Wir haben es gewollt, getan und geschafft: Wir waren mit dem Rad in der belgischen Mittelaltermärchenstadt Brügge. Trotz Übergewicht, trotz Diabetes, trotz Uralt-sein. Wir lassen uns immer wieder die Zahlen auf der Zunge zergehen, schreiben sie mit Kugelschreiber auf einen Zettel, um schwarz auf weiß nachlesen zu können, was so viele Glücksgefühle in uns ausgelöst hat und immer noch auslöst: Insgesamt 78 Stunden und 10 Minuten saßen wir auf unseren schwarzen Brooks-Sätteln, sind in 25 Tagen flotte 1275 Kilometer geradelt. Haben auf 17 verschiedenen Campingplätzen, in einem Hostel, in einer Pension, in einem Fass und in einer Gartenhütte geschlafen. Haben insgesamt € 701,75 nur für Übernachtungen ausgegeben, weitere 45 Euro für Wäschewaschen und –trocknen.
Und doch. Diese Zahlen, Fakten und Daten sind nicht nur unvollständig (wir haben keinen Überblick, wie viel wir eigentlich für notwendige Nahrungsmittel, wie viel für Luxus in Form von Essen gehen, Kaffee unterwegs, Eis und Süßigkeiten draufgegangen sind). Sie können nicht mal im Ansatz vermitteln, welch fantastisches Abenteuer wir als Liebespaar und gleichzeitig als Team erlebt haben. Wie viel unfassbare Freude, wie viel nervigen Frust, wie viel von sämtlich denk- und vorstellbaren Gefühlsachterbahnen wir gemeinsam durchlebt haben.
Ja, das musst du auch erst mal bringen, 24/7 miteinander sein zu wollen – und zu können. Auf engstem Raum. Vollkommen aufeinander angewiesen. Bereit, absolut zu vertrauen, Kontrolle abzugeben. Und gleichzeitig zu 100 Prozent Verantwortung zu übernehmen. Für sich selber und für den anderen. Es ist erstaunlich, wie leicht es war. Und das bei aller Anstrengung. Wir haben diese Tour gemeistert und genossen. Es gab keinen einzigen Moment, an dem einer von uns dachte: Schnauze voll. Feierabend. Abbrechen. Ab nach Hause. Obwohl es immer als Option existierte, haben wir sie nie in Betracht gezogen. Gemeinsam Brügge zu erreichen war unser Ziel und dieses Ziel haben wir erreicht. Manchmal mit Hängen, manchmal mit Würgen. Aber interessiert das am Ende noch irgendjemanden? Nö.
Ja, es war zwischendurch anstrengend. Arschanstrengend. Mehr als einmal bin ich über meine physischen wie auch psychischen Grenzen gegangen. Mehr als einmal habe ich vollkommen die Kontrolle über meine Gefühle verloren. Und mehr als einmal hat Christian mich so motiviert, dass ich Kräfte mobilisieren konnte, von denen ich nur heimlich, still und leise gehofft habe, dass sie tatsächlich existieren. Und vermutlich ist das das Geheimnis dieses Erfolges, dessen universelle Gültigkeit ich nicht scheue zu behaupten: Jede Herausforderung, der man sich gemeinsam oder alleine stellt, fordert vor allem eins: Nicht aufgeben. Niemals. Und wenn man sich zusammen in welches Abenteuer auch immer stürzt, dann braucht es Verständnis für einander. Ist es wichtig, sich gegenseitig Mut zu machen, sich zu motivieren, einander blind zu vertrauen. Kann man übrigens alles lernen. Ehrlich.
Naja, und jetzt sind wir zurück und staunen immer noch, wie zufrieden Minimalismus machen kann, wie frei und entspannt es sich mit dem absolut Nötigsten reisen und am Ende eben zumindest zeitweise leben lässt. Und wir wurden verdammt genügsam: Pro Toilettengang maximal vier Blättchen Klopapier, statt einer halben Rolle. Wie kreativ wir wurden? Ich skandiere fröhlich: Socken zu Armschonern! Mülltüten zu Weinkühlern! Spanngurte zu Wäscheleinen! Sparsam waren wir vor allem bei Postkarten – gerade mal vier haben wir geschrieben und verschickt. Sorry an all, die keinen schriftlichen Gruß von uns bekamen.
Was bleibt eigentlich nach so einem Abenteuer? Schwielen am Hintern? Ja. Oberschenkel, die die Jeans zum platzen bringen? Jau. Waden, um die dich jeder Fußballer beneidet? Ja, auch. Aber vor allem bringt es das Wissen und die Gewissheit: Es gibt keine Hürde, die man nicht nehmen kann. Es gibt immer eine Lösung. Das Wichtigste, was bleibt, sind für mich allerdings diese zwei Fragen: Wohin beim nächsten Mal? Wann geht’s wieder los? (Beide Fragen sind übrigens bereits beantwortet).
Ja, Christian hat mich angesteckt. Jetzt bin auch ich süchtig nach weiteren Radtouren. Zähle ich sehnsüchtig die Wochen und Monate, bis die Räder wieder bepackt und abfahrbereit im Hof stehen. Es wäre gelogen zu behaupten, die Tour war ein einziges Fest. Sie war mitunter tierische Quälerei. Aber sie war eben auch großartig, einmalig, nicht wiederholbar. Und doch! Mitte Mai 2019 werden wir definitiv nicht, wie ursprünglich gedacht, in den Flieger nach Kuba steigen, sondern uns aufs Rad schwingen. Und dann heißt es wieder: Klingo-Castle – Couchpotatos on Tour.
Herzlich Willkommen
Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.
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TINA
siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
Christian
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Heute ist es endlich soweit und ein weiterer Höhepunkt der Tour steht an: Ein Regentag!
Auch wenn es mit Mary und Robert echt lustig und gemütlich ist, aber direkt nach dem Aufstehen den Hasen dabei zu beobachten, wie er mal wieder Kinder für das gemeinsame Spaßprogramm einsammelt, ist einfach zu viel! Ich denke, Rattenfänger von Hameln, und bin schon wieder fassungslos, ob der dröhenden Musik und der vor Begeisterung kreischenden Kinder, die dem wild winkenden Hoppler hinterherrennen. Ich bin heute wieder einmal viel zu früh wach. Der Husten und die einsetzende Sonne treiben mich aus dem Zelt, und so beschließe ich, noch ein bisschen Schreiberei hinter mich zu bringen. Es ist kurz nach 6 und auf dem Campingplatz herrscht noch Ruhe und Frieden. Von den angekündigten Kinderlärm haben wir heute Nacht nichts mitbekommen, was eventuell daran lag, dass Tina während meiner gestrigen Dusche kurz bei deren Eltern um ein bisschen Ruhe gebeten hat. Mary erzählte, dass die junge Generation Camper offensichtlich keine Ahnung hat, wie man sich auf einem Campingplatz benimmt. Wie? Naja, Rücksichtnahme, ab 22 Uhr ist eben Platzruhe und dann wird geflüstert, statt lautstark die Kinderentwicklung diskutiert. Also bin ich direkt zu unseren Nachbarn – drei deutsche Elternpaare, alle um die Ende 20, Anfang 30 -, und habe sie mit gesenkter Stimme darauf aufmerksam gemacht, dass man jedes Wort im 10 Meter entfernten Zelt hört… Puh, manchmal komme ich mir vor wie Else Kling. Während ich schwer ins Schreiben vertieft bin, bemerke ich kaum, dass sich der Himmel langsam zuzieht. Erst als die ersten Tropfen aufs Display fallen, erkenne ich den Ernst der Lage und spurte zum Zelt, um einige vor dem Eingang verstreute Dinge in Sicherheit zu bringen. Kaum ist alles weg, hört auch der Regen auf. Trotzdem ist es noch immer viel zu früh, um Tina zu wecken und so nehme ich das Tablet, um einen erneuten Schreibversuch zu unternehmen. Gegen 8 beschließe ich, die Blogerei ab jetzt langweilig zu finden und schleiche vorsichtig ans Zelt, um mal nach meiner Dame zu schauen. Diese sitzt bereits zwar noch etwas zerknautscht im Zelt, hat aber übermütig gute Laune. Zumindest bis zum großen Auftritt von Koos Konijn – dem dusseligen Nervhasen. Was für die meisten Eltern hier wahrscheinlich toll ist, haben sie doch jetzt ein bisschen Zeit für sich, nachdem das verlauste Viech ihre Kinder adoptiert hat, ist für uns eher grenzwertig. So lässt auch mein Husten spontan nach und ich fühle mich superfit und unglaublich ausgeruht für die heutige Etappe. Noch eine Nacht werde ich hier auf keinen Fall verbringen!
Ein weiteres Mal kündigt sich Regen an und ich dränge darauf, das Zelt abzubauen und die Räder fahrfertig zu machen. Ist erst einmal alles in den Taschen, stört mich der Regen nicht mehr sonderlich, denn einen Unterschlupf für sich selbst findet man zum Glück fast überall. Robert und Mary laden uns derweil zu einem letzte Tee bzw. Kaffee ein und beginnen ihrerseits ebenfalls mit den Abbauarbeiten. Sie wollen heute weiter nach Domburg, wo sie einen lang ersehnten Platz auf einem Campingplatz ergattern konnten. Wir sind zum Frühstück bei Mary und Robert eingeladen, aber irgendwie kriegen wir das nicht gebacken. Zwischen Artikel-schreiben und Räder zusammenpacken passt kein entspanntes Tee- bzw. Espresso-trinken. Und dann beginnt es auch schon zu tröpfeln. Eine herzliche Verabschiedung und das Versprechen in Kontakt zu bleiben später setzen wir uns auf unsere Räder und fahren zur Ausfahrt, nur um 30 Sekunden später von einem einsetzenden Regenschauer unter das Vordach der an den Platz angeschlossenen Imbissbude gezwungen zu werden. Das hat auch einen Vorteil, können wir doch Mary und Robert beim Verlassen des Platzes eine halbe Stunde später noch einmal zuwinken. Unsere Abfahrt hat sich auf 13 Uhr verschoben, und meine gute Laune wird vom Regen weggewaschen. Als sich die ersten verzweifelten Strandbesucher ebenfalls unter dem Dach in Sicherheit bringen und es langsam aber sicher voll zu werden droht, lässt der Regen endlich soweit nach, dass wir beschließen, die Strecke in Angriff zu nehmen. Unser Glück hält auch sagenumwobene fünf Minuten an, bis der Regen mit einer ungeahnten Heftigkeit zurückkommt und wir auf einem leeren Parkplatz erst einmal die Zeltplane über unsere Köpfe ziehen müssen, um nicht binnen kürzester Zeit komplett durchnässt zu werden. Das ist zwar schon irgendwie gemütlich, aber für unsere Tour ein bisschen hinderlich.
Ab jetzt kennt das Wetter keine Gnade mehr und unterscheidet sich lediglich in der Intensität des Regens. Ein stetiger Wechsel zwischen viel und sehr viel zwingt uns während des Fahrens immer wieder dazu, zu pausieren und unseren Kleidungsvorrat anzufassen, um uns eines trockenen Shirts oder einer wärmende Jacke zu bedienen. Ich habe mal wieder etwas gefunden, um meine schlechte Laune zu verdoppeln. Die Regenjacke! Teuer bezahlt, vom gleichen Ausstatter wie unser großartiges, wunderbares Zelt und meine grandiosen Radlerhosen – VAUDE – versagt, wie eine teure Regenjacke nur versagen kann. Ich werde nass. Klitschnass. Und immer ruhiger. Zum Ausflippen ist es einfach zu ungemütlich und zu kalt. Zu allem Unglück führt uns die Karte auch noch ein wenig an der Nase herum und gibt uns keine Möglichkeit, meine Schlamperei beim morgendlichen Planen in irgendeiner Form zu kompensieren. Wir fahren im Zickzack und fliehen zwischendurch mal unter das Dach einer Tankstelle, mal unter das Vordach einer örtlichen Pflegestation. Auch auf die radreisefreundlichen Öffnungszeiten der Supermärkte ist hier kein Verlass und somit fällt eine Verpflegung für das heutige Abendessen auch ins sich inzwischen überall sammelnde Regenwasser. Zu all der Ungemütlichkeit kommt tatsächlich der scheinbar unzerstörbare Humor meines Chef-Navigators. Er ist offensichtlich krank – was er übrigens ziemlich gut runterspielen kann, sodass mir gar nicht bewusst wird, wie angeschlagen er tatsächlich ist – und trotzdem nicht verlegen um ernsthaft doofe Sprüche wie: „Nur wer mal einen Tag im Regen gefahren ist, kann von sich sagen, ein echter Reiseradler zu sein.“ Oder: „Das lässt sich prima erzählen, zuhause, in ein paar Wochen. Dann lachen wir drüber.“ Äh, ‘tschuldigung, dass mich dieser Aspekt gerade kein bisschen interessiert.
In der kleinen Stadt Serooskerke lässt das Wetter dann endlich von uns ab und wir beginnen an der Erreichbarkeit des heutigen Zieles zu zweifeln. Seit der Verabschiedung von unseren beiden Münchnern Campern sind inzwischen dreiStunden vergangen und wir haben gerade einmal 22 Kilometer geschafft. Weitere 45 Kilometer sind unser beider Meinung nach illusorisch, zumal wir dringend zumindest einen Wäschetrockner bräuchten, um die ganzen durchgeweichten Klamotten wieder irgendwie nutzbar zu machen. Also planen wir kurzerhand um und entscheiden uns, nach den guten Erfahrungen des letzten Platzes, noch einmal für eine Naturkämperei in ca. 10 Kilometern Entfernung. Einmal mehr ist es überraschend, dass sämtliche Distanzen unter 30 Kilometer wie ein Katzensprung erscheinen. Und sogar 30 Kilometer und mehr wirken nicht mehr bedrohlich oder auch nur irgendwie vorauseilend erschöpfend. Und wahrlich, es ist auch ein toller Platz, der uns nach dem Durchfahren des wunderschönen, fast mittelalterlichen Örtchens Veere erwartet. Ich möchte zum Campingplatz und dann mit trockenen Füßen zurück nach Veere. Ja, vermutlich wieder mal Touri-Nep, aber die vielen kleinen Cafés und geöffneten Geschäfte wecken eine Sehnsucht in mir, wie bislang nicht einmal auf der Fahrt. Ich sehe mich schon kleine Mitbringsel erbeuten…
Es gibt hier Natur so weit das Auge reicht, Duschen und auch ein paar Toiletten. Nur eine Waschmaschine und einen Trockener gibt es leider nicht. Aber gerade heute ist beides unerlässlich und so ziehen wir schweren Herzens wieder von dannen, um nach einem anderen Platz Ausschau zu halten. Eine Sache will ich allerdings noch wissen: Wie teuer ist diese Campingoase eigentlich? Da es hier keine klassische Rezeption gibt, sondern nur einen Automaten, an dem man seine Übernachtung buchen kann, versuche ich zumindest theoretisch einmal eine Übernachtung zu erstehen. Als der Automat von mir theoretische 37 € verlangt, falle ich fast in Ohnmacht. Dann kaufe ich lieber ein paar Kisten Krombacher und rette den Regenwald damit. Der Platz ist wirklich ein Traum. Mitten im Wald gelegen, ein Teich, der schon beinahe See ist; ein verzweigter Bachlauf, über den Holzbrücken führen; kleine Lichtungen, auf denen man sein Zelt genauso wie sein Wohnmobil stellen kann. Und dann kommt da noch dieses ziemlich alte Radler-Pärchen. Sie filmt ihn, als er auf den Platz fährt. Zwei, die mit Sicherheit seit Jahrzehnten regelmäßig mit Rad und Zelt unterwegs sind. Zu gerne hätte ich ein paar Geschichten von ihnen erfahren. Nach ein paar weiteren Versuchen, einen Campingplatz zu finden, der nicht unverschämt teuer ist, werden wir in endlich in dem kleinen, ebenfalls sehr touristischen Ort Vrouwenpolder fündig. Hier können wir für einen erschwinglichen Betrag unser Zelt aufschlagen und sowohl die Waschmachine als auch den Trockner benutzen. Der Betreiber verlangt gerade mal 22 Euro und dann ist da ja noch sein zweijähriger Schäferhund, der sich hingebungsvoll den Bauch kraulen lässt und liebevoll mein Handgelenk zwischen seine strahlend weißen Zähne nimmt und überhaupt schrecklich albern ist. Wo ein Köterkind rumrennt, da können wir uns entspannen. Trotzdem sind wir ein bisschen deprimiert. Denn dafür, dass wir gerade einmal die Halbinsel durchquert haben, haben wir insgesamt über 5 Gesamtstunden gebraucht und dabei lediglich eine Strecke von 42 Kilometern zurückgelegt. Hast du nicht gesagt, Luftlinie haben wir gerade mal 15 Kilometer überbrückt? Während wir die Wäsche waschen, kocht Tina uns aus unseren letzten nahrhaften Vorräten noch ein leckeres Abendessen und irgendwie fühle ich, dass mir die Puste ausgeht…
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TINA
siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
Christian
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Es ist Samstag der 26.05.2018, ca. 17:30 Uhr und wir stehen mit vor Schrecken geweiteten Augen an der Rezeption eines Campingplatzes und müssen mit ansehen, wie ein 1,70m großer Hase auf der Ladefläche eines Golfwägelchens und mit ohrenbetäubendem Lärm abtransportiert wird. Nein, das ist keine Nagetierbekämpfung, das ist Tierquälerei allererste Güte!
