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Tag 25 – von Middelburg nach Potsdam

So. Neue Woche, neues Glück. Und damit kommen wir gleich zur wichtigsten Frage des Tages: Wann ist eigentlich eine gute Zeit, um zu starten? Also, den neuen Tag entspannt, weil ausgeruht zu beginnen? Bevor hier irgendjemand Absurditäten in den Raum trötet, greife ich mal vor und erkläre: Definitiv ist 4.30 Uhr keine gute Zeit. Vollkommen indiskutabel. Maximal ok, um nach dem wattigen Lärmschutz zu tasten und sich in die Ohren zu schrauben. Liebe Daheimgebliebenen, liebe arbeitende Bevölkerung: 4.30 Uhr ist eine echte Kackzeit! Jeder, der um 4.30 Uhr aufstehen muss, wird von mir aufs allergrößte bedauert und bewundert. Ich finde 4.30 Uhr ist mindestens drei Stunden zu früh für alles.

Interessiert aber meine innere Uhr offensichtlich gar nicht. An diesem Montagmorgen um 4.30 Uhr macht es klack – meine Augen klappen auf, ich bin hellwach und gleichzeitig schreiend müde. Draußen ist irritierende Ruhe. Kein einziges Tirili, kein gedämpftes Tschilpen, kein scheues Kuckuck. Nüscht. Stille. Abgesehen vom leisen Schnorcheln im Nachbarschlafsack. Dafür kann ich nicht schlucken, ohne dass Reibeisenassoziationen vor meinem inneren Auge aufploppen. Mein Hals ist rau und wund und ich kann quasi seine Röte spüren. Ah, verdammt. Halsschmerzen! Ganz schlechtes Zeichen. Ich krame so leise es geht nach einem Bonbon, kuschele mich wieder in den Schlafsack und schlucke probehalber noch mal. Nein. Kein doofer Traum. Ich habe tatsächlich schmerzhafte Schluckbeschwerden. Ich werde krank? Echt jetzt? Keine 150 Kilometer vor Amsterdam? Gibt’s ja wohl nicht. Geht gar nicht. Ein winziges Gedankensamenkörnchen buddelt sich in mein noch träge arbeitendes Hirn. Ich kneife die Augen zu, es ist einfach noch viel, viel zu früh für alles. Ich beschließe, einfach nicht mehr zu schlucken, und während ich mich krampfhaft darauf konzentriere, schlafe ich wieder ein. Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ratzt mein Frühaufsteher immer noch, sind die Halsschmerzen noch immer da, zeigt die Uhr immerhin schon 7.30 Uhr.

Das Gedankensamenkörnchen von 4.30 Uhr ist zu einem riesigen Gedankenbaum gewachsen, der nur eine einzige Frucht trägt. Name: Fahrverweigerung. Mein Hirn beginnt direkt zu arbeiten und der Gedanken rollt sich vor mir aus zu zwei Sätzen: „Ich möchte heute lieber mit dem Zug nach Amsterdam. Ich möchte mich nicht quälen müssen.“ Überrascht liege ich einen Moment still und lausche in mich. Hab ich das wirklich gedacht? Ich möchte mit dem Zug nach Amsterdam – statt mit dem Rad zu fahren? Ich will mich nicht quälen müssen? Und nur, weil ich ein bisschen Halsschmerzen habe?! Was stimmt denn mit mir nicht?

Verlassen, aber mit pünktlichem Zugverkehr. Ohne Probleme kann man in Holland sein Rad mit in den Zug nehmen.

Beim rauspellen aus dem Schlafsack, beim Schlappen suchen, auf dem Weg zu den Waschräumen, beim Zähneputzen – meine Gedanken kreisen nur darum, wie ich es formuliere, ohne dass es kränklich oder zickig oder nörgelig oder …. „Ich würde gerne mit Zug nach Amsterdam fahren“, sage ich schließlich, während wir beim Frühstück sitzen. Es ist gerade mal 9 Uhr, die Sonne brutzelt jetzt schon, wir haben alles zusammen gepackt und ich habe tatsächlich die Geduld aufgebracht, bis zu diesem Moment zu warten. Überraschenderweise scheint Christian beinahe erleichtert – gibt allerdings zu bedenken, dass es von hier aus schwierig wird nach Amsterdam zu kommen. Völlig egal. Er ist nicht enttäuscht. Alles andere wird sich finden. Innerlich gönne mir einen riesigen Behaglichkeitsseufzer. 

