Tag 15 – von Altfeld nach Arcen



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Tag 15- von Altfeld nach Arcen

Soll noch mal jemand sagen, ich sei dünnhäutig. Dem werde ich nicht widersprechen. Ganz im Gegenteil! ABER, und das möchte ich betonen, selbst meine zu allergrößte Toleranz neigender Christian verliert an diesem Morgen in Altfeld ein bisschen die Nerven. Oder zumindest tut er wenigstens so, damit ich mich nicht allein so schlecht fühle.
Wie gewonnen, so zerronnen, möchte man dieses dämliche Sprichwort bemühen. Denn was gestern noch in den schillerndsten Entspannungsfarben leuchtete, was sich als wahr gewordener Traumort der Ruhe und Kreativität präsentierte, ist eine verdammt laute Mogelpackung! Die schlimmste, die wir bislang erlebt haben. Und ich rede nicht von Rasenmähern, brüllenden Kleinkindern oder keifenden Wadenbeißern. Ich zupfe mir um halb neun die Ohropax aus den Ohren – und erstarre. Deutsche Schlager der allerschlimmsten Sorte – Oh Gott! Wie vermisse ich Cindy & Bert, Michael Holm, Katja Ebbstein, Marianne Rosenberg! -, stumpfer eins-zwei-Tipp-Discofox-Takt, in Ballermannlautstärke. Noch mal: Es ist Freitagmorgen, 8.30 Uhr, auf einem Campingplatz! Erst bei unserer überstürzten Abfahrt eine Stunde später stellt die Putzfrau das Radio übrigens auf Zimmerlautstärke. Nein, so richtig gut gelaunt war ich an diesem Morgen nicht wirklich. Denn im Gegensatz zu Dir hatte ich keine Ohropax und die arme Putzfrau schon seit mindestens 7.30 Uhr Dienst. Allerdings waren die gespielten Schlager für mich alle Neuland, auch wenn ich mir eingebildet habe, die eine oder andere Melodie schon einmal gehört zu haben. Wenn man aber bedenkt, dass das Schwimmbad seit einem dreiviertel Jahr außer Betrieb war und die Reinigung bestimmt einer der blödesten Jobs ever ist, dann kann ich diese Liedauswahl durchaus verstehen. Wahrscheinlich ist dritt- oder viertklassiger deutscher Schlager eines der stärksten legal erhältlichen Narkosemittel und damit erhält es von mir das Prädikat: BESONDERS NERVTÖTEND. Ich höre durch das Wummern der Bässe, wie Christian sich unterhält. Angeregt unterhält. Skandalös angeregt und fröhlich unterhält. Mit einer Frau, die ganz klar aus Stuttgart kommen muss. Sieglinde ist kurz vor 70, ihr kleiner Köter leidet unter Nierensteinen und muss alle drei Monate zum Arzt und ihr Mann putzt mit unendlicher Liebe, Leidenschaft und absurder Hingabe das fahrbare Eigenheim. Und während Sieglinde erzählt, dass sie eigentlich nur 245 Euro Rente bekommt, aber dank des Verkaufes ihres mit 230 Quadratmetern viel zu großen Eigenheims nun durch die Welt, vorzugsweise Spanien, gondeln kann, würzt sie acht Hähnchenkeulen – mehr passen nicht aufs Backblech des mobilen Elektroofens mit Grillfunktion. Ich nehme mich sehr zusammen, aber unter vier in Wut- und Enttäuschungstränen schwimmenden Augen verlange ich von Christian, dass wir auf- bzw. abbrechen. Sofort. Hier kann ich weder entspannen noch arbeiten. Im Gegenteil. Ich befinde mich in akuter Gefahr, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen, weil ich den einen oder anderen Mord begehen könnte. Vorzugsweise an der Putzfrau.
Von Siggi bekommen wir selbstverständlich unsere Kaution und die zweite, im Voraus bezahlte Nacht zurück. Ach, Mensch, Siggi. Sie macht seit vier Jahren einen vermutlich richtig guten Job. Eine quirlige, herzliche Endvierzigerin, die hier schon als Kind war und eigentlich selber eine Parzelle gekauft hat. Die zu dem Job der Campingchefin durch Zufall kam. Die für alle immer zu sprechen ist. Die von Mobbing unter den Dauercampern erzählt, wenn der Winter zu lang ist. Weil so ein Campingplatz, auf dem ganzjährig auf engstem Raum gewohnt wird, am Ende nichts anderes als ein Dorf ist. Siggi, die gute Seele, lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und als ich zu einer Notlüge greife, warum wir doch schon heute fahren müssen, dann nur aus einem Grund: Ich möchte die sympathische Siggi nicht vors Knie treten. Vielleicht ist es auch wegen Marla, diesem hinreißenden Vierbeiner, der sich zum Abschied noch mal anständig kraulen lässt.

