, dass er seinen Traum, nochmal nach Berlin zu fahren, in diesem Leben nicht mehr realisieren wird. Einfach weil er lieber regelmäßig zu Frans fährt. Was wir durchaus verstehen, denn Arcen ist ein reizendes Städtchen (Frans sagt, es sei Dorf). Während er erzählt, fallen ihm immer mehr deutsche Worte ein, was ihn offensichtlich entzückt. Nachsichtig, dabei durchaus sehr liebevoll wird er von seiner Frau belächelt, die sich aus dem Gespräch weitgehend zurückhält. Nicht etwa, weil sie weniger gut deutsch spricht, sondern weil sie mit großem Genuss auch noch größerer Langsamkeit ein drittes Milchbrötchen mit Butter und Marmelade kaut. Herrgottnochmal, sind die Beiden reizend. Sie bewundern unsere bisherige Fahrleistung und weiteren Pläne mit mehr als großen Augen und noch größerem Respekt. Und wünschen uns zum Abschied eine gute und sichere Fahrt. 

Schön per Fähre über die Maas. Es ist heiß, es duftet nach Rosen und die heutige Route ist nur grob klar.

Frans zu begegnen war einer dieser wunderbaren Zufälle, die es ja genau genommen nicht gibt. Wir empfehlen JEDEM sich wenigsten für eine Nacht im Café B&B Rayer Catering, Diner en Meer, Kerkstraat 2Qa Am Arcen einzuquartieren. Wir holen uns bei Frans noch ein paar Tipps für die Niederlande ab und starten die Strecke mit unserer ersten Fährfahrt über die Maas. Eine kleine elektrische, nur von Solarzellen angetriebenen Fähre, transportiert lediglich Radler, oder, wie sie in den Niederlanden heißen, Fietsen und Fußgänger. Heute ist Sonntag und die Niederlande sind geschlossen auf irgendwelchen Zweirädern unterwegs. Sind es keine Fahrräder (Fietsen), sind es eben Motorräder (Bromfietsen) oder irgendwas dazwischen. Auf jeden Fall sind es Tausende, denen wir heute begegnen und das Wetter lädt auch dazu ein.

Keine fünf Minuten per Elektrofähre dauert es, die Maas zu überqueren. Kosten pro Person: 1 Euro

Unsere erste Etappe führt uns nach Horst. Ich habe noch keine Karte für die Niederlande und nur mit dem Navi wird das ein schwieriges Unterfangen. Die Radwege sind hier nur selten mit Stadtnamen bezeichnet, sondern tragen nicht ganz nachvollziehbare Nummern. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich das System der Knotenpunkte durchschaue und mich vor allem damit anfreunde. Aber auch wenn Supermärkte am Sonntag geöffnet haben, einen offenen Buchladen haben wir nicht gefunden, um eine Radkarte unserer holländischen Freunde zu erwerben. Uns fällt aber auf: In den Niederlanden sind die meisten Lebensmittel teurer als in Deutschland. Auch Benzin und Tabak –  ICH bin ja seit sechs Kilo Nicht-Raucher. Mir also wampe .. äh, wumpe – kosten hier mehr als bei uns und umso mehr verwundert mich die Tatsache, dass die Niederländer durch die Bank weg sehr freundlich und aufgeschlossen sind. Liegt es am Radfahren oder an den wenigen Bergen? Die rauchen einfach weniger. Egal, es ist so und es ist gut so, denn wir fühlen uns auf Anhieb sehr wohl und herzlich aufgenommen. Die Orangjes sind ein zutiefst fröhliches Volk – weil sie mit Maxima und Willem Alexander und den drei Töchtern, die alle mit A heißen, eine fröhliche Königsfamilie haben.

Sonntags in der Fußgängerzone von Horst: An jeder Ecke gibt es Eis, aber keine Fahrradkarten.