Und was dann passiert, irritiert uns beide – und entlastet uns augenblicklich. Es steht nämlich die Frage im Raum, ob wir überhaupt noch nach Amsterdam wollen? Jetzt, wo die Luft offensichtlich raus ist – aus unseren Körpern wie auch aus den Geldbörsen. Wäre es ein aufgeben, jetzt direkt nach Hause zu fahren? Wir sind uns geradezu absurd schnell einig: NEIN. Unser Ziel war immer Brügge. Amsterdam hatten wir als Endpunkt gewählt, weil man von dort aus schnell (weniger als sechs Stunden) und unkompliziert (entweder per Flix-Bus oder der Deutschen Bahn) zurück nach Potsdam kommt. Jeder betont, kein Problem damit zu haben, dieses Mal nicht nach Amsterdam zu fahren. Läuft uns ja nicht weg, versichern wir uns gegenseitig und sind glücklich und stolz und befreit, dass wir diese Entscheidung so leicht und mühelos getroffen haben.

Bis zum Bahnhof nach Middelburg sind es knapp sieben Kilometer. Und während wir in die Pedalen treten, denke ich bedauernd, vielleicht war mein Vorschlag vorschnell; vielleicht sind die Halsschmerzen gar kein Warnzeichen meines erschöpften Körpers, sondern nur die Probe auf Exempel, ob ich die letzten 150 Kilometer auch noch schaffen will. Doch dieser kleine Gedankenkonflikt löst sich in Wohlgefallen auf, als wir den Bahnhof nach einigem rumkurven durch die Fußgängerzone finden. Am Bahnsteig treffen wir auf ein holländisches Radlerpaar – er wirkt wie ein Guru für Bewusstseinserweiternde Seminare; ihr sieht man an, dass sie seit über 50 Jahren raucht und das bisschen, was sie isst, lieber in Hochprozentigem zu sich nimmt. Beide sind unglaublich herzlich und hilfsbereit. Gemeinsam hieven wir unsere vier vollgepackten Räder in den richtigen Zug. So unkompliziert ist das nämlich bei unseren holländischen Freunden: Jeder Zug – ob Regio oder IC – hat mehrere Radabteile. Sind sie voll, hat man Pech. Ansonsten steigt man mit seinem Rad einfach ein. Ohne Reservierung, ohne kompliziertes Prozedere à la Deutsche Bahn, die sich einmal mehr ein absolutes Armutszeugnis ausstellt, wenn es um Spontan-Reisen geht. Unter drei Tage im Voraus reservieren geht da nämlich schon mal gar nicht. 

Zwei fröhliche holländische Reiseradler, denen wir beim Aus- und Umsteigen behilflich sind.