Hat alles im Griff: Siggi Hoppe rockt den Campingplatz mit viel Humor, Hündin Marla bleibt entspannt.

Wir verlassen Altfeld um 10.30 Uhr geradezu fluchtartig. Wobei Altfeld stellvertretend für Deutschland steht. Wir haben nach 16 Tagen die Nase voll von deutschen Campingplätzen. Gestrichen voll! Obwohl wir ja wirklich wunderschöne kennengelernt haben. Aber irgendwie ist der Wurm drin. Und dass sich nun auch der vierte Platz in Folge nicht als Ruhetag qualifiziert konnte, lässt nur einen Schluss zu: Wir machen rüber. Nach Holland. Zu den Käsköppen. Dabei muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts mit Holland verbinde außer den üblichen Klischees. (Alles Gute ist wohl nie beisammen und so gibt es bei den meisten Plätzen wohl einen mehr oder weniger sichtbaren Haken. Was für uns gar nicht geht, ist für andere wahrscheinlich vertretbar oder sogar erwünscht. Eventuell wäre die Musik mit Eröffnung des Schwimmbades sogar ganz verschwunden und dann durch den Lärm der Badegäste ersetzt worden. Wir hätten vielleicht etwas genauer zuhören sollen, denn Siggi hatte es gestern angedeutet: Morgen wird das Schwimmbad eröffnet und alle freuen sich schon darauf. Wir sind uns jedenfalls einig, nach 2 erfolglosen Ruhetagsversuchen werden wir keine Unterkunft mehr für 2 Tage am Stück buchen, sondern uns nur noch von Tag zu Tag hangeln.) Dank der musikalisch untermalten Enttäuschung ist meine Laune mies. Richtig, richtig, richtig mies. Geradezu miesmuschelig trete ich in die Pedale, nur nicht zu kräftig. Ich will Christian nicht nerven. Und schon gar nicht der Möglichkeit geben, mich aufzuheitern. Um Himmels Willen! Das wäre ja geradezu albern. Hab mich schließlich sehr sorgfältig in diese düstere Stimmung manövriert. Schafft er dann aber doch. Mich aufzuheitern. Und zwar mehr als das: Er macht mich glücklich. Christian bremst und zeigt nach links. Wüstenschiffe! Braune und weiße. Das kuschelteppichartige (Winter-)Fell, das in langen Fetzen von den riesigen Körpern und dem Höcker hängt. Weiche Lippen, leichter Überbiss, lange Zungen und umflorter Blick – ich bin mal wieder Schockverliebt. Rupfe wie paralysiert ganze Äste von den bereits auf Weidenseite sehr ramponierten Bäume und siehe da, so ein fremdländisches Dromedar hat im Gegenteil zum heimischen Reh keinerlei Berührungsängste. Mit einer an Arroganz grenzenden Selbstverständlichkeit schnappt es das hingehaltene Grünzeug und zermahlt mit allergrößter Gelassenheit sogar die Zweige, als wären sie Grashalme. Die weiße Dromedarlady bekommt schnell spitz, dass es hier eine Extraportion Futter gibt und wankt in gemächlichen, aber zielstrebigen Schritten auf uns zu. Christian ahnt, warnt – mir egal. Ich kann und will nicht widerstehen – für den Bruchsteil einer Sekunde berühre ich das weiche weiße Maul, das wie zum Pfeifen gespitzt ist. Dann löse ich mein Versprechen ein und pflücke weiter Äste. Ein dritter Kollege kommt neugierig dazu. Christian findet ja, es reicht jetzt mit füttern. Sorgt sich um die Magen- und Darmflora meiner neuen Lieblingstiere. Unsinn. Sieht er denn nicht, wie verhungert sie alle aussehen? Wie karg und abgeerntet die Wiese ist, auf der sie stehen? Ich entblöde mich nur mit allergrößter Selbstkontrolle nicht zum Deppenzeptergriff. Dabei hätte ich wirklich sehr sehr gerne ein Selfie mit den drei kuschellippigen Exoten gemacht. Die übrigens durch einen Holzzaun von träge herumliegenden Kamelen getrennt sind. Es fällt mir schwer, die Fütterung einzustellen und mich wieder aufs Rads zu schwingen. Doch auch wenn heute nicht mal 35 Kilometer zu bewerkstelligen sind, ewig können wir nicht hier rumtrödeln. 