Stunden früher.
Ich bin ziemlich angeschlagen und ein hartnäckiger Husten hält mich fest in seinem Griff. Keine gute Ausgangsposition für die anstehende Tagesetappe, die uns in Richtung des Amsterdamer Bahnhofs und damit in wenigen Tagen wieder nach Hause bringen soll. Aber die Sonne gibt sich nach ihrem gestrig eher schwachen Auftritt heute richtig Mühe und scheint uns geradezu auffordern zu wollen, wieder aufs Rad zu steigen, um Brügge zu verlassen. Gestern Abend hatten wir noch kurz überlegt, ob wir nicht doch noch den Brügger Belfried besteigen sollten, aber ich würde heute Morgen schwächebedingt lieber passen Wir hätten einen vermutlich sensationellen Blick über Brügge gehabt. Aber für insgesamt 24 Euro? Och nö. Die geplante Etappe wird schon noch anstrengend genug. Auch Tina ist nicht sonderlich gut drauf, denn eine junge spanische Dame hat ihr mit ignoranten und unfreundlichen Art ein bisschen die Laune verhagelt. Lediglich eine mittelalte Salzburgerin scheint heute Morgen noch auf unserer Seite zu stehen, wenn auch das einzige, was uns zu verbinden scheint ist, dass wir vermutlich alle drei inzwischen das inoffiziell zulässige Hostelalter überschritten haben. Hinzu kommt, dass die Spanierin gestern Abend mit einer kompletten Reisegruppe eingetrudelt ist, während wir wahrscheinlich inzwischen zu lange nur mit uns allein waren. Ich kenne Spanier als fröhlich, herzlich und zugewandt. Daher irritiert mich das perfektionierte Zickengehabe dieser Seniorita noch vor dem Frühstück – sie überprüft mehrfach schmollmundig den Sitz ihrer langen Haare im Handy, wirft mir immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzende Blicke zu, reagiert auf mein zaghaftes Lächeln mit Augenverdrehen. Das ganze dämliche Stutenbissigenprogramm, während ich Trockenfrüchte schnipple.
Während Tina heute Morgen noch schlief, habe ich mich erstmals auch theoretisch mit Brügge beschäftigt und noch ein paar interessante Fakten recherchiert. Und Anderem, dass auf dem, die Ostseite der Stadt umgebenen Deich, noch einige intakte Windmühlen stehen sollen und so beschließe ich, dass unser Weg aus der Stadt heraus ein anderer sein wird, als in die Stadt hinein. Ich möchte nicht noch einmal durch das Tourigedränge, das ohne Zweifel auch jetzt um halb 11 schon eigesetzt hat, und wähle den kürzesten Weg aus der Innenstadt hinaus, auch wenn dieser der längste ist, denn man einschlagen kann, um nach Norden und damit auf den Nordseeküsten-Radweg zu gelangen. Also geht es erst einmal nach Süden, um dann die Stadt in östlicher Richtung zu umfahren. Und so kommen wir dann nicht nur an den Windmühlen, sondern auch noch am sogenannten Minnewater vorbei, auf dem zahlreiche Schwäne ihr Dasein fristen. Da ich die Legende sehr interessant finde, ernenne ich mich spontan selbst zum Stadtführer und egal, ob Tina sie hören möchte oder nicht, klugscheißere ich sie trotz des dichten Verkehrs einfach so vor mich hin. Tina musste die lange Version ertragen, ihr bekommt die kurze:
Ein Verschwörer gegen den damaligen König hieß Pieter Lanchals (auch Lankhals genannt) und als die Verschwörung aufflog, wurde er nicht nur gefoltert und geköpft, nein vielmehr hat der damalige König Brügge dazu verurteil, dass an dieser Stelle auf ewig Schwäne, oder eben Langhälse, zu halten sind. Ist zwar schon 520 Jahre her, aber die Brügger scheinen sich daran zu halten.
Ich mag ja immer eher directors-cut-versions, die ich selber nie zu Gehör bringen kann, weil ich ständig Details vergesse.
Ich weiß nicht, ob die Tina die Geschichte wirklich gefallen hat – Unbedingt! Habe nur leider schon nach 10 Kilometern wieder die Hälfte vergessen-, denn sie macht ein bisschen den Eindruck, fliehen zu wollen und beschließt auf Grund ihrer Ungeduld, nicht auf das Herablassen einer uns jetzt blockierenden Klappbrücke warten zu wollen und einen anderen Flussübergang zu suchen. Ich bin nicht ungeduldig, sondern genervt. Viel zu viele Eindrücke, zuviel Krach, zuviel Gedränge, zuviel Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, zuviel von allem, was gemeinhin Zivilisation genannt wird. Zwar finden wir diesen, jedoch bringt er uns etwas von meinem geplanten Weg ab und somit verfehlen wir den Kanal, der uns zum Radweg bringen soll um einige hundert Meter. Trotzdem, erst einmal raus aus der Stadt und dann sehen wir weiter. Was soll schon schief gehen? Wir halten uns Richtung Norden und da kommt in wenigen Kilometern Küste und zur Küste wollen wir ja sowieso.
Als ich merke, dass wenige Kilometer doch ziemlich lang sein können, erbitte ich mir einen kurzen Stopp um das Navi befragen zu dürfen und stelle fest, dass nach Norden gar nicht mal soooo richtig ist. Wir hätten eigentlich eher gen Nord-Ost gemusst. Tinas Ungeduld hin oder her, mir ist bereits heute Morgen bei der Routenplanung ein grober Fehler unterlaufen und so stehen wir jetzt irgendwo in einem Brügger Vorort und versuchen uns zu orientieren. Zum Glück kommt uns ein niederländischen Pärchen entgegen, das uns davon erzählt, in dieser Ecke schon länger regelmäßigen Urlaub zu machen. Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt ein holländische Radl-Pärchen daher. Und nein, nach Brügge fahren sie nicht hinein – zu viele Touristen. Allein heute Vormittag kommen in Seebrügge (ein offizieller Stadtteil der Märchenstadt) 2 Kreuzfahrtschiffe an, die 4000 neue potentielle Pralinenkäufer, Museumsbesucher und Straßenbefüller für einen Tagesbesuch auskotzen werden. Das muss man sich mal vorstellen: 4000!!! und das zusätzlich zu der spanischen Reisegruppe in unserem Hostel. Und okay, und auch die Reisegruppen der anderen 200 Hotels und Hostels und Pensionen. Privatzimmer noch nicht einmal mit eingerechnet. Man muss ja nur ein bisschen hilfesuchend wirken – zack! Hält jemand. An diesem Morgen steht uns die Rat- und Orientierungslosigkeit echt auf der Stirn geschrieben. Und die beiden Endsechziger haben echt Freude, uns weiterzuhelfen. Wir sollen immer geradeaus fahren und dann stoßen wir automatisch auf den LF1 Richtung Amsterdam. Wir haben uns also quasi gar nicht wirklich verfahren – wunderbar.
Um hier auch noch einmal die mühsam gesammelten Fakten wirken zu lassen:
Tina schrieb gestern das 118.000 Einwohner in Brügge leben. Das stimmt zwar, aber davon wohnen nur lediglich 20.000 in der Altstadt, die an “guten” Tagen gern einmal die doppelte Menge an Touris zu bespaßen versucht. Gründe für die „nur“ 20.000 – wir erinnern uns: Mietwucher.
Zu unserem Glück hatten die Niederländer eine Ausschilderung zum gesuchten Radweg in etwa 3 Kilometer im nächsten Ort gesehen. Wir bedanken und verabschieden uns höfflich und setzen unseren Weg immer noch in Richtung Norden fort. Und tatsächlich, nach wenigen Kilometern ist er endlich ausgeschildert: der LF1! Dieser Weg wird zwar kein leichter sein, soll uns aber ab hier innerhalb der nächsten 4 Tage bis in die Holländische Hauptstadt führen führen. LF1 bedeutet Landelijke Fietsroutes und meint den niederländischen Abschnitt des Nordseeküstenradwegs.
Sicher kann sich jeder denken, dass es sozusagen die Kernkompetenz eines Radfernweges ist, seinen Benutzer in die Verzweiflung zu treiben. Denn statt uns direkt und auf gerade Linie nach Nordosten zu führen, geht es jetzt erst einmal quer über alle Himmelsrichtung, durch uns inzwischen gut bekanntes und schmuckloses belgisches Hinterland, bis wir an dem Kanal ankommen, der uns zwei Tage zuvor in die gelobte Stadt geführt hat. “Kanäle können sie die Belgier”, geht es mir erneut durch den Kopf. Denn ab hier ist das Radfahren wieder eine große Freude, auch wenn wir nun natürlich nicht mehr auf unseren wundervollen Pappel-Kathedralen-Kanal abbiegen können. Dennoch ist das Fahren hier um einiges angenehmer als auf den zu engen Landstraßen. Wir kommen gut voran und sind bereits nach 2 Stunden in der ehemaligen Festungsstadt Sluis in den Niederlanden.
Leider will sich heute bei mir kein richtiges Fahrgefühl einstellen. Irgendwas steckt mir in den Knochen und die vorhin hochgelobte Sonne brennt inzwischen wieder erbarmungslos. Hinzu kommt ein kräftiger Ostwind, der uns die Tage zuvor wunderbar als Rückenwind diente, heute aber jeden Kilometer zu verdoppeln scheint.
An einem Wegweiser kurz hinter Sluis müssen wir uns dann entscheiden. Fahren wir den direkten, aber vermutlich langweiligen Weg nach Breskens, von wo uns eine Fähre nach Vlissingen, unserem heutigen Tagesziel, bringen wird. Oder folgen wir dem LF1, der laut Karte mit einer Küstenführung seine Aufwartung macht? Natürlich entscheiden wir uns für den Umweg… Was ist schon ein bisschen Umweg, wenn du direkt mit Blick aufs Meer fahren kannst? Ok, menschenleerer Strand ist anders. Aber dafür kannst du junge Menschen beim Bier-Staffellauf bewundern. Was Bier-Staffellauf ist? Ich behaupte, eine typisch holländische Kombinationsdisziplin für Menschen zwischen 16 und 25. An dieser Stelle also unser Spieletipp des Tages: Zwei Mannschaften, 20 Meter Strandabschnitt, jede Menge Bier, ein Schiedsrichter. Fertig ist die sportliche Spaßaktion, die uns irgendwie auch ein bisschen Respekt abverlangt. Hey, wer rennt schon bei 32 Grad in praller Sonne barfuß um die Wette, ext eine Flasche Bier, galoppiert durch den heißen Sand zurück, schlägt ab und wartet, bis er ein zweites Mal in die Spur geschickt wird? Richtig – die Holländer.
Wir und, huch, es ist Samstag, eine Millionen anderer Radfahrer. Immer wieder landen wir so in Grüppchen voller Rentner, Familien oder sonstigen Bummlern, die sich hier eine Erholung von der anstrengenden Woche auf der Arbeit in der Schule oder beim Arzt genehmigen wollen. Natürlich zu Recht, aber des einen Freud ist eben des anderen Leid. Und so stören wir uns besonders an den E-Biker, die exakt 18 Stundenkilometer schnell über längere Strecken fahren. Sie behindern unseren Fahrfluss erheblich, denn bergauf überholen sie uns, nur um dann direkt eine Nasenlänge vor uns zu “flanieren” und bergab machen sie sich so breit, dass man nur geringe Chancen hat, im Gegenverkehr an ihnen vorbeizuziehen. Irgendwie nicht weniger ignorant als SUV-Fahrer. Sehr sehr bedenklich… Schafft man es dann doch, kommt die nächste Düne und das Spiel geht von vorn los. So erreichen wir zwar das erste Mal nach 1100 Kilometern die Nordsee, können uns aber ob des hohen Verkehrsaufkommens nur so wenig daran erfreuen, dass wir den vermeintlich schöneren Radweg nach einigen Kilometern aufgeben und den Wochenendradlern das Feld überlassen. Wir ziehen uns zurück auf die parallel zum Strand verlaufende Küstenstraße, beziehungsweise auf deren Radweg. Die hat zwar keine so geile Aussicht, aber dafür sind wir raus aus der kräftezerrenden Massenveranstaltung auf der Düne. Darf ich mal fragen, wo die eigentlich alle herkommen, dieses Touris?
Da der Radweg sich nur gelegentlich mit dem LF1 überschneidet und uns die Dünen außerdem vor dem inzwischen recht böigem Wind schützen, kommen wir somit trotz Wind und Hitze ganz gut voran und erreichen um 14.35 Uhr den Fährhafen in Breskens.
Beim Kauf der Tickets erklärt mir die nette Verkäuferin, dass wir uns beeilen sollen, denn die Fähre legt in 2 Minuten ab. Na klar, inzwischen sind wir die Ruhe selbst und werden zum hetzen gezwungen! Aber eine weitere Stunde am Hafen wollen wir dann auch nicht warten, zumal sich Mary und Robert gerade gemeldet haben, und uns auf ihren Campingplatz in Dishoek eingeladen haben. Sie schreiben auch, dass wir sogar ihre Parzelle mitnutzen können, ihr Wohnwagen benötigt ja nur wenig Platz. Da wir uns sehr über das Wiedersehen freuen, sagen wir spontan zu und ich prüfe auf der Karte die Strecke. Nur noch wenige Kilometer und der Campingplatz liegt direkt am LF1. Wenn Google ihn nicht ausdrücklich als Familiencampingplatz angepriesen hätte, wäre er perfekt. Aber es ist egal, für eine Nacht wird es schon gehen und da ich mich inzwischen schlapp und krank fühle, bin ich zufrieden, keinen weiteren Platz suchen zu müssen und vor allem, nach ein paar Kilometern das Ende des Fahrtages zu wissen.
Also legen wir einen kleinen Spurt ein, erreichen die Fähre in dem Moment, als die Männer die Leinen losmachen wollen und können uns tatsächlich noch einen Platz im Bauch des Stahlriesens sichern. Auch wenn diese hektischen Spurteinlagen immer ein bisschen doof sind, so freuen wir uns doch jedes Mal wie Schneekönige, wenn wir sie erfolgreich gemeistert haben. Ich bin total dankbar, dass auf uns gewartet wurde. Denn wenn wir ehrlich sind: Wir haben länger als zwei Minuten gebraucht.
Knapp 20 Minuten benötigt die Fähre über die Westerschelde, dem südlichsten Meeresarm der Niederlande, in dem die durch Antwerpen fließende Schelde mündet. 20 Minuten, in denen wir von voller Leistung in eine Ruhepause katapultiert werden. Und jetzt merke ich ganz deutlich, dass mir die letzten Kilometer heute sehr schwer fallen werden und so vertrödeln wir in Vlissingen auch keine Zeit, sondern setzen unseren Weg auf dem LF1 gleich nach Ankunft der Fähre unvermindert fort.
Trotz der etwas komplizierten Radwegführung quer durch den Hafen, über enge Holzbrücken, durch die halbe Stadt entlang einer Promenade, die auf Grund des herrlichen Hochsommerwetters auch an der Côte d’Azur beheimatet sein könnte, und auch ebenso vollgeparkt und überlaufen scheint, finden wir eine halbe Stunde später den Platz, der uns unser heutiges Nachtlager zur Verfügung stellen soll.