Die beiden Radler bitten uns, ihnen beim nächsten Bahnhof mit den Rädern zu helfen, weil sie nur zwei Minuten Umsteigezeit haben. Machen wir gerne. In einiger Hektik werden erst unsere beiden Räder an den anderen Mitfahrenden bzw. Aussteigenden vorbei geschoben und auf dem Bahnsteig geparkt. Dann die holländischen Fietsen, </em>dann unsere Räder wieder rein. Wir verabschieden uns eilig, aber fröhlich, uns fliegen noch Kusshändchen zu. Sehr schräg die beiden, sagen wir noch und schauen verträumt aus dem Fenster. Etwa eine Minute nach der herzlichen Verabschiedung starrt Christian mich an: „Wir müssen hier auch umsteigen.“ Hä? Wie jetzt? Scherz? Nein. Mein Navigator macht keinen blöden Witz, sondern zieht schon sein Rad aus der Ecke. Ich tue es ihm nach, wir hieven unsere Räder raus. Zum Glück müssen wir nur den Bahnsteig wechseln – aber: Unser Zug fährt ganz vorne los. Und wir stehen selbstverständlich ganz hinten. Wir sprinten los, ich nutze das Rad wie einen Roller, weil, fahren traue ich mich dann doch nicht. Ich erreiche den hintersten Wagon, als das Geräusch der sich schließenden Türen erklingt. Ich  drücke wie blöd auf den Knopf, der die Tür wieder öffnet. Sehe vorne den Schaffner zur Abfahrt winken. Ich winke ihm zu, versuche verzweifelt zu signalisieren, wir brauchen nur noch einen Moment. Drehe mich um, Christian ist noch immer mindestens zehn Meter entfernt. Warum rollert er nicht, denke ich und brülle gleichzeitig seinen Namen. Drücke erneut auf den Knopf und endlich, die Tür zum Zugabteil öffnet sich. Ich entwickle Bärenkräfte und hieve mein schweres Rad ohne Hilfe ins Abteil. Schaue dabei in die staunenden Augen vom Guru und der Schnapsdrossel mit den knallroten Lippen. Und endlich erreicht auch Christian den Zug, schiebt den Silberpfeil neben Betty Blue. In buchstäblich letzter Sekunde. Die Tür schließt sich und schon rollt der Zug an. Aller Holländer, so richtig was gelernt haben wir die vergangenen drei Wochen irgendwie nicht, oder? Die nächste Bahn wäre in einer Stunde gefahren. Also – wozu eigentlich der ganze überflüssige Stress?

Wir lachen stolz, dass wir es geschafft haben. Unsere beiden holländischen Radler freuen sich, dass wir uns wiedersehen und unsere Plauderei hat die Qualität von alten Bekannten, die sich zufällig wiedersehen. Bevor sie im Abteil verschwinden, bittet die rotlippige Schnapsdrossel, beim übernächsten Halt mit den Rädern zu helfen, weil sie dann nur – richtig! – zwei Minuten Zeit zum umsteigen haben. Der Guru unterbricht seine flatterige Gefährtin und beruhigt: Sie haben ganze sieben Minuten. Na ja, dann. Sie entschuldigt sich, immer so nervös zu sein und dann erzählen sie uns von ihrem Tripp, der sie quer durch Holland geführt hat. Sie nutzen dabei vrienden op de fiets (Fahrradfreunde): Man melde sich im Internet an, zahlt einmalig eine Gebühr von 80 Euro und kriegt dann für ein Jahr lang ganze Häuser oder eben Wohnung vermittelt. Pro Person, pro Nacht für 39 Euro, inklusive Frühstück. Ist jetzt noch mal um einiges teurer als mit dem Zelt, dafür aber natürlich spannend, luxuriös und preiswerter als im Hotel zu übernachten. Und da der Guru und die Schnapsdrossel jeweils die 70 fröhlich  überschritten haben dürften, ist das natürlich eine super Alternative zum Zelten bzw. zum Hotel. Die Fotos, die sie auf ihrem Handy zeigt, machen jedenfalls Lust darauf, dieses „System“ auch mal auszuprobieren. So in zehn Jahren oder wenn wir beide reich und berühmt geworden sind. 

Dann kommt der Schaffner, will aber nicht etwa unsere Tickets sondern, sondern grinst uns an und fragt mit charmantem Akzent auf Englisch, ob ich das gewesen wäre, mit dem Aufspringen in letzter Sekunde. Ich nicke und entschuldige mich zerknirscht. Und er? Grinst diebisch erfreut und lacht: „You did a good job – I did a good job. Everybody is happy.“ Wie? Keine oberlehrerhafte Standpauke, die man sich bei der Deutschen Bahn mit gesenktem Kopf hätte anhören müssen? Nee. Es gibt ein Lob, dass wir so pfiffig waren, den Zug noch geschafft zu haben. Komm, Liebling, lass uns zu den Holländern ziehen.

So komfortabel reisen Räder bei der holländischen Bahn: Mit eigener Parkbucht, wo sie niemanden stören.