R E I Z E N D und absolut verfressen. Zwei von etwa 10 Dromedaren in ihrem Winterquartier.

Irgendwo im Wald ist es dann soweit: Grenzüberschreitung. Wir machen daraus ein Event mit noch mal auf deutscher Seite ins Gebüsch pullern, noch mal in einen deutschen Bananen-Schokoriegel beißen. Auf deutscher Seite erfolglos versuchen, das Rücklicht zu reparieren. Natürlich bestehe ich auf einem Selfie, auch wenn außer zwei roten Bänden, die an Metallpfosten flattern, nichts darauf hindeutet, dass wir mit nur einer halben Radumdrehung von Deutschland in die Niederlande schieben. Dieser Waldteil ist bei aller Romantik irgendwie auch ein bisschen unheimlich, mit diesen Tarnnetzen, die wie ein Zaun linkerhand von uns ein unüberschaubares Stück Wald abtrennen. Sind wir etwa auf militärischem Gebiet? So was Ähnliches, wie wir wenige Minuten später erkennen. Es handelt sich um ein Paintball-Gebiet. Zur Erklärung für den geneigten Leser über 25: Ein besonders beim Testosteron gebeutelten Teil der Bevölkerung hoch im Kurs stehendes Kriegsspiel, bei dem der Gegner mit Farbkugeln beschossen wird. Kann man cool finden oder auch lassen. In diesem Teil der Niederlande geht Paintball offensichtlich knapp am Breitensport vorbei. Bevor es in Vergessenheit gerät: Unser künftiger Herbergsvater hat uns am Abend noch aufgeklärt: Das, was wir als Grenze identifiziert haben, ist eine ehemalige Kiesgrubbe. Grenze hin oder her, die verwunderten Blicke die wir geerntet haben, sprechen Bände: Wundervolle Straßen und Radwege haben wir hier in den Niederlanden und ihr Deppen schiebt durch ’ne Kiesgrubbe. Na logisch, warum leicht, wenn es auch kompliziert geht? Mein wunderbarer Tourguide hat mir versichert, in den Niederlande ist Camping für nen Appel und n Ei zu kriegen, sprich um die 10 Euro pro Nacht. Aha. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass genaue Recherche sinnvoller ist, als ein nicht durch Daten verifiziertes Wunschdenken. Trotzdem. Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Von denen haben wir aber quasi keine gefunden. Dein wunderbarer Tourguide hat sich aber auch eingebildet, Deutschland wäre das teuerste Land der Welt und die Niederlanden so von Campingplätzen übersät, dass die praktisch alle in Konkurrenz zu einander stehen und sich somit im Preis unterbieten. Aber nix da. Wir verlassen also das Paintballgebiet, fahren vorbei an einer Art Ferienpark mit Holzbungalows, passieren diverse Wiesen, diverse Gewächshäuser, viele Wiesen mit grasenden Kühen oder Schafen, fahren vorbei an einem Morast, sind entzückt von der großartigen Beschaffenheit der Radwege, der Architektur, der liebevollen Gestaltung der Vorgärten, der freundlichen und uns Radler respektierenden Autofahrer, dem Grün der Wiesen, Felder und Wälder. Klingt verliebt? Jo. Auf den ersten Blick quasi. Hmm, hoffentlich merkt bei Deiner wundervollen Aufzählung niemand, das es “quasi” nur 4000 Meter bis zur Herberge waren.

Kurz vor dem Hopser rüber nach Holland. Die Grenze hier geht durch eine ehemalige Kiesgrube.