Während meine bessere Hälfte sich um die Bezahlung des Platzes kümmert, sehe ich Robert und Mary bereits Händchen halten vom Strand kommen. Passt perfekt. Tina erklärt der jungen Dame an der Rezeption, dass wir in die Nähe der beiden wollen, aber nur, wenn da keine Kinder rumlaufen. Ihr Gegenüber schaut verwirrt und meint, hier laufen überall Kinder herum. Es wäre ja schließlich ein Familienplatz. Was ich nicht bemerke, ist Tinas zerknirschtes Gesicht als sie die Rezeption verlässt. Zerknirscht? ZERKNIRSCHT?! Ich platze fast vor fassungsloser Empörung und heiliger Wut. Ich freue mich sehr über unsere beiden Bayern, und als sie uns sogar zum Essen einladen, bin ich happy.
Tina hingegen ist angesäuert. ANGESÄUERT?! Ha! Ich bin bereit zu töten! Wir müssten eigentlich dringend schreiben und ob das mit den vielen Kindern hier etwas wird, ist zu bezweifeln. Außerdem schlägt der Campingplatz mit 38€ für eine Nacht zu Buche und daher alles bislang dagewesene. In Worten achtunddreißig. Begründung: Man muss nur über die Straße hopsen, die Düne hoch – und schon ist man an der Nordsee. Na ja, dann. Auch hier gelten die üblichen Immobiliengründe für die Preisfindung: Die Lage – die Lage – die Lage. Als sich jetzt auch noch eine junge Dame im 1,90 m großen Hasenkostüm auf die Ladefläche eines Golfwägelchens platziert um mit Kinder-Party-Musik die Kleinen zum gemeinsamen Spielen zu animieren, klappt uns endgültig die Kinnlade herunter.
Aber Mary und Robert kümmern sich rührend um uns und bewirten uns mit frischen Kartoffeln, Steak und Soße und Salat. Unsere bayerischen Reisefreunde sind so lang und schlank wie wir eher mittelgroß und… naja, wohlgenährt sind. Unfassbar, dass Mary und Robert ihre vier Steaks, die zusammen nicht mal 200 Gramm auf die Waage bringen, mit uns teilen. Es gibt sogar Servietten und Wein zum Essen. Wir sitzen so bequem auf den Polstern des Wohnwagens, den sie liebevoll Knutschkugel nennen, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufstehen würde. So gestärkt gehen wir nach dem Essen an den Strand um das erste Mal auf der Tour die Nordsee in Ruhe zu begutachten. Abschließend schaffen wir es tatsächlich noch ein paar brauchbare Texte zu schreiben. Ich hätte gerne einen gigantisch-romantischen Sonnenuntergang mit explodierenden Farben und so. Wird nix. Zwar wandere ich barfuß durch den Sand und durchs Wasser, aber die Sonne geht erstens hinter uns unter und zweitens mehr als unspektakulär. Deswegen gibt’s auch kein Sonnenuntergang-an-der-holländischen-Nordsee-Selfie. Nicht etwa, weil Christian den Deppenzeppteneinsatz boykottiert, wo es nur geht.
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siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
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Ja, ja, ich gebe es zu. Ein sonderlich großer Belgien-Fan bin ich nicht. Auch wenn wir hier durchaus die eine oder andere nette Begegnung hatten, die Stimmung ist irgendwie spürbar anders. Irgendwie deutsch eben. Das ging mir damals in Bulgarien schon so und Belgien fühlt sich für mich genauso an. Manchmal ist eben die eigene Stimmung nicht so doll, man ist nicht gerade freundlich oder aufmerksam. Und dann brauchen manche Menschen eben länger, um mit anderen warm zu werden. Gerade ich als Brandenburger kann ein Lied davon singen. (Du – und vor allem der wunderbare, der einzigartige Reinald Grebe. Wenn ich ihn zitieren darf: Es gibt Länder, wo was los is’ – Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt Brandenburg).
Aber dann kommt man in ein Land in dem alles viel wärmer zu sein scheint. Die Menschen sind spürbar besser drauf, die Gärten und Häuschen liebevoller und viel offener angelegt. Nichts schreit nach “Meins! Hau ab!” (Im Gegenteil. Jeder Busch, jeder Baum, jede Blume, ja, jede Dachpfanne und jeder Gartenzaun winken fröhlich und einladend: „Huhu! Guten Tag. Schön, dass du da bist. Willkommen. Herzlichst. Fühl dich wohl.“)
Das ist schon ein krasser Gegensatz zu einigen Teilen Deutschlands, in denen sogar Wohnwagen eingebunkert werden. Und dann folgt auf diesen wunderbaren Landstrich mit den tollen Menschen (Niederlande) ein Land, das wie zu Hause ist (Belgien). Wären die Niederländer genau solche Stiesel wie wir oder die Belgier, dann wäre mir das wahrscheinlich auch gar nicht so sehr aufgefallen. Aber so ist das eben, ein Völkchen sticht raus und plötzlich findet man das Gewohnte doof. (Ich gehe einen Schritt weiter. Unser erster Kontakt mit belgischem Boden verpasst uns einen prompten Stimmungsdämpfer. Während Christian in gewohnter Toleranz bittet, dem kleinen Land – das übrigens auch ein Königspaar hat – eine Chance zu geben, habe ich mein Urteil nach weniger als 20 Minuten in Stein gemeißelt: Belgien ist grau, ungepflegt, wirkt ärmlich, unfreundlich und höchst resignativ.)
Ich würde gern noch mit dem Vorurteil aufräumen, dass es ja klar ist, dass die Niederländer so gut drauf sind, weil die ja ständig bekifft sind (Königsfamilie, mein Herzensmann, KÖNIGSFAMILIE!).Ehrlich gesagt, kann ich das aber gar nicht. Ich habe zwar keinen einzigen Coffee-Shop bewusst wahrgenommen, aber ob die eine oder andere unserer Begegnungen nicht gern mal einen raucht… ich weiß es nicht. Egal wie, wenn es den Deutschen und Belgiern zu einem Freundlichkeitsschub verhelfen würde, dann legalisiert doch endlich das blöde Grass.
Warum erzähle ich das eigentlich? Weil ich morgens bei der Planung noch 113 km bis Brügge ausgerechnet habe. Zuviel für einen Tag, zumal das Wetter nicht wirklich gut aussieht und wir heute Morgen echt lange zum Trocknen und Abbauen benötigen. Bis um 10 Uhr hat es geregnet und als wir dann mit unserem Tagwerk beginnen wollen, ist der Himmel noch immer so wolkenverhangen, dass wir jeden Moment mit einer neuen Dusche rechnen. Die restliche Wäsche muss noch mal in den Trockner – aber wir haben keine 50 Cent-Stücke mehr. (Einsatz für Miss Pragmatismus. Am Vorabend habe ich eine elegante blonde Dame Anfang 60 gesehen, die mit verkniffenem Gesichtsausdruck zwei Weinflaschen in den Container warf. Blöderweise ist sie am heutige Vormittag die einzige, die vor Wohnwagen mit Überdacht sitzt. Also marschiere ich mit dem Euro zu ihr und ihrem nach Erfolg und Arroganz aussehenden Mann und eröffne meine Charmeoffensive mit den Worten: „Would you please save my life?“ Ich höre schon meinen besten Freund sagen: Geht’s nicht ne Nummer kleiner? Nö. Geht’s nicht. Passt perfekt. Denn als ich mit Dackelblick die flache Hand ausstrecke, in der das ein-Euro-Stück blinkt und erkläre, mein Mann und ich seien mit dem Rad unterwegs, durch den Regen aber alle Klamotten nass und wir würden die gerne in den Trockner werfen, damit wir uns in dem nassen Zeugs nicht den Tod holen, weil wir ja schließlich noch bis nach Brügge wollen (puh. Einmal Luft holen), tja, also da fordert sie ihn auf, nach zwei fünfzig Cent Stücken zu gucken. Sie selber lächelt freundlich und dabei ungläubig. „By bike?“, hakt sie nach und ich nicke bescheiden. Sehr beeindruckt von diesem Ziel gibt sie mir den Rat, unbedingt noch Gent anzuschauen, eine ganz wundervolle Stadt. Und will wissen, was ich denn von Antwerpen halte? Ihr Mann ist in seiner Hosentasche (natürlich – Kerle wie er schleppen immer jede Menge Kleingeld in der Hosentasche mit sich rum.) fündig geworden und wir tauschen eins zu zwei. Ich halte mich bedeckt, was Antwerpen angeht, meine brachiale Offenheit könnte möglicherweise missverstanden werden. Die beiden sehen sich jetzt verliebt an und er sagt, dass sie seit 40 Jahren jedes Jahr für zwei Wochen hier auf dem Campingplatz sind. Antwerpen sei eine so fantastische Stadt. Aha. Ist uns bislang entgangen. Und plötzlich werfen sich die beiden so was wie einen verliebten Blick zu als er sagt, sie würden Antwerpen besser als Amsterdam kennen und sie dazu nachdrücklich nickt, da denke ich, wie reizend die beiden doch eigentlich sind. Sie wünschen eine erfolgreiche Fahrt, wiederholen, wie einmalig schön und dabei unterschätzt Gent ist und dann stolziere ich mit der lebensrettenden Beute zurück zu unserem Zelt. Wenn ich könnte, würde ich Wagners Walkürenritt pfeifen und dabei die zwei 50er fahnengleich schwenken. So drücke ich sie meinem Herrn der Wäsche bloß mit einem lässigen „erledigt“ in die Hand und stelle betont nebenbei die Frage, wie groß der Umweg über Gent eigentlich wäre.) Und so kommt es, dass wir erst gegen 13:00 Uhr starten können und somit meines Wissens wieder einmal einen Rekord aufgestellt haben.
Die Route wird jetzt also über Gent gehen und da wir beide keine wirkliche Lust auf belgische Dörfer haben, wähle ich die Route entlang einer stark befahrenen Hauptstraße. Einer zu stark befahren… Als wir in der kleinen Stadt Belveren unsere erste Pause machen, stellen wir fest, dass uns das beiden keine wirkliche Freude bereitet. (Und das liegt nicht an dem plötzlich hohen Polizeiaufkommen. Wir stehen an einem Kreisel, als uns drei VW-Busse versetzt und in unterschiedliche Richtung kurvend auffallen. Allerdings ohne Blaulicht. Während wir noch überlegen, ob wir eigentlich wirklich nach Gent müssen, hält einer der Busse, ein glatzköpfiger Polizist mit graumeliertem Hipsterbart lehnt sich aus dem Fenster und fragt auf belgisch oder flämisch oder was auch immer, ob wir zwei zu Fuß flüchtende Männer gesehen hätten. Einer trage ein Baseballcap. Ich schüttelte mit einem angemessen bedauernden Gesichtsausdruck den Kopf, setze ich „Sorry“ hinzu, ernte dafür ein freundlich-resigniertes „Danke“ und der Bulli verschwindet im Kreisverkehr. Ich ernte einen bewundernden Blick von Christian, der nachfragt, was den Gesetzeshüter den eigentlich gefragt hat und ich gebe mich verwundert, dass er die Frage nicht verstanden hat. Schrei du mal über Jahre Krimis, dann weißt du, was die Polizei dich fragt, wenn sie offensichtlich jemanden sucht. Es ist IMMER irgendwer auf der Flucht.) Wir entscheiden uns ohne Diskussion gegen Gent, bzw. gegen Belgien. Also planen wir kurzerhand um und unter Inkaufnahme eines zusätzlichen Tages bis Brügge entscheiden wir uns für eine Weiterfahrt über Niederlande. Der Vorteil dabei ist, dass die Campingplatzdichte in Belgien eher gering ist und wir in Holland sicher eine passende und preiswerte Unterkunft finden.
Trotzdem geht es noch eine Zeitlang erneut durch trostlose belgische Dörfer und über triste, schlecht gepflasterte Nebenstraßen, die uns aber nicht mehr so schlimm wie an unserem ersten Belgientag vorkommen. Denn – die bunten, freundlichen Niederlande winken. Immerhin gibt es auf diesem Abschnitt keinen Kanal, den die Belgier nach Lust und Laune mit Industriebauten zugepflastert haben. Eine letzte Versorgung mit Lebensmitteln und dann geht es wieder über die Grenze. Diesmal sogar mit einem von mir gewünschten Schlagbaum.
Ob wir uns das nun einreden oder nicht, die Stimmung wird dann auch gleich wieder schlagbaumartig besser und auch meine neuen Karten kommen nun zum ersten richtigen Einsatz. Ich kann jetzt endlich nach Knotenpunkten planen und um unser Ziel, einen auf der Karte ausgewiesenen Campingplatz zu erreichen, geht es wieder durch schöne Landschaft, deren städtischer Höhepunkt die Stadt Hulst ist. Sie ist, trotz auf dem flachen Land errichtet, komplett von Wasser umgeben. Wir stoppen in der Innenstadt an einer Sitzbank (In unmittelbarer Nähe einer Kirche, zu unserer rechten ein seltsames Kunstwerk, bestehend auf Enten oder Gänsen aus Bronze), und grübeln bei Brötchen mit Aufschnitt mal wieder über die Unterscheide der Niederländer zu den Belgiern, als uns ein Bataillon sehr alter Damen von unserem Platz vertreibt. Darunter auch drei Nonnen, die alle so gebrechlich sind, dass sie in Rollstühlen sitzen. Selten habe ich mich so deplatziert gefühlt wie in diesem Moment. Tina witzelt, hier sind gerade locker 2000 Jahre versammelt. Was der Grund für diese Ansammlung war, wissen wir bis heute nicht. Denn diese Gruppe ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass wir nicht einmal eine Chance haben nachzufragen. (Die Wahrheit ist eine andere: Wir trauen uns nicht. Ich bin fasziniert von der sanften Heiterkeit der uralten Frauen. Besonders eine sehr zierliche Dame mit schlohweißem Haar, in weißer Bluse und wadenlangem Rock, deren Rücken so gekrümmt ist, dass sie mit beinahe waagerechtem Oberkörper in kleinen Schritten gehen muss, berührt mich. Trotz ihres vermutlich biblischen Alters und ihrer offensichtlichen Gebrechen, von denen ich nur ahnen kann, wie schmerzhaft sie sein müssen, wirkt sie fröhlich und gelassen. Und während sie sich mit einer Hand an der Lehne der Bank abstützt und mit der anderen das Gesangsbuch oder eine Bibel festhält, scheint sie einen Scherz mit den zwei unwesentlich jüngeren Damen auf der Bank zu machen. Es ist ein leises Schnattern und plötzlich wird mir bewusst: Auch diese Damen waren alle mal junge Mädchen. Vielleicht sind sie zusammen zur Schule gegangen… Ich bedauere meinen fehlenden Mut, die Damen anzusprechen, in ein Gespräch zu verwickeln. Dagegen beschleichen Christian komische Fluchtgedanken, ihm ist das zu viel naher Tod auf einem Haufen. Er will nur weg.
So packen wir also zusammen und steuern unser neues Tagesziel, die Natuurkampeerterreinin Kamperhoek an. Ein letzter Einkauf in Vogelwaarde wird uns durch einen wahnsinnig gut gelaunten Mitarbeiter versüßt, der während unser gesamten Verweilzeit fröhlich ein Lied nach dem anderen im Radio mitpfeift.
Als wir dann endlich um 18.30 Uhr auf unserem Ziel ankommen, erwartete uns ein absolut fantastischer Campingplatz, der auf einem aktiven Bauernhof errichtet ist. Hier wird gleichzeitig Bio-Landwirtschaft und Beherbergung praktiziert, die ganz offensichtlich auf Familien oder ganze Schulklassen ausgerichtet ist. In 12 großen Zelten mit Luxusausstattung können bis zu 8 Personen schlafen und leben. Zusätzlich gibt es Hütten und eine liebevoll angelegte Zeltwiese. Da kann uns auch der inzwischen treue abendliche Regenschauer nicht die Freude verhageln. (Ich bin begeistert von dem Konzept, das u.a. vorsieht, dass Kinder für die Dauer ihres Aufenthaltes die Verantwortung für eines der zahmen Hasen übernehmen können. Vor jedem der Zelt steht nämlich ein mobiler Hasenkäfig.)