Der Guru hatte behauptet, in Hengelo würde es einen Bahnschalter der Deutschen Bahn geben. Da könnten wir dann unsere Rad-Reservierung bekommen. Deswegen sind wir ziemlich entspannt, was unsere Weiterfahrt nach Potsdam angeht. Denn via Internet können wir zwar zwei Sitzplätze für uns reservieren, aber nicht für unsere Räder. Ich schalte per whatsapp Christians Schwester ein, die unschlagbar ist, wenn es um recherchieren von unmöglichen Dingen ist. Aber auch Jule kann nicht weiterhelfen. Wir vertrösten uns gegenseitig auf Hengelo. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Es gibt dort keinen Schalter der deutschen Bahn. Dafür bekomme ich eine „Notfallnummer“, die ich anrufe. Auf Englisch erkläre ich unseren Wunsch – wir möchten noch heute nach Deutschland, mit unseren Rädern. Familienangelegenheit. Dringend und so. Ein bisschen auf die Tränendrüse würde helfen, dachte ich. Tja, nicht denken, nachdenken. Hätte ich das getan, wäre mir wieder eingefallen, dass bei der Deutschen Bahn (und bekanntlich nicht nur da) größter Wert auf Umständlichkeit und Kundenunfreundlichkeit gelegt wird.  Die freundliche Holländerin bestätigt das auch, gibt alles – kann uns nach 20 Minuten aber auch nur Tickets inklusive Radreservierung für den folgenden Tag, 14.30 Uhr ab Osnabrück organisieren. Ich sehe mich schon mit den Eltern meines besten Freundes telefonieren, ob sie uns in ihrem Garten zelten lassen würden. Ich gebe meine Kreditkartennummer am Telefon durch (Ich will keinen Kommentar hören! KEINEN!), bestätigte die Zahlung von 99 Euro für zwei Personen und zwei Räder und entscheide dann gemeinsam mit Christian, dass wir auch versuchen können, uns mit den Regionalbahnen nach Hause durchzuschlagen. Das, was ich vor einer halben Stunden noch vehement abgelehnt hatte, erscheint mir angesichts der drohenden Zeltnacht in irgendeinem Osnabrücker Garten jetzt doch irgendwie verlockend. Also verschweige ich, dass die Tickets bereits per Visa bezahlt sind und denke: Hm, blinden Aktionismus muss man sich auch leisten wollen.

Ach, und irgendwie ist es alles sehr vergnüglich. Wir haben zu trinken, genug zu essen, die Sonne scheint und irgendwie ist es absurd, dass wir jetzt mit der Bahn nach Hause fahren. Christian freut sich auf unser trautes Heim, ich habe dazu keine Meinung. Nee, stimmt nicht. Ich würde lieber mit dem Rad weiterfahren. Gleichzeitig bin ich aufgrund meiner Erschöpfung  auch dankbar, heute nicht radeln zu müssen. (Äh, Moment mal. Wo sind eigentlich meine Halsschmerzen?) Wir fahren in kleinen Abschnitten durch die Niederlande zunächst bis nach Niedersachsen. Fast alle wären sie Tagesetappen mit dem Rad. In der  Westfalenbahn haben wir eine sensationell freundlich-witzige Schaffnerin, die uns Vorschläge macht, wie wir am besten weiterkommen. Hat Christian zwar alle Verbindungen längst per Handy organisiert, aber ich habe das Gefühl auch ein bisschen was zu unserer Rückreise beitragen zu wollen.
Dann steht auf der Kippe, ob wir überhaupt die letzte Bahn ab Magdeburg bekommen. Ich bin dafür, jetzt schon (es ist 17.30 Uhr) einen möglichen Abholdienst zu organisieren. Mir fallen auf Anhieb zwei Freundinnen und Schwägerin Jule ein, die diesen Job erledigen könnten. Christian ist dagegen, dass wir jemanden mit unserer Angelegenheit behelligen. Dieser Moment hat tatsächlich mehr Streitpotential als alles, was wir in den vergangenen Wochen miteinander erlebt haben. Aber wer will sich schon das Ende eines unglaublichen Abenteuers versauen, indem er auf seiner Meinung beharrt? Christian will es jedenfalls nicht und nimmt mir damit den Wind aus den Segeln.