Trotzdem kommt es im Laufe des Tages zu einem meiner berüchtigten Frustanfälle, denn wer sich hier nicht elektrisch oder mit Körperkraft fortbewegt, tut es scheinbar mit dem Motorrad. Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass Mopeds und Mofas auf niederländischen Straßen nichts zu suchen haben und wir uns die heute ohnehin überfüllten Radwege oft mit ihnen teilen müssen.
Machen wir uns mal nichts vor, mein Schatz. Du wirst garantiert bis zum letzten Tag der Tour Schimpf und Mordio zetern, wetten?
Mir persönlich sind diese Gefährte zu laut. Das schnelle Hochdrehen der Motoren und der brubbelige Sound mögen Mitsechziger ja toll finden, mich hingegen nervt es zunehmend und so kommt es wie es kommen muss: Ich werde mal wieder launisch.
Ich wusste nicht, dass ein Gebrülltes “warum?” genauso agro klingen kann wie “Verfluchte Scheisse”. Tina stoppt daraufhin unsere Karawane und füttert mich erst einmal mit Frans-Stullen, die auch sofort Wunder wirken. Offensichtlich werde ich mit zunehmendem Hunger echt unausstehlich.
Ach, was? Es liegt gar nicht an den Bromfietsen?
Aber wer weiß schon, wozu dieses beidseitige Wissen in unserem Beziehungsleben noch gut ist. Meine Stimmung ist schnell wiederhergestellt und so kann auch ich mich auch endlich an den schönen niederländischen Orten erfreuen, so wie Tina es schon den ganzen Tag tut. Ja, zugegeben, diese Niederlande scheinen, zumindest nach dem ersten Fahrtag, durch und durch lebens- und liebenswert zu sein.
Und dann waren da noch diese beiden Animalfarms. Also eigentlich ganz traurig, wenn man es genau betrachtet. Aber oberflächlich besehen ist es hinreißend, die ewig lang bewimperten Augen der Rehe zu sehen und noch hinreißender finde ich die frisch von ihrem kuschelweichen Fell befreiten Alpackas, die mit ihren langen Hälsen und ebenfalls lang bewimperten Kugelaugen verzückte Seufzer in mir auslösen. Übrigens, sowohl die Bambis als auch die Alpaccas trafen wir direkt vor America. Und ich verzichte jetzt auf den Kalauer, der einem eigentlich auf der Zunge liegt, sondern protze mit Christians Wissen, das er von Frans hat: America bedeutet auf Holländisch oder Flämisch oder Mittelhochdeutsch “An der Heide”. Die Botaniker unter uns wissen, dass Heide auch Erika heißt.

Latent hysterisch und dabei sooooo entzückend: Familie Alpacka, kurz vor America

Heute machen wir mehr Pause, als dass wir fahren, und so kommen wir auch erst sehr spät an unserem Campinplatz an. Ich mag unser trödeliges, entspanntes fahren, obwohl ich von Harrys und Meghans Hochzeit quasi nichts mitbekommen habe. Offensichtlich bin ich trotz der körperlichen Anstrengung ziemlich gleichgültig was internationalen Glamour-Gossip angeht. Wir reden hier immerhin von DER Adelshochzeit des Jahres. Sogar die Beckhams waren da, Elton John sowieso, und George und Amal Clooney – das immerhin habe ich mitbekommen. Hab schon dem Harry seine Mutti Diana damals beim Ja-Wort aufs Kleid geschielt.
Wir bauen das Zelt auf, lassen noch schnell einen kräftigen Regenschauer über uns ergehen und gehen zur Feier des heutigen, wirklich schönen Tages noch richtig lecker essen. Ähm… Sind wir nicht eigentlich essen gegangen, weil es zu nass war, um sich zum kochen irgendwo hinzusetzen? Und “lecker” finde ich auch ein großes Wort für einen durchschnittlichen Salat und einen frittierten Bürger an Pommes.

Yes, we did!

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