Die Distanz zu Brügge hat sich heute durch den Bogen über die Niederlande wieder ein bisschen erhöht, statt verringert. Aber es ist trotzdem ein toller Abschluss und keiner von uns ist unglücklich darüber, Belgien für einen Tag den Rücken gekehrt zu haben. Morgen werden wir allerdings nicht mehr drum herumkommen.
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Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.
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TINA
siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
Christian
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Über sich hinauswachsen – check. Mit dem heutigen Tag erledigt. Und zwar mit Bravour, wenn ich das ohne falsche Bescheidenheit mal sagen darf. Aber ich will nicht vorgreifen.
Wir verlassen unsere Campingbucht „De Meeres“ gegen 9.30 Uhr. Vorher reiße ich mir noch den abgelaufenen Chip, der mich bis jetzt viel zu genau mit aktuellen Zuckerwerten versorgt hat, vom linken Oberarm. Die erste katastrophale Erkenntnis des Tages: Ich werde nicht nahtlos braun nach Hause kommen. Weil dieses verdammte Leukoplastpflaster, das mir die Apothekerin hinter Minden großzügig über den Sensor geklebt hat, nicht UV-durchlässig ist. Skandalös! Damit ist meine Entscheidung vom Vorabend bestätigt: Kein neuer Sensor mehr am Oberarm! Den Rest der Reise werde ich meine Zuckerwerte wieder wie in den vergangenen 18 Jahre testen: Per Stechhilfe und Teststreifen. Ja, ist unbequemer, aufwendiger und vor allem nicht während der Fahrt zu erledigen. Ja, das pieksen in die empfindlichen Fingerkuppen ist jedes Mal schmerzhaft. Trotzdem. Und an dieser Stelle möchte ich vorgreifen: Ab diesem Morgen normalisieren sich meine Werte. Und damit entspanne ich mich in schwindelerregender Geschwindigkeit, meine Laune verbessert sich erheblich. Erkenne: Zu häufiges testen der Zuckerwerte macht nervös und übellaunig. Ein mediales Phänomen, welches auch von Smartphones bekannt ist. Haste eines, guckste ständig drauf. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nicht ganz unschuldig an den Zuckerdramen bin. Wann immer möglich, habe auch ich das kleine glänzende Gerät an Tinas Arm gehalten, um dann auf diesem wunderbaren Touchmonitor eine Zahl zu erkennen, durch die ich auf Tinas Zustand schließen konnte… vorbei die schöne Zeit. Aber tatsächlich, ohne die ständigen Messungen gibt es auch kein schnelles Reagieren auf ansteigende oder abfallende Zuckerwerte mehr und das bringt viel Ruhe ins Zuckerdrama. Tina hat heute Morgen eine der elementarsten Entscheidungen der Tour einfach so aus dem Bauch heraus getroffen. Gut gemacht!
Runter vom Campingplatz, links auf den Radweg. Es dauert, bis ich den richtigen Rhythmus finde und nach drei vergeblichen Anläufen finden wir endliche eine Tankstelle, an der wir eine Straßenkarte der Niederlande kaufen können. Und eine halbe Stunde später passieren wir auch schon das blaue Schild mit den goldenen 12–EU-Sternen-Kreis, in dessen Mitte in weißer Schrift „België“ steht. Wir küssen uns grenzüberschreitend. Wir sind jetzt in Vlaanderen, wie ein weiteres gelbes Schild mit stilisiertem Löwen erklärt und noch einige Meter weiter wird schriftlich behauptet: „De provincie Antwerpen heet u welkom“. Scheint nicht so, als müsste ich meine rudimentären Französischkenntnisse rauskramen. Trotzdem suche ich während der Weiterfahrt nach den entsprechenden höflichen Frage-Formulierungen bezüglich eines Platzes für unser Zelt, wahlweise für ein Fremdenzimmer. Overigens vond ik niet dat de provincie Antwerpen ons had verwelkomd.
Der richtige Tritt-Rhythmus stellt sich endlich ein, es geht über Feld- und Waldwege, zunächst nicht spürbar schlechter als in den Niederlanden. Da stoppt Christian plötzlich. Ein graues Kraftpaket, locker 69 Zentimeter Schulterhöhe, mit altersweißer Schnauze, tiefer Stimme, wild wedelnder Rute und dem Anspruch, Haus und Hof laut bellend zu verteidigen, versperrt meinem vorausfahrenden Christian den Weg. Zuversichtlich, dass nichts passieren wird, fahre ich betont entspannt an dem kläffenden Hund vorbei, ohne auch nur eine Sekunde ernsthaft zu befürchten, er könne mir in die Wade beißen. Erstaunlich dieses Grundvertrauen in das Gute im Hund. Ich bilde mir eine Menge darauf ein, 13 Jahre lang „Hundemutti“ gewesen zu sein. Vielleicht zu viel? Hochmut kommt schließlich vor dem Fall, schießt es mir deswegen auch durch den Kopf, aber ich verdränge den Gedanken sofort wieder. Ein bellender Hund beißt nicht. Weiß doch jeder. Und der hier schon gleich gar nicht. Ganz bestimmt. „Alles gut, entspann dich“, sage ich dennoch freundlich, ohne daran zu denken, dass der Vierbeiner möglicherweise kein Deutsch versteht. Meine betont selbstbewusste Haltung überträgt sich zu meiner Irritation nicht auf Christian. Der steht, die Beine von den vorderen Packtaschen wenigstens einigermaßen geschützt, und scheint auf ein Wunder zu hoffen. Aber nein, der Hund wirft sich ihm nicht zu Füßen oder löst sich gar in Luft auf. Er bellt munter und laut und durchaus energisch. Wäre ich weniger Hundeerfahren, ich würde laut brüllen vor Angst. So gebe ich mich überlegen und versichere Christian mehrfach, dass der Hund ihm nichts tun wird. Dass der nur freundlich sein Revier markiert. Naja, der krawallgebürstete Rüde rennt dann doch ein paar Meter Zähne fletschend und sehr laut bellend neben uns her und mein wunderbarer Tourguide ist stinksauer und zetert einige hundert Meter lang über die Frechheit, dass so eine Bestie frei rumlaufen darf, freundliche Radwanderer aus dem Nichts heraus so energisch bedroht. Im Normalfall habe ich keine Angst vor Hunden, nur scheint mir die Kombination Fahrrad und Dorfköter echt ein bisschen problematisch. Aber der glimpfliche Ausgang der Situation fließt auch in meinen Erfahrungswertebogen ein und schmälert die fiesen Angriffe in Serbien, der Türkei und Griechenland. Mal ganz ehrlich, liebe Hundebesitzer: Haltet eure Bestien doch einfach innerhalb geschlossener Zäune und weg von öffentlichen Straßen. Mit Sätzen wie: “Der tut nix”, kann ich als unwissender Fahrradfahrer nichts anfangen, denn ich kenne euren Hund nicht und weiß eben nicht, ober er bloß aus Angst oder Revierverhalten kläfft oder ob er sich gerade mit Leichtigkeit von der schweren Eisenkette losgerissen und durch den Natodraht gebissen hat, um auf die Straße zu kommen; um nach dem halben Rind zum Frühstück jetzt noch einen Radfahrer als Zwischenmalzeit zu verspeisen.
Um Christian vom Schrecken abzulenken, lästere ich jetzt über die scheußlichen kleinen Häuser, die vereinzelt unseren Weg säumen. Lieblos, grau, halbfertig oder halbverfallen, das lässt sich im Vorbeifahren schwer sagen. Wir sind auch nicht so wahnsinnig begeistert von der Landschaft und verfallen schnell wieder in schweigendes Treten. Kurz darauf versperren uns Hühner den Weg – sie gackern in einer Dreiergruppe über unseren Weg und lassen sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Auf Christians Klingeln reagieren sie mit gelassenem Trippeln von links nach rechts. Einzig ein ziemlich zerrupft aussehender Hahn bleibt wie angenagelt mitten auf der Straße stehen. Ich stoppe, will wissen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Ist es nicht. Dem schwarzen Federvieh fehlen nicht nur die schmückenden Schwanzfedern, sondern auch das linke Auge. Hier bekommt der flotte Spruch, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, einen bitteren Beigeschmack. Der einäugige Hahn wirkt krank und verloren und unser Mitgefühl mit dem armen Gockel hält lange an.
Wir erreichen einen Kanal, der für die kommenden Stunden unsere Route bestimmen wird. Wieder stoppt Christian unerwartet. Dieses Mal mit strahlenden Augen und der Bitte, unbedingt ein Foto zu machen. Die Rede ist von einem „Aardbeien-Automaat 7/7“. Nach Brot- und Kartoffel-Automaten ist das hier neu für uns beide: Sieben Tage die Woche werden hier in 250 Gramm-Schachteln für 4 Euro erntefrische Erdbeeren verkauft. Und offensichtlich mit Erfolg. Denn während wir noch vor dem Automaten stehen und staunen, kommt eine ältere, kurzhaarige Bäuerin in Jeans, T-Shirt und Schürze. Sie schiebt eine Art Service-Wagen mit Stiegen voller abgewogener Erdbeeren vor sich und bestückt den Automaten. Wir nicken einander freundlich zu. Da sie kein Deutsch spricht, Christina aber großartig im dechiffrieren fremder Worte, sagt er „camping“ und „Brügge“ und sie nickt beeindruckt und wünscht uns gute Fahrt (glaube ich zumindest). Wir ziehen keine Erdbeeren, weil wie sie gleich essen müssten. Wollen wir in dem Moment nicht, also geht’s weiter, immer am Kanal entlang. Also ich will schon. Aber nicht weil ich Erdbeeren essen möchte, sondern offenbar habe ich einen Hang zur Automatenspielsucht. Ich möchte hiermit den anderen Zockern mal raten, nur noch solche Automaten zu bespielen. Die Erfolgsquote liegt bei annähernd 100%. Und dieser Weg ist abgrundtief hässlich. Soviel versammelte Scheußlichkeit, Kilometer um Kilometer, das drückt ein bisschen auf die Stimmung. Industrie rechts und links des Wassers. Wir passieren einen Frachter, der Christian heißt, und irgendwann gibt es einen Kick: Die Kombination Rückenwind und schnurgerade Strecke sorgen plötzlich für ungeheuren Fahrspaß. Wir treten in die Pedale, liefern uns kleine Wettrennen. Die Laune steigt und ich grinse breit – 32 Zähne, alle oben – und rase mit 32 Km/h an meinem Liebsten vorbei. Der grinst zurück, holt mich ein, wir fahren nebeneinander und genießen das Tempo. Ich brülle übermütig: „Wenn das so weitergeht, können wir ruhig bis Antwerpen fahren.“ Bei Kilometer 78 pausieren wir kurz an einem Umspannwerk, an dem das Rauchen verboten ist. Umspannwerk, Gasverteilstation, wer kennt da schon den Unterschied. Aber die Techniker in Belgien scheinen im Gegensatz zu den Landschaftsgestaltern – die Bänke für müde Touristen aufstellen, oder eben nicht – einen guten Job zu machen, denn undicht war offensichtlich nichts. Und eine kleine Funktionskontrolle hat noch niemandem geschadet… glaub’ ich jedenfalls. Ich rauche übrigens überhaupt nur wegen der Automaten, is’ klar, ne? Während er nach einem Campingplatz sucht, steckt sich Christian eine Kippe an, passiert uns eine Gruppe von 25 E-Bike-Radlern im hohen Rentenalter, haben wir bereits gefühlt 25 Brücken links liegen gelassen und entscheiden, wir verzichten auf den ursprünglich geplanten Campingplatz und fahren weiter bis Antwerpen. Sind ja nur noch knapp 20 Kilometer. Mich piekst der Hafer und ich bin so voller Kraft und Adrenalin und Lebensfreude, dass ich es wahrhaftig auf 34,7 Km/h bringe. Auf gerader Strecke! Ein lauter Juchzer brodelt in mir, will raus – ich lasse ihn und balle dabei die Faust. Dieser Moment ist unbeschreiblich.
Dann erreichen wir tatsächlich Antwerpen. Und sind schockiert. Mich erinnert dieser Teil der Stadt an die frühen 80er Jahre, wenn wir durch Berlin nach Warnemünde fuhren. Christian bestätigt das bedrückende Ostblock-Flair. Zu allem Überfluss zieht sich der Himmel zu, wird erst Taubenblaugrau, dann Schieferschwarz und es beginnt zu regnen. Wir stellen uns unter, neben einem kleinen Supermarkt, aus dem mehrere Afrikanerinnen mit heulenden Kleinkindern herauskommen und uns mitleidig angucken. Wir warten auf das Ende des Regens, doch der Himmel ist Gewitterwolkig und es grummelt. Immerhin, der Regen wird weniger, es ist warm genug, um ohne Regenjacke fahren zu können. Christian lotst uns souverän durch die Stadt, die immer scheußlicher, dreckiger, lauter, stinkender und bedrohlicher zu werden scheint. Es sind keine Frauen zu sehen, nur an geschlossenen Läden hockende und rauchende Männer mit leeren Blicken, Männer in Grüppchen stehend, gehend oder sitzend. Graffiti übersähte Häuserwände, schmutzige, enge Gehsteige. Verfallende Gebäude. Alles atmet Armut und ich frage mich ratlos, wo ist der Teil von Antwerpen, von dem so viele Menschen schwärmen? Während wir abwechselnd über Kopfsteinpflaster, holperige Gehwege und dann wieder rissigen Asphalt unseren Weg suchen, bete ich die ganze Zeit, dass wir nicht überfallen und ausgeraubt werden. Dabei werden wir nicht mal neugierig angesehen. Trotzdem bin ich froh, als wir endlich raus sind aus dieser bedrückenden Bronx und uns an der Schelde wiederfinden. Dem Fluss, der Antwerpen teilt. Und der keine Brücken hat, um den Schiffsverkehr nicht zu behindern.
Es ist ein wildes Gewusel auf dem kombinierten Fußgänger-Radweg. Der Himmel ist immer noch bedrohlich grau und es grummelt. Inzwischen blitzt es auch und ich werde ungeduldig vor Angst. Bei Blitz und Donner auf dem Rad? Lässt das Herz zwar höher schlagen – aber ganz sicher nicht vor Begeisterung. Christians Navi behauptet, es gäbe eine Brücke. Wir fahren vor und wieder zurück, vorbei an denen das Ufer säumenden und alten musealen Booten Schutz bietenden Hallendächer. Endlich wird klar: Die angebliche Brücke ist der 931 gebaute und 1933 eingeweihte Sint-Annatunnel. Wir überqueren die Baustellen verengte Straße während einer Rote-Ampel-Phase und dann erleben wir die abenteuerlichste Fahrt dieser Reise: Über zwei hölzerne Holzrolltreppen geht es 31 Meter in die Tiefe. Die schwer bepackten Räder verkantet, beide Bremsen gezogen, holpern wir bis zum Tunnelboden, der einen Durchmesser von 4,30 Metern hat und 572 Meter lang ist. Es ist ziemlich kalt hier unten, man darf als Radfahrer nicht schneller als 5 km/h fahren. Aber nachdem ich sehe, wie die anderen Radler in die Pedalen treten, hält mich nichts mehr davon ab, so schnell wie möglich diesen maximal 12 Grad kaltem schnurgraden Tunnel zu durchqueren. Für den Weg zurück ans Tageslicht nutzen wir dieses Mal den Lastenaufzug, den maximal 40 Personen gleichzeitig nutzen dürfen und der seit den 1990er zum Großteil von den Radfahrern genutzt wird. Sieht ein bisschen so aus, als würden nur doofe Touris mit ihren (vollgepackten) Rädern die historischen Rolltreppen nutzen. Jeder, der mal eine Reise nach Antwerpen wagt, sollte einmal diesen Tunnel benutzen. Das macht wirklich tierischen Spaß.