Hauptbahnhof im niedersächsischen Braunschweig, 18.30 Uhr und ganz 7 Minuten Zeit zum Umsteigen.

Ich beginne für unseren Blog zu schreiben, Christian liest. Wir schaffen mit Leichtigkeit den Regio von Braunschweig nach Magdeburg und kniffeln im leeren Abteil eine große Partie. Überhaupt vergeht die Zeit unglaublich schnell. Viel zu schnell. Alles läuft so unverschämt unkompliziert – kenm’ ich sonst nicht von der Bahn -, dass wir Montagnacht, bzw. Dienstagmorgen um 1.10 Uhr auf dem Potsdamer Hauptbahnhof die Räder aus dem letzten Regio dieser Nacht, die Rolltreppe erst hoch und dann wieder runter schieben. Unglaublich. Unfassbar. Noch vor 13 Stunden saßen wir irgendwo in Holland – jetzt sind wir zuhause.
Der Vollmond begrüßt uns. Wir schwingen uns auf unsere Räder, machen einen kurzen Zwischenstopp bei unserer Lieblingskneipe, die gerade schließt und wo man uns offensichtlich überhaupt nicht vermisst hat. Wir radeln weiter durch die laue Sommernacht und sind uns einig: Eigentlich könnten wir die ganze Nacht durchfahren nach … wohin auch immer.

An diesem Morgen spielen viele Faktoren für unsere Entscheidung eine Rolle. Klar, das Wetter der letzten Tage war unglaublich anstrengend und die uns heimsuchenden Krankheiten ebenfalls. Finanziell war zumindest ich am selbstgesetzten Limit, auch wenn Amsterdam sicher gerade noch zu stemmen gewesen wäre. Allerdings stellt sich mir die Sinnfrage dieses Unternehmens: Fahren wir jetzt mit dem Zug nach Amsterdam, um uns die Stadt im Zweitageseiltempo anzuschauen, nur um dann wieder mit dem gleichen Zug in die Gegenrichtung zu fahren? Denn sicher ist eines: Mich stören die Räder in Großstädten erheblich. Was mich auf dem Land unglaublich flexibel und frei macht, erweist sich in Städten oftmals als ziemlicher Bremsklotz. Nein, ich will nicht mit dem Rad durch Amsterdam, auch wenn es eine der fahrradfreundlichsten Städte auf diesem Kontinent sein soll. Amsterdam anfahren, nur um im Nachhinein behaupten zu können, in Amsterdam gewesen zu sein? Alles in allem spricht für mich viel gegen die Fortsetzung der Reise, aber nichts so sehr wie die Tatsache, dass ich einfach unglaublich erschöpft bin und gleichzeitig super aufgeregt, auf das, was da jetzt vor mir, vor uns liegt: Ein neuer Abschnitt im Leben. Und ich kann ihn kaum erwarten.
Ja, ich möchte jetzt nach Hause und ja, ich bin glücklich mit der Entscheidung und ja, ich bin fröhlich, als wir in Middelburg ankommen und den Zug besteigen können. Die letzten 6 Etappen der Tour liegen jetzt zwar noch vor uns, aber diese werden wir heute alle in einem Rutsch erledigen. Auch wenn es zwischenzeitlich so aussieht, als würden wir irgendwo für eine Nacht stranden, habe ich wie immer Vertrauen in das Leben.
Und während wir aus den Zugfenstern schauen, erkennen wir hier und dort Stellen und Orte, die wir Tage oder Wochen zuvor aus eigener Kraft erreicht haben. Mir fallen Geschichten zu ihnen ein, und Stimmungen, die unser Handeln bestimmt haben, werden wieder spürbar. Und am Ende des Tages werden aus den heute Morgen geplanten 64 Kilometern plötzlich 862 Kilometer. Meine Erschöpfung, die mir in den letzten Tagen so unaufhaltsam in die Knochen geschlichen ist, weicht der Freude, endlich wieder zu Hause zu sein. Und noch etwas fällt mir auf, nämlich, dass man den viel beschworenen Punkt des Aufhörens oftmals verpasst. Wenn es am schönsten ist… Dazu habe ich ganz klar eine Meinung: Man weiß erst auf der Talfahrt, wann man den Höhepunkt überwunden hat. Und dann, nicht vorher, sollte man den Punkt zum Absprung finden. Ich glaube, das haben wir ganz gut geschafft. Ohne Plan, sondern nur aus dem Bauchgefühl heraus.