Bei aller Begeisterung bekommen wir dennoch schnell einen Dämpfer, denn es erweist sich als komplizierter, ein geeignetes Fleckchen Rasen für unser Zelt zu bekommen, als angenommen. Der erst beste Platz ist zwar wie von Christian vorhergesagt ziemlich preiswert (13 Euro für zwei Personen inkl. Zelt), bietet aber weder Atmosphäre noch Sitzmöglichkeiten. Für unseren Ruhetag fehlen also zwei grundlegende Voraussetzungen. Weiter geht’s. Wir versuchen es bei einem am Waldrand gelegenen B&B – leider ausgebucht. Mal nebenan probieren, der vermietet auch. Der geneigte Leser ahnt es schon: Auch hier kassieren wir eine Absage. Eine freundliche zwar, aber eine Absage. Es ist noch relativ früh, gerade mal 15 Uhr, also machen wir uns keine großen Sorgen und radeln munter weiter. Hach, was ist es reizend bei den Niederländern. Alles wirkt frisch und ordentlich und liebevoll und dabei gleichzeitig auf charmante Art traditionell. Eine gelungene, unaufdringliche Mischung aus Bauernhof und modernem Einfamilienhaus begegnet uns mehrfach und selbst was bei uns unter Reihenhaussiedlung fallen würde, hat hier seinen besonderen Charme. Begründet in den roten Backsteinen, den weißen Fenstern, den bunten Gärten und den Straßen, die meist auch aus rotem Ziegel gepflastert, statt Schwarz geteert sind. 

Schon gut. Das hier soll ja keine Werbebroschüre für die Niederlande werden. Also, wir erreichen nach 33 Kilometern Arcen. Auf der linken Seite eine Gastwirtschaft, die sicherlich schon seit den 60er Jahren existiert. Christian klingelt, versucht durch die Scheiben zu gucken, klopft. Niemand öffnet. Ich schaue die Fassade skeptisch hoch – sehr kleine Fenster. Das sieht nach dunklen Zimmern aus. Innerlich hake ich diese Unterkunft schon ab. Da wird Christian von einer kurzhaarigen Holländerin angesprochen. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Seite bei den Rädern, sehne mich nach einer Zigarette, und sehe: Da passiert gerade etwas Entscheidendes. Und richtig. Annika hat mal in dem Restaurant gearbeitet, und winkt uns ihr zu folgen. Links ums Gebäude rum, an einer kleinen Terrasse unter einem uralten Baum vorbei, noch ein Stück weiter. Ein Kiesweg, ein halb geöffnetes, schwarzglänzendes Metalltor und da kommt Frans. Schüttelt uns freundlich die Hand, begrüßt uns mit reizendem Rudi-Carell-Akzent, zeigt uns ein kleines, auf den ersten Blick tatsächlich dunkles Zimmer mit angrenzendem Bad. Wir mögen den jungenhaft aussehen Holländer auf den ersten Blick, entscheiden uns mit einem wortlosen Zunicken für das Zimmer. Auch wenn 60 Euro nicht gerade ein Schnäppchen sind, schlagen wir ein. Immerhin ist ja Frühstück dabei. 

Frans fragt, was wir trinken möchten und bringt eine Fanta und einen Apfelsaft, während wir durch den Rosenbogen in die quadratische, mit alten Bäumen und Büschen umwachsene Oase treten und denken: Ja, alles richtig gemacht. Frans ist unaufgeregt, unaufdringlich und wir dürfen unsere Räder in seinem Schuppen unterstellen. Er gibt uns den Schlüssel, fragt, wann wir frühstücken wollen und verschwindet dann, weil er für seine Frau kochen muss – wie er mit einem Augenzwinkern sagt. 

Quadratisch, idyllisch und ruhig: Der von Frans’ Vater angelegte Garten in Arcen ist ein Traum.

Die Stille des Gartens, die späte Sonne – wir sind glücklich. Weil wir ein bisschen auf unsere Tourkasse achten wollen, koche ich aus dem, was wir noch haben, unser Abendessen im Garten. Es fühlt sich ein bisschen wie zuhause an, hier bei Frans. Um 21 Uhr falle ich vollkommen erschöpft ins Bett. Herrlich! Ein richtiges Bett mit frischer Bettwäsche, einem fluffigen Kopfkissen. Obwohl ich eigentlich noch eine Runde schreiben wollte oder wenigstens das obligatorische Megakniffel im Kopf hatte, stehe ich nicht mal mehr zum Zähneputzen auf. Ich falle in den tiefsten Schlaf seit 20 Tagen und brauche nicht mal Ohropax.
Frans hat uns sogar seinen Garten zum Campen angeboten, falls uns das Zimmer zu teuer sein sollte. Frans, falls du wie versprochen liest: Danke, du bist ein wunderbarer Kerl!!!

Spätes Abendessen, fast wie zuhause im eigenen Garten.

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