Kaum haben wir die Straße betreten, beginnt es wieder zu regnen. Es sind noch zwei Kilometer bis zum Campingplatz, der mitten im Hafengebiet liegt. Voller Hoffnung, dass der Blitz uns nicht in letzter Minute erschlagen wird, folge ich Christian. Die Schranke am Campingplatz umfahren wir. Im Pförtnerbüro sitzt niemand. Ich rufe bei der angegebenen Nummer an und rechne damit, dass ich jetzt aber in französisch unser Begehr formulieren muss. Denkste, die nette Dame am anderen Ende der Leitung spricht mit herrlichem Akzent und damit in perfekt verständlichem Englisch. Wir mögen uns einen Platz aussuchen und dann morgen bezahlen. Während ich telefoniere, scharwenzelt eine bunte Katze um mich herum, eine rothaarige macht es sich auf einem der gepolsterten Sitze vor dem Büro gemütlich und kommt Christian durch den leichten Nieselregen zu mir – er hat bereits einen Platz für uns ausgesucht.
Wir bauen das Zelt auf. Die Stimmung ist dem Wetter entsprechend angepasst. Ich koche aus Resten unser Abendbrot, wir essen schweigend und dann gratuliert mir mein Herzensmann zu 94,91 gefahrenen Kilometern. Reine Fahrzeit an diesem Tag: 5 Stunden, 17 Minuten. Und als ich später in den Waschräumen einer wildfremden Frau beim Zähne putzen von dieser persönlichen Höchstleistung erzähle, wird mir bewusst: DAS heute war die bisher größte sportliche Leistung meines Lebens. Ein cooleres Geschenk hätte ich mir zu meinem morgigen Geburtstag kaum selber machen können. Übrigens verquatschen sich die fremde Bayerin und ich uns. Sie kann nicht glauben, dass eine Reiseradlerin ernsthaft von Potsdam nach Brügge im Kleid fährt und darüber hinaus auch noch einen Lockenstab im Gepäck hat. Echt nicht? Tue ich und habe ich. Bei allem Pragmatismus: Ein bisschen Eitelkeit muss sein. Und währenddessen stolpern ein fremder Bayer und ich zombiegleich über den Platz und suchen unsere Frauen, treffen uns vor dem Damenklo, atmen erleichtert auf, als wir die Hühner schnattern hören, wünschen uns eine gute Nacht und gehen schon mal schlafen.
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TINA
siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
Christian
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Gut gelaunt geht es nach dem gestrigen Ruhetag wieder auf die Straße. Nachdem ich ja die offizielle Morgenfütterung vom Vortag verschlafen habe, bin ich begeistert von dem mehr als reichhaltigen und liebevoll arrangierten Frans-Frühstück. Neben dem Glas O-Saft und frischen Erdbeeren, Joghurt, gekochtem Ei, Wurst-, Käseteller und Tomaten-Gurken-Teller gibt es für jeden vier Brötchen und zwei Crossiants!! Liebe B&B’s / Pensionen in Deutschland: SO geht Service. Und Frans hat uns auch noch großzügige Streifen Alu-Folie und einen Brotbeutel hingelegt mit der Bemerkung, wir sollen uns Brötchen für die Tour schmieren. Ach, Frans, du gute Seele. Als ob du geahnt hast, dass diese Käsestullen am späteren Nachmittag quasi unsere Beziehung retten werden. Wer noch definitiv zu erwähnen ist: Das Pärchen neben uns am Frühstückstisch, das sich mit den Worten vorstellt, gemeinsam 140 Jahre alt zu sein. Sie sehen keinen Tag älter als 125 gemeinsame Jahre aus. Sehnsüchtig schiele ich zu ihrem Brötchenkorb, denn sie haben zwei von den dunklen, rustikalen Baguette-Brötchen, wir leider keines. Der winzige Fressneid hält die komplette Futterstunde und wäre auch am Ende belohnt worden, wenn ich mich letztlich nicht zu sehr geschämt hätte, das angebotene Baguette zu nehmen. Weil, ich habe nämlich vorher unseren fast unberührten Wurstteller rübergereicht. Und damit eine freundliche Gegengeste quasi provoziert. Was soll’s. So ein bisschen Verzicht üben kann eigentlich nicht schaden. Die beiden Niederländer jedenfalls tauen sehr schnell auf. Die männlichen 70 Jahre sprechen sehr gut Deutsch – hat er in den 1960er Jahren als Pfleger bei seinem einjährigen Berlinaufenthalt gelernt. Als die Mauer gebaut wurde, musste er zurück in die Niederlande und wiederholt einige Male in leichtem Singsang, er habe noch einen Koffer in Berlin. Wir vermuten, dass er seinen Traum, nochmal nach Berlin zu fahren, in diesem Leben nicht mehr realisieren wird. Einfach weil er lieber regelmäßig zu Frans fährt. Was wir durchaus verstehen, denn Arcen ist ein reizendes Städtchen (Frans sagt, es sei Dorf). Während er erzählt, fallen ihm immer mehr deutsche Worte ein, was ihn offensichtlich entzückt. Nachsichtig, dabei durchaus sehr liebevoll wird er von seiner Frau belächelt, die sich aus dem Gespräch weitgehend zurückhält. Nicht etwa, weil sie weniger gut deutsch spricht, sondern weil sie mit großem Genuss auch noch größerer Langsamkeit ein drittes Milchbrötchen mit Butter und Marmelade kaut. Herrgottnochmal, sind die Beiden reizend. Sie bewundern unsere bisherige Fahrleistung und weiteren Pläne mit mehr als großen Augen und noch größerem Respekt. Und wünschen uns zum Abschied eine gute und sichere Fahrt.
Frans zu begegnen war einer dieser wunderbaren Zufälle, die es ja genau genommen nicht gibt. Wir empfehlen JEDEM sich wenigsten für eine Nacht im Café B&B Rayer Catering, Diner en Meer, Kerkstraat 2Qa Am Arcen einzuquartieren. Wir holen uns bei Frans noch ein paar Tipps für die Niederlande ab und starten die Strecke mit unserer ersten Fährfahrt über die Maas. Eine kleine elektrische, nur von Solarzellen angetriebenen Fähre, transportiert lediglich Radler, oder, wie sie in den Niederlanden heißen, Fietsen und Fußgänger. Heute ist Sonntag und die Niederlande sind geschlossen auf irgendwelchen Zweirädern unterwegs. Sind es keine Fahrräder (Fietsen), sind es eben Motorräder (Bromfietsen) oder irgendwas dazwischen. Auf jeden Fall sind es Tausende, denen wir heute begegnen und das Wetter lädt auch dazu ein.
Unsere erste Etappe führt uns nach Horst. Ich habe noch keine Karte für die Niederlande und nur mit dem Navi wird das ein schwieriges Unterfangen. Die Radwege sind hier nur selten mit Stadtnamen bezeichnet, sondern tragen nicht ganz nachvollziehbare Nummern. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich das System der Knotenpunkte durchschaue und mich vor allem damit anfreunde. Aber auch wenn Supermärkte am Sonntag geöffnet haben, einen offenen Buchladen haben wir nicht gefunden, um eine Radkarte unserer holländischen Freunde zu erwerben. Uns fällt aber auf: In den Niederlanden sind die meisten Lebensmittel teurer als in Deutschland. Auch Benzin und Tabak – ICH bin ja seit sechs Kilo Nicht-Raucher. Mir also wampe .. äh, wumpe – kosten hier mehr als bei uns und umso mehr verwundert mich die Tatsache, dass die Niederländer durch die Bank weg sehr freundlich und aufgeschlossen sind. Liegt es am Radfahren oder an den wenigen Bergen? Die rauchen einfach weniger. Egal, es ist so und es ist gut so, denn wir fühlen uns auf Anhieb sehr wohl und herzlich aufgenommen. Die Orangjes sind ein zutiefst fröhliches Volk – weil sie mit Maxima und Willem Alexander und den drei Töchtern, die alle mit A heißen, eine fröhliche Königsfamilie haben.
Trotzdem kommt es im Laufe des Tages zu einem meiner berüchtigten Frustanfälle, denn wer sich hier nicht elektrisch oder mit Körperkraft fortbewegt, tut es scheinbar mit dem Motorrad. Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass Mopeds und Mofas auf niederländischen Straßen nichts zu suchen haben und wir uns die heute ohnehin überfüllten Radwege oft mit ihnen teilen müssen. Machen wir uns mal nichts vor, mein Schatz. Du wirst garantiert bis zum letzten Tag der Tour Schimpf und Mordio zetern, wetten? Mir persönlich sind diese Gefährte zu laut. Das schnelle Hochdrehen der Motoren und der brubbelige Sound mögen Mitsechziger ja toll finden, mich hingegen nervt es zunehmend und so kommt es wie es kommen muss: Ich werde mal wieder launisch. Ich wusste nicht, dass ein Gebrülltes “warum?” genauso agro klingen kann wie “Verfluchte Scheisse”. Tina stoppt daraufhin unsere Karawane und füttert mich erst einmal mit Frans-Stullen, die auch sofort Wunder wirken. Offensichtlich werde ich mit zunehmendem Hunger echt unausstehlich. Ach, was? Es liegt gar nicht an den Bromfietsen? Aber wer weiß schon, wozu dieses beidseitige Wissen in unserem Beziehungsleben noch gut ist. Meine Stimmung ist schnell wiederhergestellt und so kann auch ich mich auch endlich an den schönen niederländischen Orten erfreuen, so wie Tina es schon den ganzen Tag tut. Ja, zugegeben, diese Niederlande scheinen, zumindest nach dem ersten Fahrtag, durch und durch lebens- und liebenswert zu sein. Und dann waren da noch diese beiden Animalfarms. Also eigentlich ganz traurig, wenn man es genau betrachtet. Aber oberflächlich besehen ist es hinreißend, die ewig lang bewimperten Augen der Rehe zu sehen und noch hinreißender finde ich die frisch von ihrem kuschelweichen Fell befreiten Alpackas, die mit ihren langen Hälsen und ebenfalls lang bewimperten Kugelaugen verzückte Seufzer in mir auslösen. Übrigens, sowohl die Bambis als auch die Alpaccas trafen wir direkt vor America. Und ich verzichte jetzt auf den Kalauer, der einem eigentlich auf der Zunge liegt, sondern protze mit Christians Wissen, das er von Frans hat: America bedeutet auf Holländisch oder Flämisch oder Mittelhochdeutsch “An der Heide”. Die Botaniker unter uns wissen, dass Heide auch Erika heißt.
Heute machen wir mehr Pause, als dass wir fahren, und so kommen wir auch erst sehr spät an unserem Campinplatz an. Ich mag unser trödeliges, entspanntes fahren, obwohl ich von Harrys und Meghans Hochzeit quasi nichts mitbekommen habe. Offensichtlich bin ich trotz der körperlichen Anstrengung ziemlich gleichgültig was internationalen Glamour-Gossip angeht. Wir reden hier immerhin von DER Adelshochzeit des Jahres. Sogar die Beckhams waren da, Elton John sowieso, und George und Amal Clooney – das immerhin habe ich mitbekommen. Hab schon dem Harry seine Mutti Diana damals beim Ja-Wort aufs Kleid geschielt.
Wir bauen das Zelt auf, lassen noch schnell einen kräftigen Regenschauer über uns ergehen und gehen zur Feier des heutigen, wirklich schönen Tages noch richtig lecker essen. Ähm… Sind wir nicht eigentlich essen gegangen, weil es zu nass war, um sich zum kochen irgendwo hinzusetzen? Und “lecker” finde ich auch ein großes Wort für einen durchschnittlichen Salat und einen frittierten Bürger an Pommes.
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Christian
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Soll noch mal jemand sagen, ich sei dünnhäutig. Dem werde ich nicht widersprechen. Ganz im Gegenteil! ABER, und das möchte ich betonen, selbst meine zu allergrößte Toleranz neigender Christian verliert an diesem Morgen in Altfeld ein bisschen die Nerven. Oder zumindest tut er wenigstens so, damit ich mich nicht allein so schlecht fühle.
Wie gewonnen, so zerronnen, möchte man dieses dämliche Sprichwort bemühen. Denn was gestern noch in den schillerndsten Entspannungsfarben leuchtete, was sich als wahr gewordener Traumort der Ruhe und Kreativität präsentierte, ist eine verdammt laute Mogelpackung! Die schlimmste, die wir bislang erlebt haben. Und ich rede nicht von Rasenmähern, brüllenden Kleinkindern oder keifenden Wadenbeißern. Ich zupfe mir um halb neun die Ohropax aus den Ohren – und erstarre. Deutsche Schlager der allerschlimmsten Sorte – Oh Gott! Wie vermisse ich Cindy & Bert, Michael Holm, Katja Ebbstein, Marianne Rosenberg! -, stumpfer eins-zwei-Tipp-Discofox-Takt, in Ballermannlautstärke. Noch mal: Es ist Freitagmorgen, 8.30 Uhr, auf einem Campingplatz! Erst bei unserer überstürzten Abfahrt eine Stunde später stellt die Putzfrau das Radio übrigens auf Zimmerlautstärke. Nein, so richtig gut gelaunt war ich an diesem Morgen nicht wirklich. Denn im Gegensatz zu Dir hatte ich keine Ohropax und die arme Putzfrau schon seit mindestens 7.30 Uhr Dienst. Allerdings waren die gespielten Schlager für mich alle Neuland, auch wenn ich mir eingebildet habe, die eine oder andere Melodie schon einmal gehört zu haben. Wenn man aber bedenkt, dass das Schwimmbad seit einem dreiviertel Jahr außer Betrieb war und die Reinigung bestimmt einer der blödesten Jobs ever ist, dann kann ich diese Liedauswahl durchaus verstehen. Wahrscheinlich ist dritt- oder viertklassiger deutscher Schlager eines der stärksten legal erhältlichen Narkosemittel und damit erhält es von mir das Prädikat: BESONDERS NERVTÖTEND. Ich höre durch das Wummern der Bässe, wie Christian sich unterhält. Angeregt unterhält. Skandalös angeregt und fröhlich unterhält. Mit einer Frau, die ganz klar aus Stuttgart kommen muss. Sieglinde ist kurz vor 70, ihr kleiner Köter leidet unter Nierensteinen und muss alle drei Monate zum Arzt und ihr Mann putzt mit unendlicher Liebe, Leidenschaft und absurder Hingabe das fahrbare Eigenheim. Und während Sieglinde erzählt, dass sie eigentlich nur 245 Euro Rente bekommt, aber dank des Verkaufes ihres mit 230 Quadratmetern viel zu großen Eigenheims nun durch die Welt, vorzugsweise Spanien, gondeln kann, würzt sie acht Hähnchenkeulen – mehr passen nicht aufs Backblech des mobilen Elektroofens mit Grillfunktion. Ich nehme mich sehr zusammen, aber unter vier in Wut- und Enttäuschungstränen schwimmenden Augen verlange ich von Christian, dass wir auf- bzw. abbrechen. Sofort. Hier kann ich weder entspannen noch arbeiten. Im Gegenteil. Ich befinde mich in akuter Gefahr, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen, weil ich den einen oder anderen Mord begehen könnte. Vorzugsweise an der Putzfrau.
Von Siggi bekommen wir selbstverständlich unsere Kaution und die zweite, im Voraus bezahlte Nacht zurück. Ach, Mensch, Siggi. Sie macht seit vier Jahren einen vermutlich richtig guten Job. Eine quirlige, herzliche Endvierzigerin, die hier schon als Kind war und eigentlich selber eine Parzelle gekauft hat. Die zu dem Job der Campingchefin durch Zufall kam. Die für alle immer zu sprechen ist. Die von Mobbing unter den Dauercampern erzählt, wenn der Winter zu lang ist. Weil so ein Campingplatz, auf dem ganzjährig auf engstem Raum gewohnt wird, am Ende nichts anderes als ein Dorf ist. Siggi, die gute Seele, lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und als ich zu einer Notlüge greife, warum wir doch schon heute fahren müssen, dann nur aus einem Grund: Ich möchte die sympathische Siggi nicht vors Knie treten. Vielleicht ist es auch wegen Marla, diesem hinreißenden Vierbeiner, der sich zum Abschied noch mal anständig kraulen lässt.