 

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TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 23 – von Brügge nach Dishoek



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Tag 23- von Brügge nach Dishoek

Es ist Samstag der 26.05.2018, ca. 17:30 Uhr und wir stehen mit vor Schrecken geweiteten Augen an der Rezeption eines Campingplatzes und müssen mit ansehen, wie ein 1,70m großer Hase auf der Ladefläche eines Golfwägelchens und mit ohrenbetäubendem Lärm abtransportiert wird. Nein, das ist keine Nagetierbekämpfung, das ist Tierquälerei allererste Güte!
Stunden früher.
Ich bin ziemlich angeschlagen und ein hartnäckiger Husten hält mich fest in seinem Griff. Keine gute Ausgangsposition für die anstehende Tagesetappe, die uns in Richtung des Amsterdamer Bahnhofs und damit in wenigen Tagen wieder nach Hause bringen soll. Aber die Sonne gibt sich nach ihrem gestrig eher schwachen Auftritt heute richtig Mühe und scheint uns geradezu auffordern zu wollen, wieder aufs Rad zu steigen, um Brügge zu verlassen. Gestern Abend hatten wir noch kurz überlegt, ob wir nicht doch noch den Brügger Belfried besteigen sollten, aber ich würde heute Morgen schwächebedingt lieber passen Wir hätten einen vermutlich sensationellen Blick über Brügge gehabt. Aber für insgesamt 24 Euro? Och nö. Die geplante Etappe wird schon noch anstrengend genug. Auch Tina ist nicht sonderlich gut drauf, denn eine junge spanische Dame hat ihr mit ignoranten und unfreundlichen Art ein bisschen die Laune verhagelt. Lediglich eine mittelalte Salzburgerin scheint heute Morgen noch auf unserer Seite zu stehen, wenn auch das einzige, was uns zu verbinden scheint ist, dass wir vermutlich alle drei inzwischen das inoffiziell zulässige Hostelalter überschritten haben. Hinzu kommt, dass die Spanierin gestern Abend mit einer kompletten Reisegruppe eingetrudelt ist, während wir wahrscheinlich inzwischen zu lange nur mit uns allein waren. Ich kenne Spanier als fröhlich, herzlich und zugewandt. Daher irritiert mich das perfektionierte Zickengehabe dieser Seniorita noch vor dem Frühstück – sie überprüft mehrfach schmollmundig den Sitz ihrer langen Haare im Handy, wirft mir immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzende Blicke zu, reagiert auf mein zaghaftes Lächeln mit Augenverdrehen. Das ganze dämliche Stutenbissigenprogramm, während ich Trockenfrüchte schnipple.

Neugierige Blicke für uns Reiseradler an diesem Samstagmorgen in einer Seitenstrasse von Brügges Innenstadt

Während Tina heute Morgen noch schlief, habe ich mich erstmals auch theoretisch mit Brügge beschäftigt und noch ein paar interessante Fakten recherchiert. Und Anderem, dass auf dem, die Ostseite der Stadt umgebenen Deich, noch einige intakte Windmühlen stehen sollen und so beschließe ich, dass unser Weg aus der Stadt heraus ein anderer sein wird, als in die Stadt hinein. Ich möchte nicht noch einmal durch das Tourigedränge, das ohne Zweifel auch jetzt um halb 11 schon eigesetzt hat, und wähle den kürzesten Weg aus der Innenstadt hinaus, auch wenn dieser der längste ist, denn man einschlagen kann, um nach Norden und damit auf den Nordseeküsten-Radweg zu gelangen. Also geht es erst einmal nach Süden, um dann die Stadt in östlicher Richtung zu umfahren. Und so kommen wir dann nicht nur an den Windmühlen, sondern auch noch am sogenannten Minnewater vorbei, auf dem zahlreiche Schwäne ihr Dasein fristen. Da ich die Legende sehr interessant finde, ernenne ich mich spontan selbst zum Stadtführer und egal, ob Tina sie hören möchte oder nicht, klugscheißere ich sie trotz des dichten Verkehrs einfach so vor mich hin. Tina musste die lange Version ertragen, ihr bekommt die kurze:
Ein Verschwörer gegen den damaligen König hieß Pieter Lanchals (auch Lankhals genannt) und als die Verschwörung aufflog, wurde er nicht nur gefoltert und geköpft, nein vielmehr hat der damalige König Brügge dazu verurteil, dass an dieser Stelle auf ewig Schwäne, oder eben Langhälse, zu halten sind. Ist zwar schon 520 Jahre her, aber die Brügger scheinen sich daran zu halten.
Ich mag ja immer eher directors-cut-versions, die ich selber nie zu Gehör bringen kann, weil ich ständig Details vergesse.

Ich weiß nicht, ob die Tina die Geschichte wirklich gefallen hat – Unbedingt! Habe nur leider schon nach 10 Kilometern wieder die Hälfte vergessen-, denn sie macht ein bisschen den Eindruck, fliehen zu wollen und beschließt auf Grund ihrer Ungeduld, nicht auf das Herablassen einer uns jetzt blockierenden Klappbrücke warten zu wollen und einen anderen Flussübergang zu suchen. Ich bin nicht ungeduldig, sondern genervt. Viel zu viele Eindrücke, zuviel Krach, zuviel Gedränge, zuviel Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, zuviel von allem, was gemeinhin Zivilisation genannt wird. Zwar finden wir diesen, jedoch bringt er uns etwas von meinem geplanten Weg ab und somit verfehlen wir den Kanal, der uns zum Radweg bringen soll um einige hundert Meter. Trotzdem, erst einmal raus aus der Stadt und dann sehen wir weiter. Was soll schon schief gehen? Wir halten uns Richtung Norden und da kommt in wenigen Kilometern Küste und zur Küste wollen wir ja sowieso.

Eine Bootsfahrt, die ist lustig, eine Bootsfahrt, die kost’ Geld … mit 8 Euro pro Person gibts Brügge vom Wasser aus