Wir verlassen Altfeld um 10.30 Uhr geradezu fluchtartig. Wobei Altfeld stellvertretend für Deutschland steht. Wir haben nach 16 Tagen die Nase voll von deutschen Campingplätzen. Gestrichen voll! Obwohl wir ja wirklich wunderschöne kennengelernt haben. Aber irgendwie ist der Wurm drin. Und dass sich nun auch der vierte Platz in Folge nicht als Ruhetag qualifiziert konnte, lässt nur einen Schluss zu: Wir machen rüber. Nach Holland. Zu den Käsköppen. Dabei muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts mit Holland verbinde außer den üblichen Klischees. (Alles Gute ist wohl nie beisammen und so gibt es bei den meisten Plätzen wohl einen mehr oder weniger sichtbaren Haken. Was für uns gar nicht geht, ist für andere wahrscheinlich vertretbar oder sogar erwünscht. Eventuell wäre die Musik mit Eröffnung des Schwimmbades sogar ganz verschwunden und dann durch den Lärm der Badegäste ersetzt worden. Wir hätten vielleicht etwas genauer zuhören sollen, denn Siggi hatte es gestern angedeutet: Morgen wird das Schwimmbad eröffnet und alle freuen sich schon darauf. Wir sind uns jedenfalls einig, nach 2 erfolglosen Ruhetagsversuchen werden wir keine Unterkunft mehr für 2 Tage am Stück buchen, sondern uns nur noch von Tag zu Tag hangeln.) Dank der musikalisch untermalten Enttäuschung ist meine Laune mies. Richtig, richtig, richtig mies. Geradezu miesmuschelig trete ich in die Pedale, nur nicht zu kräftig. Ich will Christian nicht nerven. Und schon gar nicht der Möglichkeit geben, mich aufzuheitern. Um Himmels Willen! Das wäre ja geradezu albern. Hab mich schließlich sehr sorgfältig in diese düstere Stimmung manövriert. Schafft er dann aber doch. Mich aufzuheitern. Und zwar mehr als das: Er macht mich glücklich. Christian bremst und zeigt nach links. Wüstenschiffe! Braune und weiße. Das kuschelteppichartige (Winter-)Fell, das in langen Fetzen von den riesigen Körpern und dem Höcker hängt. Weiche Lippen, leichter Überbiss, lange Zungen und umflorter Blick – ich bin mal wieder Schockverliebt. Rupfe wie paralysiert ganze Äste von den bereits auf Weidenseite sehr ramponierten Bäume und siehe da, so ein fremdländisches Dromedar hat im Gegenteil zum heimischen Reh keinerlei Berührungsängste. Mit einer an Arroganz grenzenden Selbstverständlichkeit schnappt es das hingehaltene Grünzeug und zermahlt mit allergrößter Gelassenheit sogar die Zweige, als wären sie Grashalme. Die weiße Dromedarlady bekommt schnell spitz, dass es hier eine Extraportion Futter gibt und wankt in gemächlichen, aber zielstrebigen Schritten auf uns zu. Christian ahnt, warnt – mir egal. Ich kann und will nicht widerstehen – für den Bruchsteil einer Sekunde berühre ich das weiche weiße Maul, das wie zum Pfeifen gespitzt ist. Dann löse ich mein Versprechen ein und pflücke weiter Äste. Ein dritter Kollege kommt neugierig dazu. Christian findet ja, es reicht jetzt mit füttern. Sorgt sich um die Magen- und Darmflora meiner neuen Lieblingstiere. Unsinn. Sieht er denn nicht, wie verhungert sie alle aussehen? Wie karg und abgeerntet die Wiese ist, auf der sie stehen? Ich entblöde mich nur mit allergrößter Selbstkontrolle nicht zum Deppenzeptergriff. Dabei hätte ich wirklich sehr sehr gerne ein Selfie mit den drei kuschellippigen Exoten gemacht. Die übrigens durch einen Holzzaun von träge herumliegenden Kamelen getrennt sind. Es fällt mir schwer, die Fütterung einzustellen und mich wieder aufs Rads zu schwingen. Doch auch wenn heute nicht mal 35 Kilometer zu bewerkstelligen sind, ewig können wir nicht hier rumtrödeln.
Irgendwo im Wald ist es dann soweit: Grenzüberschreitung. Wir machen daraus ein Event mit noch mal auf deutscher Seite ins Gebüsch pullern, noch mal in einen deutschen Bananen-Schokoriegel beißen. Auf deutscher Seite erfolglos versuchen, das Rücklicht zu reparieren. Natürlich bestehe ich auf einem Selfie, auch wenn außer zwei roten Bänden, die an Metallpfosten flattern, nichts darauf hindeutet, dass wir mit nur einer halben Radumdrehung von Deutschland in die Niederlande schieben. Dieser Waldteil ist bei aller Romantik irgendwie auch ein bisschen unheimlich, mit diesen Tarnnetzen, die wie ein Zaun linkerhand von uns ein unüberschaubares Stück Wald abtrennen. Sind wir etwa auf militärischem Gebiet? So was Ähnliches, wie wir wenige Minuten später erkennen. Es handelt sich um ein Paintball-Gebiet. Zur Erklärung für den geneigten Leser über 25: Ein besonders beim Testosteron gebeutelten Teil der Bevölkerung hoch im Kurs stehendes Kriegsspiel, bei dem der Gegner mit Farbkugeln beschossen wird. Kann man cool finden oder auch lassen. In diesem Teil der Niederlande geht Paintball offensichtlich knapp am Breitensport vorbei. Bevor es in Vergessenheit gerät: Unser künftiger Herbergsvater hat uns am Abend noch aufgeklärt: Das, was wir als Grenze identifiziert haben, ist eine ehemalige Kiesgrubbe. Grenze hin oder her, die verwunderten Blicke die wir geerntet haben, sprechen Bände: Wundervolle Straßen und Radwege haben wir hier in den Niederlanden und ihr Deppen schiebt durch ’ne Kiesgrubbe. Na logisch, warum leicht, wenn es auch kompliziert geht? Mein wunderbarer Tourguide hat mir versichert, in den Niederlande ist Camping für nen Appel und n Ei zu kriegen, sprich um die 10 Euro pro Nacht. Aha. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass genaue Recherche sinnvoller ist, als ein nicht durch Daten verifiziertes Wunschdenken. Trotzdem. Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Von denen haben wir aber quasi keine gefunden. Dein wunderbarer Tourguide hat sich aber auch eingebildet, Deutschland wäre das teuerste Land der Welt und die Niederlanden so von Campingplätzen übersät, dass die praktisch alle in Konkurrenz zu einander stehen und sich somit im Preis unterbieten. Aber nix da. Wir verlassen also das Paintballgebiet, fahren vorbei an einer Art Ferienpark mit Holzbungalows, passieren diverse Wiesen, diverse Gewächshäuser, viele Wiesen mit grasenden Kühen oder Schafen, fahren vorbei an einem Morast, sind entzückt von der großartigen Beschaffenheit der Radwege, der Architektur, der liebevollen Gestaltung der Vorgärten, der freundlichen und uns Radler respektierenden Autofahrer, dem Grün der Wiesen, Felder und Wälder. Klingt verliebt? Jo. Auf den ersten Blick quasi. Hmm, hoffentlich merkt bei Deiner wundervollen Aufzählung niemand, das es “quasi” nur 4000 Meter bis zur Herberge waren.
Bei aller Begeisterung bekommen wir dennoch schnell einen Dämpfer, denn es erweist sich als komplizierter, ein geeignetes Fleckchen Rasen für unser Zelt zu bekommen, als angenommen. Der erst beste Platz ist zwar wie von Christian vorhergesagt ziemlich preiswert (13 Euro für zwei Personen inkl. Zelt), bietet aber weder Atmosphäre noch Sitzmöglichkeiten. Für unseren Ruhetag fehlen also zwei grundlegende Voraussetzungen. Weiter geht’s. Wir versuchen es bei einem am Waldrand gelegenen B&B – leider ausgebucht. Mal nebenan probieren, der vermietet auch. Der geneigte Leser ahnt es schon: Auch hier kassieren wir eine Absage. Eine freundliche zwar, aber eine Absage. Es ist noch relativ früh, gerade mal 15 Uhr, also machen wir uns keine großen Sorgen und radeln munter weiter. Hach, was ist es reizend bei den Niederländern. Alles wirkt frisch und ordentlich und liebevoll und dabei gleichzeitig auf charmante Art traditionell. Eine gelungene, unaufdringliche Mischung aus Bauernhof und modernem Einfamilienhaus begegnet uns mehrfach und selbst was bei uns unter Reihenhaussiedlung fallen würde, hat hier seinen besonderen Charme. Begründet in den roten Backsteinen, den weißen Fenstern, den bunten Gärten und den Straßen, die meist auch aus rotem Ziegel gepflastert, statt Schwarz geteert sind.
Schon gut. Das hier soll ja keine Werbebroschüre für die Niederlande werden. Also, wir erreichen nach 33 Kilometern Arcen. Auf der linken Seite eine Gastwirtschaft, die sicherlich schon seit den 60er Jahren existiert. Christian klingelt, versucht durch die Scheiben zu gucken, klopft. Niemand öffnet. Ich schaue die Fassade skeptisch hoch – sehr kleine Fenster. Das sieht nach dunklen Zimmern aus. Innerlich hake ich diese Unterkunft schon ab. Da wird Christian von einer kurzhaarigen Holländerin angesprochen. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Seite bei den Rädern, sehne mich nach einer Zigarette, und sehe: Da passiert gerade etwas Entscheidendes. Und richtig. Annika hat mal in dem Restaurant gearbeitet, und winkt uns ihr zu folgen. Links ums Gebäude rum, an einer kleinen Terrasse unter einem uralten Baum vorbei, noch ein Stück weiter. Ein Kiesweg, ein halb geöffnetes, schwarzglänzendes Metalltor und da kommt Frans. Schüttelt uns freundlich die Hand, begrüßt uns mit reizendem Rudi-Carell-Akzent, zeigt uns ein kleines, auf den ersten Blick tatsächlich dunkles Zimmer mit angrenzendem Bad. Wir mögen den jungenhaft aussehen Holländer auf den ersten Blick, entscheiden uns mit einem wortlosen Zunicken für das Zimmer. Auch wenn 60 Euro nicht gerade ein Schnäppchen sind, schlagen wir ein. Immerhin ist ja Frühstück dabei.
Frans fragt, was wir trinken möchten und bringt eine Fanta und einen Apfelsaft, während wir durch den Rosenbogen in die quadratische, mit alten Bäumen und Büschen umwachsene Oase treten und denken: Ja, alles richtig gemacht. Frans ist unaufgeregt, unaufdringlich und wir dürfen unsere Räder in seinem Schuppen unterstellen. Er gibt uns den Schlüssel, fragt, wann wir frühstücken wollen und verschwindet dann, weil er für seine Frau kochen muss – wie er mit einem Augenzwinkern sagt.
Die Stille des Gartens, die späte Sonne – wir sind glücklich. Weil wir ein bisschen auf unsere Tourkasse achten wollen, koche ich aus dem, was wir noch haben, unser Abendessen im Garten. Es fühlt sich ein bisschen wie zuhause an, hier bei Frans. Um 21 Uhr falle ich vollkommen erschöpft ins Bett. Herrlich! Ein richtiges Bett mit frischer Bettwäsche, einem fluffigen Kopfkissen. Obwohl ich eigentlich noch eine Runde schreiben wollte oder wenigstens das obligatorische Megakniffel im Kopf hatte, stehe ich nicht mal mehr zum Zähneputzen auf. Ich falle in den tiefsten Schlaf seit 20 Tagen und brauche nicht mal Ohropax. Frans hat uns sogar seinen Garten zum Campen angeboten, falls uns das Zimmer zu teuer sein sollte. Frans, falls du wie versprochen liest: Danke, du bist ein wunderbarer Kerl!!!
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Christian
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Superlative. Wer hat die eigentlich erfunden? Und: Wozu braucht es die noch mal genau? Ja, richtig, um den Größenwahngeiern eine Plattform zu bieten. Damit die dann später angeben können: Ich fraß das größte Schnitzel. Ich habe den größten Wohnwagen oder eben: Ich war auf Deutschlands größtem Campingplatz. Der liegt übrigens auf einer Insel mitten im Rhein und ist so überflüssig wie ein Kropf. Wir könnten jetzt natürlich mit Zahlen, Daten, Fakten um uns werfen – aber mal ganz ehrlich, wen interessiert es, ob Jürgen Ich-bin-der-König-von-Mallorca-Drews und diverse DSDS-Nasen hier ihre nichtssagenden Schlager trällern?
Ok, Preismäßig ist der Platz Grav-Insel mit seinen 2000 Stellplätzen (in Worten: Zweitausend! Absurd!) bislang ungeschlagen: Gerade mal 11 Euro hat uns Bernd mit dem trocken-herzlichen Humor pro Nacht berechnet. Duschen kostet nicht extra. Trotzdem verweigere ich am Morgen nach einer ungemütlichen Nacht auch hier den geplanten Ruhetag und Christian ist mehr als einverstanden. Es ist stürmisch, kalt. Um meinen Schlaf nicht zu stören, sitzt mein tapferer Navigator bei gefühlten Minusgraden im Vorzelt, plant unsere nächste Etappe. Ich habe die Augen noch nicht ganz auf, als ich ihn anranze: Hier bleibe ich nicht, wir fahren. Wer ist schon zu liebevoller Kommunikation in der Lage, bei 11 Grad, grauem Himmel, Sturm und dem Wissen, dass die Toiletten knapp 350 Meter entfernt sind? Und wenn du duschen willst, brauchst du entweder flotte fünf Minuten zu Fuß oder fährst eben 504 Meter mit dem Rad – und wir sind im vorderen Drittel des Campingplatzes. Nur, um noch mal zu veranschaulichen, von welch irrsinnigen Dimensionen wir sprechen. Der Frust speist sich aus dem Wissen, dass dies nun schon der zweite Platz ist, der für die dringend notwendige Erholungsphase, sprich für einen entspannten Ruhetag, nicht taugt. Jammern hilft nicht. Ruff uff den Drahtesel und ab geht er, der Peter. Aller guten Dinge sind schließlich drei. (Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Campingplätze hierzulande sind. Inzwischen haben wir geglaubt, alles schon einmal gesehen zu haben. Aber weit gefehlt. Wesel ist in allen Belangen EXTREM. Im Gegensatz zu Tina war ich als Kind nie campen, kann mich aber sehr gut an die teilweise sehr einfache Ausstattung in Osteuropa erinnern. In Wesel sind die Duschen groß genug, um mit dem Elektrorollstuhl hineinzufahren, was wahrscheinlich den Bedürfnissen deutscher Camper zunehmend gerecht wird. Aber besser wird der Campingplatz dadurch auch nicht. Hier ist eine Kleinstadt in der Nähe einer inzwischen fast unbezahlbaren Stadt gegründet worden. Und das, obwohl die Lage im Rhein durchaus nicht die beste zu sein schein. Immer wieder gab es im Laufe der Bestandszeit Überflutungen und der für uns zuständige Platzwart lächelt lediglich, als wir ihm gegenüber den Wind ansprechen und meint ¨Das ist hier immer so¨. Nein, für einen Ruhetag taugt dieser Platz absolut nicht und ich beginne mich zu fragen, warum so viele Menschen in diese Slums ziehen.)
Eigentlich wollen wir uns die 11 Euro für die zweite Nacht und die drei Euro für das nicht genutzte WLAN zurückholen. Drei Euro für 24 Stunden – das muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Wie finanzieren das eigentlich die Dauercamper? Blöderweise sitzt an diesem Morgen nicht unser neuer einbeiniger Freund (er hat einen Bruder und der wohnt in Potsdam. So was verbindet in der Fremde natürlich ungemein) in der Schaltzentrale. Ein brummeliger (weil übermüdeter?) Zausel um die 68 verweist auf die Verwaltung, die aber erst 17 Minuten später besetzt wäre. Zu gereizt, um bis 10 Uhr zu warten, beschließe ich den Aufbruch – ohne Diskussion.
Eigentlich müssten wir jetzt zurück nach wie-heißt-der-Bürgermeister-von-Wesel?-Esel!-Wesel, um dann weiter fahren zu können. Ach, man muss dem geliebten Routenplaner nur mit sanfter Bestimmtheit erklären, dass man überhaupt gar keinen Bock auf die sieben Kilometer zurück hat, als Totschlagargument wirkt wilder Rückenschmerz ja sowieso immer und wenn man dann mit einem grimmigen Gesichtsausdruck andeutet, dass die Stimmung sowieso kurz davor ist, in den Abgrund zu stürzen, da taucht aus dem Nichts eine Fähre auf, mit der man über den Rhein setzen kann. Na, also. Geht doch.
Heftiger Gegenwind, grauer, wolkenverhangener Himmel, kleinköpfige Margeriten, die sich rechts und links neben dem historischen Postdeich biegen, dem Plüstern sich entgegenstemmende, frisch geschorene Schafe, kaum weitere Radler und – Hunger. Es gab nicht mal Tee, weil? Richtig, weil’s zu stürmisch ist. Eine Zumutung, jawohl! Eine Zumutung, nach all den wunderschönen, sonnigen, entspannten Touren. Eben war noch Sommer, jetzt ist schon wieder Herbst? Ja, was stimmt denn mit dem Wetter hier nicht?
Als wir gefühlte 20 Kilometer später endlich die Fähre erreichen, hält gerade ein Golf mit Fahrradanhänger. Quietschfiedele Grauköpfe – vier Pärchen – schnattern fröhlich durcheinander, freuen sich auf ihre Tagestour, und während die Herren der Schöpfung die Räder vom Hänger hieven (natürlich nur schicke E-Bikes), übertrumpfen sich die Damen gegenseitig mit ihren für den Tag vorbereiteten Verpflegungsboxen. Meine Laune sinkt derweil ins Bodenlose. Die Fähre fährt täglich – außer Donnerstags. NATÜRLICH ist heute Donnerstag. Ich fasse unser Pech nicht und bin zu frustriert, um mehr als “Das kann ja wohl nicht wahr sein, so eine verdammte Scheiße!” in unterschiedlicher Intonation von mir zu geben. Christian ist ebenfalls angesäuert. Einzig die holländische Reiseradlerin nimmt es mit Gleichmut und fährt dann eben denselben Weg zurück, den sie vor wenigen Minuten gekommen ist. Unter den Senioren bricht Gelächter aus und der offensichtliche Organisator gesteht munter ein, da hätte man sich wohl besser erkundigen sollen. Verdammte gute Laune! Wir dagegen finden, sowas gehört großformatig entlang des Radweges als Infotafel aufgestellt. Am besten schon ab Wesel.
(Und hier muss ich zugeben: Auch ich hätte mich natürlich erkundigen können und sollen.)
Wir treten also den Rückweg in die unsympathische Stadt an. Ich bleibe sechs bis zehn Fahrradlängen hinter Christian, um mich ausgiebig in wütendem Selbstmitleid zu suhlen. Es ist der 14te Tourtag, der 12te Fahrtag und ich bin mal wieder sauer. Sauer auf das Wetter, die Rückenschmerzen, die Kamikaze-Autofahrer, die schlechten Radwege, kurz, aufs Leben. Hilft aber nix. Von alleine geht’s nicht von Wesel zum nächsten Campingplatz. Da hilft nur treten. Gleichmäßig, ohne noch darüber nachzudenken. Inzwischen sind wir seit echten 20 Kilometern unterwegs. Entschuldigung – ich bin Diabetikerin! Ich brauche was zu essen! (Sage ich natürlich nicht laut. Das wäre zu einfach!) Obwohl ich ziemlich sicher weiß, dass meine schlechte Stimmung in einer wenigstens zehn Quadratmeter dichten, dicken Wolke um mich herumwabert, und damit auch Christian einhüllt, fällt mir nix ein, sie aufzulösen als unfreundlich zu granteln, dass ich nicht mehr kann und was essen muss. Der nächste Discounter ist unserer.
Auf einem unbelebten Marktplatz zwischen zwei Kirchen finden wir eine Bank in der Sonne und stopfen schweigend Brötchen und Aufschnitt in uns rein. Es ist 12 Uhr, die Temperaturen sind endlich wieder so, wie wir es mögen und ich erkenne einmal mehr: Essen hebt die Stimmung. Mein Christian legt schweigend den Mantel der uneingeschränkten Liebe und Toleranz über meine Miesepetrigkeit, wir sind uns einig, dass man in diesem Städtchen eigentlich nur an Langeweile ersticken kann und pfeifen großzügig auf unsere Arroganz, die wir immer dann an den Tag legen, wenn wir nicht so wirklich gut drauf sind. Und heute Vormittag sind wir einfach mal richtig schlecht drauf.
Das bleibt auch noch einige Kilometer so. Dann biegen wir auf die Zielgrade des heutigen Tages – eine Landstraße, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat -, und stoppen. Mai ist nämlich eine prima Zeit, wenn man auf Kindchen Schema geprägt ist. Und wenn einer das ist, dann icke. Und zwar uneingeschränkt, ohne Wenn und Aber. Küken, Fohlen, Lämmer, Kälbchen – sie alle sind uns über den Weg gehopst, gestolpert, gewackelt und gestakst. Kurz vor dem Ziel – Campingplatz Altfeld – stoppt Christian. Er kennt mich. Er weiß, was meine Laune schlagartig hebt. Und wenn es schon kein Hund ist, der sich streicheln lässt – die drei Kälbchen zaubern mir ohne Anstrengung ein verzücktes Lächeln ins Sonnenbrandige Gesicht. Die drei – nennen wir sie der Einfachheit halber Justus, Bob und Peter – sind unendlich niedlich in ihrer kuhäugigen, langsamen Neugierde. Peter – komplett braun – geht zwei Schritte vor. Blick zu uns. Blick zu Bob und Justus. Einen weiteren Schritt. Halt. Bob – komplett weiß – stupst von hinten. Blick zu uns. Senkt den Blick, beginnt demonstrativ desinteressiert zu grasen. Peter dreht sich um zu Justus – schwarz-weiß gefleckt. Der geht seitwärts zum Zaun. Blick zu uns. Einen Schritt vor. Noch einen. Und noch einen. Kopf senken, grasen. Bob und Peter drängen sich an ihren Anführer. Der entscheidet sich für einen weiteren Schritt. Zuviel für Peter. Der macht einen kleinen Hopser und vergrößert den Abstand zwischen uns (mit abgerissen Grasbüscheln in den Händen und freundlichen Stimmen lockend). Bob beschließt sich Peter anzuschließen. Jetzt kann sich auf Justus nicht mehr durchringen, seiner Neugierde und vor allem seinem ewigen Hunger nachzugeben, und die dargebotenen frischen Gräser aus der Hand von zwei verschwitzten Reiseradlern zu fressen. Wir vergessen wieder einmal die Zeit und erfreuen uns an den drei Kälbchen, die tatsächlich wie Freunde wirken, die nichts ohne den anderen tun würden. Sie verlieren ihr Interesse und wir schwingen uns wieder in die Sättel. Ich zugegebenermaßen ganz glücklich.
Dieses warme Gefühl soll sich weniger als eine halbe Stunde noch steigern. Als wir nämlich den Campingplatz von Siggi Hoppe erreichen, weiß ich sofort: Hier möchte ich unseren Ruhetag verbringen. Ach, naives Ding ich. Es ist Donnerstag vor Pfingsten, morgen wird der Swimmingpool eröffnet, das ganze Dorf freut sich schon. Diese winzigen Details überhöre ich – denn Marla hopst fröhlich auf mich zu und lässt sich sofort kraulen. Marla ist zwei, eine Appenzeller-Senn-Hündin, und wickelt mich schneller um den Finger, als ich verliebt seufzen kann. Ich will wieder einen Hund, denke ich in dieser Sekunde. Wieder so einen freundlichen, lustigen, fröhlichen Köter mit langen, seidenweichen Ohren.
Siggi nimmt uns gerne für zwei Tage auf. Wir bekommen einen Platz neben einer Hütte zugewiesen, in der sich eine Küche inklusive Kühlschrank und eine Toilette befindet. Nur für uns. Ich bin begeistert und sicher – das wird ganz wunderbar. Mich kann nicht mal der ältere Herr schräg gegenüber, der seine zwei Quadratmeter Rasen akribisch mit dem Benzinrasenmäher auf Wimbleton-Länge stutzt, aus der Ruhe bringen. Und sobald das Zelt steht, fährt Christian in den nächsten Ort und frischt unsrer Lebensmittelvorräte auf. Ich bin auch nicht untätig und schreibe diesen Bericht.
Ein opulentes Abendmahl, ein Spaziergang über das Gelände inklusive Erkenntnis, auch hier sind die Dauercamper von großer Kreativität, wenn es darum geht, ihre Eigenheime zu verbarrikadieren. Als es Zeit ist für den Schlafsack, bin ich mit dem Tag versöhnt.
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Heute morgen stellen wir beim Abbauen mal wieder einen neuen Rekord auf. Keine 45 Minuten nach dem Aufstehen ist die Morgentoilette erledigt und sind alle Taschen auf den Rädern verstaut. Dennoch will keine so rechte Heiterkeit aufkommen. Tinas Treffen mit ihrer Freundin sind einfach zu selten, und die Gewissheit, einen wunderbaren Menschen so schnell wieder verlassen zu müssen, betrübt auch mich. Gern hätte ich mehr gemeinsame Zeit gehabt, und Tinas Freundin hätte uns sicher auch noch mehr ihrer Zeit geschenkt, aber der Preis für sie wäre hoch gewesen und wir haben ja schließlich ein Ziel: Brügge. Mir wird vor allem bewusst, wir haben zwar viel Zeit, aber eben auch keine Unbegrenzte. Irgendwann werden wir wieder ins normale Leben zurückmüssen und trotz der Freude, die mir diese Tour bereitet, ich freue mich auch auf die vor mir liegende Zeit sehr.
Im Moment quälen mich aber noch andere Probleme. Mein Morgenkaffee hat unser letztes Gas fast völlig aufgebraucht. Zum Glück hat uns unser Bielefelder Nachbar gestern bereits eine ungefähre Wegbeschreibung zu einem örtlichen Outdoorausstatter gegeben, den wir als erstes aufsuchen wollen. Da wir bereits um sagenhafte drei Minuten nach neun von unserem echt charmanten Campingplatz rollen, und sowieso durch Haltern Am See fahren müssen, um ins Industriegelände zum Ausstatter zu kommen, bestehe ich darauf, noch einen kurzen Abstecher bei meiner Freundin, die direkt in der Innenstadt wohnt, zu machen. Eine völlig idiotische und dennoch absolut richtige Entscheidung. Idiotisch, weil meine Freundin vermutlich bis tief in die Nacht gearbeitet hat und wir sie um 9.30 Uhr aus dem Bett klingeln. Absolut richtig, weil ich sie so unendlich mag und vermisse und ich sie einfach noch mal drücken wollte. Sie hat nicht mit uns gerechnet, und wir sprechen auch keine drei Minuten miteinander. Dann schließt sie wieder ihre Wohnungstür. Mich hat dieser kurze Moment sehr bewegt und den ganzen weiteren Tag überlege ich, ob wir nicht einen Tag hätten dranhängen sollen. Dann stehen wir vor dem Outddoorladen und es geschieht, worauf wir uns schon seit Beginn der Tour moralisch vorbereitet haben: Es regnet das erste Mal auf unsere vollgepackten Räder. Oh ja, wir können auch in hektisch. Kramen Regenhose, Regenjacke aus den Tiefen der Taschen. Ich stelle zwei wenig witzige Dinge fest: Ich habe den Wasserschutz für meine Lenkertasche vergessen und in der Regenhose sehe ich nicht nur aus wie eine schwarze Presswurst – und fühle mich auch so. Hilft übrigens ungemein, die angeschlagene Laune zu verbessern. Zum Glück regnet es nicht lange und nicht sehr intensiv, aber es reicht, um das erste Mal wirklich nass zu werden. Beim anschließenden Frühstück bei einem Bäcker eines Supermarktes lassen wir uns dann auch sehr viel Zeit. Keiner von uns ist heute morgen in allerbester Stimmung. Bei Tee, Kaffee, belegten Brötchen und einem steinhart gekochten Ei schauen wir dem Filialleiter bei einem Vorstellungsgespräch zu, das dieser wegen der drückenden Schwüle offensichtlich nicht in seinem Büro führen möchte. Ich vermute aber: Wahrscheinlich hat er bloß nicht aufgeräumt.
Als wir uns dann doch endlich aufraffen können, kommen wir trotz des guten Rückenwindes nicht so richtig in Schwung. Statt zu radeln, schleichen wir die ersten Kilometer durch die Gegend. Lustlos, antriebslos, scheinbar sogar ziellos. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob tatsächlich unsere Stimmung die Landschaft so trostlos erscheinen lässt. Ich stürze mich mit Kamera auf ein paar Mohn- und Kornblumen, damit wenigstens ein bisschen Farbe in den Tag kommt.Aber so richtig cool ist die durchfahrende Gegend dann doch auch wieder einmal nicht. So beschließe ich dann auch, nachdem wir so fast schöne Orte wie Dorsten und Datteln durchfahren müssen, auf der Hälfte der heutigen Strecke dem Navi die Führung zu entreißen. In einem Anflug von Schönheitsbedürfnis entscheide ich mich für eine Weiterfahrt am Weser-Datteln-Kanal, der laut Auskunft eines Pärchens (das ausgerechnet unsere Mittagspausenbank okkupiert – übrigens die einzige Bank weit und breit!) bis nach Wesel führen soll. Eine klare Fehlentscheidung, wie sich herausstellen wird. Weil, schöner wird es hier auch nicht und statt direkt von hinten, kommt der Wind hier zumindest so schräg, dass er unserer Weiterfahrt ein wenig ausbremst. Wie öde kann eine Fahrt entlang von Wasser und Wiesen eigentlich sein? Alter Holländer, so eine ätzende Strecke. Und nur, um es auch einmal gesagt zu haben: Nicht eine einzige verdammte Bank. Wir versuchen trotzdem weiterhin eine passende Sitzgelegenheit für unsere Mittagspause zu finden und ich vertröste Tina im Minutentakt auf die nächste Brücke, Kurve, Schleuse. Aber nix da. Der verdammte Kanal bietet kein ruhiges Plätzchen, um die neue Gaskartusche auszuprobieren und die vom Frühstück übrig gebliebenen Brötchen aufzufuttern. Irgendwann lässt sich Tina aber nicht mehr länger hinhalten und bestimmt eine Rast, so dass wir völlig ausgelaugt auf der Treppe einer extrem lauten Behelfsbrücke unsere letzten Vorräte vernichten. Wahrscheinlich existiert diese Behelfsbrücke auch schon seit über 40 Jahren und die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass es ständig kracht und scheppert, als würde das Metall jeden Moment bersten. Himmel, was sind wir lärmempfindlich dieser Tage. Aber auch nicht lärmempfindlich genug, um unsere Rast abzubrechen. Ach, seien wir doch mal ehrlich: Ist man scheiße drauf, dann gibt es doch nichts Besseres als irgendetwas, über das man sich nach Herzenslust aufregen kann. Oder? So lecker des Essens auch ist, unsere Motivation hält sich auch nach 18 Kilometern am Kanal entlang weiterhin in Grenzen und ich übergebe dem Navi wieder die Führung. Immerhin kann ich es heute wenigstens verstehen und so verlassen wir den Kanal gerade rechtzeitig, bevor die Lippe in ihn und er in den Rhein führt. Spätestens jetzt ist klar, an der Stimmung liegt die Scheißgegend nicht. Sollte hier jemand lesen, der zufällig aus Wesel kommt – mein herzliches Beileid. Meine Güte, ist das eine hässliche Ecke. Trostlos, grau, abweisend, laut, chaotisch, wenn ich das hinzufügen darf. Wobei es “hässliche Ecke” absolut auf den Punkt bringt. Und diese Abneigung beruht scheinbar auch auf Gegenseitigkeit. Denn kaum sind wir vom Kanal auf den offiziellen Radweg abgebogen, versucht auch schon ein Angestellter der Hafenspedition mich mit seinem 40-Tonner zu überrollen. LKWS und Radfahrer – immer eine sehr brisante Mischung. Ich brülle unanständige Worte in schneller Reihenfolge. Was natürlich weder der LKW-Fahrer noch sonst jemand in seiner Blechbüchse hört. Das Blöde bei einem vollbepackten Rad: Die beidhändige Mittelfingerzeigung gelingt mir nicht, ohne mich in Lebensgefahr zu bringen. Also verzichte ich laut fluchend. Nach dem Schreck lade ich Tina erst einmal zum leckeren Eis mit Erdbeeren ein, das zwar wirklich lecker, aber mit 18 € für zwei Portionen völlig übertrieben teuer ist. Wolltest du an dieser Stelle nicht so richtig auf den Putz hauen?! Gut, dann übernehme ich kurz und knackig: Es handelt sich um jeweils EINE Kugel Eis und jeder bekommt ZWEI in Scheiben geschnittene Erdbeeren, die sehr gekonnt mit Schokofäden überzogen und mit einem Pfefferminzblättchen dekoriert sind. Köstlich, in der Tat. Aber bin ich hier bei Königs, wo man Winzportionen auf riesigen Tellern anrichtet, einfach weils schick ist?! Christian zahlt insgesamt 25 Euro und ich bin kurz davor zu platzen. Und zwar nicht wegen Völlerei, das dürfte klar sein. Dieser Tag hat blöd begonnen und scheint sich auch so von uns verabschieden zu wollen.
In Wesel ist es nämlich wieder so laut, dass ich alle 100 Meter das Navi rauskramen muss, um mich des Weges zu versichern. So dauern die letzten Kilometer bis zum Campingplatz dann auch noch einmal eine geschlagene Stunde. Gegenwind noch und nöcher. Wir fahren auf einem künstlich aufgeschütteten Deich, rechts und links Schafe, vereinzelt auch andere Radler, aber Spaß macht die Fahrt nicht. Wenn der Tag bislang makaber war, jetzt kommt das Sahnehäubchen. Der Platz ist zwar sensationell günstig. Aber, da er auf einer Rheininsel liegt, auch sensationell windig. An dieser Stelle sei hinzugefügt, wir sprechen hier von der Grav-Insel. Im Jahr 1969 von einem Visionär ins Leben gerufen und innerhalb der vergangenen 49 Jahre zu dem gemacht, was er jetzt ist. Allerdings wissen wir das bei der Ankunft noch nicht, und da wir jetzt dringend einen Ruhetag brauchen, buchen wir auch gleich zwei Tage. Ich übernehme die sich etwas hinziehenden Formalien mit Bernd, den Herrn über die Platzverteilung. Bernd ist genau aus dem Holz geschnitzt, wie ich Menschen in solchen Positionen mag: Ein bisschen kodderig, ein bisschen rau, ein bisschen ironisch und dabei absolut liebenswert. Typ raue Schale, weicher Kerl. Bernd lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen, spricht gleichzeitig mit drei unterschiedlichen Menschen, die einen Platz buchen möchten, bedient nebenbei die Schranke, telefoniert mit einem Anrufer und funkt einen Kollegen an, der den Campern ihren Platz per Elektrowägelchen zeigt. Und als ich ihn später anpflaume, dass WLAN ja wohl ein Grundbedürfnis, ja, ein Grundrecht ist, und dass 3 Euro pro 24 Stunden eine Frechheit sind, will er mir am liebsten die Zugangsdaten schenken. Gesteht er wenig später im Waschraum und entschuldigt sich quasi, dass er es nicht tun konnte, weil da noch ein Kunde war. Ach, Bernd, du Goldjunge.
Was uns hier erwartet, schlägt unserem fassrunden Verständnis von Camping endgültig den Boden aus. Denn Wesel rühmt sich als der größte Campingplatz Deutschlands mit über 2000 Parzellen – Dauercamper wohlgemerkt. Die paar Tagesgäste fallen da nicht wirklich ins Gewicht und sind wahrscheinlich nur deswegen da, um sich den Status Campingplatz nicht zu versauen. Da wundert es uns auch fast gar nicht mehr, dass hier ein absoluter Discountplatz entstanden ist. Ein riesiges Gebäude im Zentrum des Platzes bietet alles was das Camperherz begehrt. Supermarkt, großzügige Wasch- und Duschmöglichkeiten, Restaurants. Und vor den sanitären Anlange – festhalten, Leute – gibt’s buntes, blinkendes Jahrmarktfeeling. Zu den Hits der 80er Jahre kann man an diversen Automaten sein Geld vernichten. Per Greifarm ein neues Handy oder ein Kuscheltier versuchen zu ergattern. Und Mutti sitzt auf Wohnzimmerartigen Stoffbänken und schaut zu. Unglaublich. Ein freundlicher Mensch mit dunklen Knopfaugen und indianischen Zügen zeigt uns freundlich, wo wir unsere Wäsche waschen können. Micha arbeitet hier seit sechs Jahren, wohnt seit drei Jahren sogar hier und mag seinen Job. Und dann stehen wir vor den Waschmaschinen und erfahren von Micha und Bernd, dass es ein 3-Schicht-System an der Pforte gibt, dass Dreiviertel der Camper einen Dauerplatz haben… Irgendwie kommt hier eher das Gefühl eines Freizeitparks auf, statt dem einer ruhigen Unterkunft im Grünen. Wieder ein gelungenes Beispiel für unser Projekt, Deutschland, wie du campst. Und weil es zu windig ist, um unseren Gaskocher anzuwerfen, gönnen wir uns spontan und eine halbe Stunde vor Schluss noch das Mittelmeer-Buffet für 10 Euro pro Person. Essen mehr, als uns guttut. Der Wein schmeckt nicht, das Gyros ist kalt, genau wie die Pommes, aber das mediterrane Gemüse mit dem Tsatsiki ist lecker. Ein Gedanke blitzt auf, den ich nicht zulassen möchte, der aber noch in dieser Nacht zu einem Entschluss wächst.
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Christian
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Ah! Was für ein Luxus. Schon zwei Nächte in einem richtigen Bett = keine Rückenschmerzen. Ich gewinne fast meine alte Fröhlichkeitsform zurück und genieße unser Ponderosa-Frühstück, das inzwischen aus Fünf-Korn-Müsli mit Trockenfrüchten und Joghurt besteht. Die Nacht im einzigen Gartenhaus mit überdachter “Terrasse” war erholsam, die heutige Etappe ist ein Klacks. Die geradezu lächerlichen 50 Kilometer bis nach Haltern am See, wo eine meiner langjährigsten und liebsten Freundinnen aus Studienzeiten seit sechs Jahren lebt, werden wir auf einer Arschbacke abradeln. Und obwohl meine an der Uni Bochum unterrichtende Freundin eigentlich überhaupt keine Zeit hat, will sie sich mit uns treffen und hat uns im Vorfeld zwei Campingplätze in fünf Kilometern Entfernung von ihrer Wohnung vorgeschlagen.
Wir lassen uns an diesem Morgen viel Zeit, verbummeln quasi den Vormittag und verlassen erst um 11.30 Uhr den Kranencamp, nicht ohne noch einen kleinen Spaziergang zum “Hafen” zu machen. Einmal mehr sind wir uns einig: Dauercampen mit Gartenzwergen, Benzinrasenmäher für vier Quadratmeter Rasen und in der Nacht blinkenden Leuchtturm vorm kiesgestreuten Vorplatz können weiterhin gerne die anderen. Wir im Leben nicht. Soviel ist inzwischen klar: Dauercamper im Münsterland unterscheiden sich nicht mal im Ansatz von denen in Niedersachsen. Außer, dass sie ein klitzekleines bisschen redseliger sind und einen charmanteren Akzent haben. Blöd nur, dass uns allmählich das Lästerpotenzial ausgeht, wollen wir uns mit unseren spöttisch-ratlosen Bemerkungen nicht ständig wiederholen. In größter Entspannung packen wir zusammen und verlassen mit guten Wünschen für unsere Reise den Platz.
Die heutige Strecke ist wenig aufregend. Der größte Nervfaktor der erste Mückenstich auf dem rechten mittleren Zeh. Nach entspannten zwei Stunden und 45 Minuten Fahrzeit erreichen wir den Jugendkreiscampingplatz, 5,5 Kilometer vor Haltern Am See. Es ist immer wieder faszinierend, wie schnell Menschen unangenehme Ereignisse verdrängen. Jup, haste Recht, die Fahrt war schon entspannend, zumindest ab dann, als wir sie endlich beginnen konnten. Senden hatte nämlich keinesfalls vor, uns einfach so abreisen zu lassen. Die Stadt ist ein einziger riesiger Kreisverkehr mit 1000 Kindern, die allerdings alle ¨in der Fertigstellung¨ sind. Fahrtechnisch Chaos pur! Wir haben geschlagene 45 Minuten gebraucht um einen Ausweg in die richtige Himmelsrichtung zu finden. Aber zurück zum Kreisjugendzeltplatz.
Ohne groß Spannung aufzubauen und ihn zu beschreiben: Er ist gruselig. Verlassen. Ver-und runtergekommen. Verwaist. Er lässt mich frösteln. Egal, was Christian sagt “Ist doch nur für eine Nacht¨, egal, wie nett die studentische Aushilfskraft ist (“Die Stadt verlängert nach 15 Jahren die Pacht nicht mehr; obwohl wir protestiert haben, müssen wir hier abbauen. Der Platz wird dichtgemacht, vermutlich werden sie hier Wohnungen bauen.”) – auf diesem Friedhof bleibe ich keine Sekunde länger als nötig. Wieder mal gibt mir mein Bauchgefühl recht. Denn keine zwei Kilometer weiter werden wir mit rheinländischer Freundlichkeit – laut, kodderig, herzlich – auf dem seit über 50 Jahren existierenden Campingplatz Hoher Niemen begrüßt. Wir fahren weiter zur Anmeldung, aber am Verwaltungsbau, der auch schon bessere Tage gesehen hat, hängt nur ein Zettel mit Handynummer. Dann eben erst mal eine Tüte Pommes. Wir gehen zurück zum Imbissstand, wo der glatzköpfige André aus Bochum vor wenigen Tagen das Küchenzepter übernommen hat und voller Elan und Pläne für die Zukunft kulinarische Abwechslung in den Alltag der 200 Dauercamper bringen will. Mit Dönerspieß, asiatischem und griechischem Abend, und überhaupt ganz groß. Das Merkwürdige ist nur, dem Kerl nimmt man das ab. Der macht das wirklich. Und auf einem Campingplatz, auf dem 300 Dauercamper leben, könnte das Konzept sogar wirklich funktionieren. Wir wünschen ihm jedenfalls das Beste. Am Biertisch schräg neben dem Wagen sitzen drei Kerle, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Der eine, Gesicht wie eine Bulldogge und genauso ein Gemüt, im Feinripp über der Wampe, blinzelt neugierig durch eine Brille. Seinen beiden klapperdürren Kumpel möchte ich am liebsten die Bierpullen wegnehmen und sie stattdessen mit hochkalorischem füttern und vorher noch zum Zahnarzt schleppen. Die drei Bierbrüder lassen es sich nicht nehmen, uns mit ungefragter Selbstverständlichkeit sofort zu helfen, indem sie beim Platzwart anrufen. Wir bestellen bei André jeder eine Portion Pommes Schranke (Ketchup-Majo, für den Nicht-Rheinländer), während uns einer der dürren Zahnlosen erklärt, wo wir unser Zelt aufstellen sollen. Und wenn bis morgen keiner zum kassieren kommt, sollen wir einfach so wieder fahren. Diese Schlitzohren hauen sich vor Begeisterung auf die mageren Schenkel, das Bulldoggengesicht grinst breit und wir fühlen uns so vorurteilsfrei und freundlich willkommen, wie bislang noch nicht. Während wir unserer Pommes kauen und mit André plaudern, als kennten wir uns schon seit Jahren, kommt Jörg-ich-hab-heute-eigentlich-frei auf seinem Roller, einen blonden 14-Jährigen als Beifahrer. Jörgs muskulösen, tätowierten Arme, sein Bart, sein langer Zopf unter dem Basecap erinnern mich wieder mal daran, dass ich diese Motorradtypen gut leiden kann. Ähm Motorradtyp? Unbedingt. 50iger Roller ist auch nur was für echte Kerle. Jörg wirkt im Gegensatz zu den drei Biertischlern beinahe schüchtern. Ist aber von gleicher entwaffnender, offener Herzlichkeit. Er verlangt lediglich 12 Euro – “Duschen kostet nix. Kannst so lange heiß duschen, wie du willst.” – und nimmt uns das Versprechen ab, uns zu melden, wenn irgendwas ist.
Wir bauen unser Zelt zwischen einem dunkelrot blühenden Rhododendronbusch und einem Wohnmobil aus Bielefeld auf, ich rufe meine Freundin an und wir verabreden uns für 17.15 Uhr auf dem Marktplatz von Haltern Am See. Zwei Stunden Zeit, um ein bisschen mit dem Bielefelder Dauercamper zu plaudern, dessen Frau aus Haltern stammt und die regelmäßig hierherkommen, es sich finanziell aber nicht leisten können, hier zu wohnen. Wir bekommen Tipps, wie wir am besten Richtung Brügge fahren, wo wir im Industriegebiet unser Kochgas nachkaufen können. Zwei Stunden Zeit, um zu duschen und sich einigermaßen “stadtfein” zu kleiden. Endlich kommen Wimperntusche, Lidschattenstift und Augenbraunpuder zum Einsatz. Scheinen aber keinerlei Wirkung zu haben – Christian bemerkt die sanfte Restaurierung nicht und meine Freundin staunt sowieso nur über unsere dunkelbraune Gesichtsfarbe. Wenn das man kein gelungener Bluff ist: Erholt aussehen, obwohl man’s nicht wirklich ist. Aber mein Schatz, natürlich merke ich nichts! Ich bin dann letzten Endes doch nur ein Kerl. Du merkst ja auch nicht, welche Sorte von Öl ich an den Pfoten habe. Überhaupt staune ich, dass ich so unprätentiös und uneitel sein kann und mich trotzdem beinahe wohl fühle. Ehrlich gesagt ist es mir egal, dass ich klobige Treckingschuhe in verschmutztem Grau, statt luftige Sandaletten zu einem meiner Lieblingskleider trage. Normalerweise sind nämlich Schuhe und Handtasche farblich aufeinander abgestimmt, passen perfekt zum Kleid, genau wie der Lippenstift. Und natürlich gehe ich nicht aus dem Haus, ohne die Haare so perfekt wie möglich in Form gebracht zu haben. Hilfe, ich vergammle!
Nachdem ich endlich ein neues Fahrradschloss gekauft habe, bekommen wir eine kleine Führung durch das touristisch ziemlich überlaufene Haltern Am See. Dann gibt’s noch einen Ausflug zum Silbersee (der im Sommer so von Besuchern im Umkreis von 50 Kilometern überfüllt ist, dass die Anwohner schon längst nur noch nach Sonnenuntergang oder unter der Woche zum schwimmen in die ehemalige Sandgrube kommen). Anschließend fahren wir zum kleinen Yachthafen von Haltern, trinken mit Blick über den See auf einer netten Terrasse Mangoschorle, Weißwein und Radler.
Fünf Stunden Zeit hat sich meine Freundin für uns genommen. Fünf kostbare Stunden, die eigentlich noch zu wenig sind. Während sie um halb zehn zurück an den Schreibtisch muss, um ihre Seminare an der Uni für den folgenden Tag vorzubereiten, radeln wir entspannt durch die Dämmerung und durch den Wald zurück zu unserem Campingplatz. Und wie endet ein entspannter Abend? Richtig. Kompliziert. So gehört es sich einfach. Und deswegen stehen wir vor dem verschlossenen Eisentor. Es ist 22.30 Uhr, überall dunkel und keiner der Dauercamper führt seinen kleinen Köter zur Gutenachtrunde Gassi. Während ich mich schon lässig über das Tor klettern sehe (ohne genau zu wissen, wie ich das eigentlich bewerkstelligen soll), fummelt Christian mit unserem Hausschlüssel am Schloss rum. Es macht klack – und mit einer höflichen Verbeugung lässt mich mein Held eintreten. Ich bin fasziniert, begeistert und noch ein bisschen mehr verliebt als sowieso schon. Natürlich kommt in der Sekunde der Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner ein letztes Mal das Bein heben lässt und einer der Dauercamper fährt im Schritttempo mit seinem uralten Opel auf den Platz… Gute Nacht, Freunde. Es war ein ziemlich vollkommener Tag und die Zeit die uns Tinas Freundin geschenkt hat, macht mir wieder bewusst, dass Zeit eben ein unglaublicher Luxus sein kann. Wir haben im Moment diese Zeit und ich möchte an dieser Stelle mal ganz herzlich all jenen danken, die sie uns ermöglichen.
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