Als ich merke, dass wenige Kilometer doch ziemlich lang sein können, erbitte ich mir einen kurzen Stopp um das Navi befragen zu dürfen und stelle fest, dass nach Norden gar nicht mal soooo richtig ist. Wir hätten eigentlich eher gen Nord-Ost gemusst. Tinas Ungeduld hin oder her, mir ist bereits heute Morgen bei der Routenplanung ein grober Fehler unterlaufen und so stehen wir jetzt irgendwo in einem Brügger Vorort und versuchen uns zu orientieren. Zum Glück kommt uns ein niederländischen Pärchen entgegen, das uns davon erzählt, in dieser Ecke schon länger regelmäßigen Urlaub zu machen. Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt ein holländische Radl-Pärchen daher. Und nein, nach Brügge fahren sie nicht hinein – zu viele Touristen. Allein heute Vormittag kommen in Seebrügge (ein offizieller Stadtteil der Märchenstadt) 2 Kreuzfahrtschiffe an, die 4000 neue potentielle Pralinenkäufer, Museumsbesucher und Straßenbefüller für einen Tagesbesuch auskotzen werden. Das muss man sich mal vorstellen: 4000!!! und das zusätzlich zu der spanischen Reisegruppe in unserem Hostel. Und okay, und auch die Reisegruppen der anderen 200 Hotels und Hostels und Pensionen. Privatzimmer noch nicht einmal mit eingerechnet. Man muss ja nur ein bisschen hilfesuchend wirken – zack! Hält jemand. An diesem Morgen steht uns die Rat- und Orientierungslosigkeit echt auf der Stirn geschrieben. Und die beiden Endsechziger haben echt Freude, uns weiterzuhelfen. Wir sollen immer geradeaus fahren und dann stoßen wir automatisch auf den LF1 Richtung Amsterdam. Wir haben uns also quasi gar nicht wirklich verfahren – wunderbar.
Um hier auch noch einmal die mühsam gesammelten Fakten wirken zu lassen:
Tina schrieb gestern das 118.000 Einwohner in Brügge leben. Das stimmt zwar, aber davon wohnen nur lediglich 20.000 in der Altstadt, die an “guten” Tagen gern einmal die doppelte Menge an Touris zu bespaßen versucht. Gründe für die „nur“ 20.000 – wir erinnern uns: Mietwucher.
Zu unserem Glück hatten die Niederländer eine Ausschilderung zum gesuchten Radweg in etwa 3 Kilometer im nächsten Ort gesehen. Wir bedanken und verabschieden uns höfflich und setzen unseren Weg immer noch in Richtung Norden fort. Und tatsächlich, nach wenigen Kilometern ist er endlich ausgeschildert: der LF1! Dieser Weg wird zwar kein leichter sein, soll uns aber ab hier innerhalb der nächsten 4 Tage bis in die Holländische Hauptstadt führen führen. LF1 bedeutet Landelijke Fietsroutes und meint den niederländischen Abschnitt des Nordseeküstenradwegs.
Sicher kann sich jeder denken, dass es sozusagen die Kernkompetenz eines Radfernweges ist, seinen Benutzer in die Verzweiflung zu treiben. Denn statt uns direkt und auf gerade Linie nach Nordosten zu führen, geht es jetzt erst einmal quer über alle Himmelsrichtung, durch uns inzwischen gut bekanntes und schmuckloses belgisches Hinterland, bis wir an dem Kanal ankommen, der uns zwei Tage zuvor in die gelobte Stadt geführt hat. “Kanäle können sie die Belgier”, geht es mir erneut durch den Kopf. Denn ab hier ist das Radfahren wieder eine große Freude, auch wenn wir nun natürlich nicht mehr auf unseren wundervollen Pappel-Kathedralen-Kanal abbiegen können. Dennoch ist das Fahren hier um einiges angenehmer als auf den zu engen Landstraßen. Wir kommen gut voran und sind bereits nach 2 Stunden in der ehemaligen Festungsstadt Sluis in den Niederlanden.
Leider will sich heute bei mir kein richtiges Fahrgefühl einstellen. Irgendwas steckt mir in den Knochen und die vorhin hochgelobte Sonne brennt inzwischen wieder erbarmungslos. Hinzu kommt ein kräftiger Ostwind, der uns die Tage zuvor wunderbar als Rückenwind diente, heute aber jeden Kilometer zu verdoppeln scheint.

Großer Spaß: Aus eigenem Antrieb bringt man sich mit dieser handbetriebenen kleinen Fähre über den Kanal

An einem Wegweiser kurz hinter Sluis müssen wir uns dann entscheiden. Fahren wir den direkten, aber vermutlich langweiligen Weg nach Breskens, von wo uns eine Fähre nach Vlissingen, unserem heutigen Tagesziel, bringen wird. Oder folgen wir dem LF1, der laut Karte mit einer Küstenführung seine Aufwartung macht? Natürlich entscheiden wir uns für den Umweg… Was ist schon ein bisschen Umweg, wenn du direkt mit Blick aufs Meer fahren kannst? Ok, menschenleerer Strand ist anders. Aber dafür kannst du junge Menschen beim Bier-Staffellauf bewundern. Was Bier-Staffellauf ist? Ich behaupte, eine typisch holländische Kombinationsdisziplin für Menschen zwischen 16 und 25. An dieser Stelle also unser Spieletipp des Tages: Zwei Mannschaften, 20 Meter Strandabschnitt, jede Menge Bier, ein Schiedsrichter. Fertig ist die sportliche Spaßaktion, die uns irgendwie auch ein bisschen Respekt abverlangt. Hey, wer rennt schon bei 32 Grad in praller Sonne barfuß um die Wette, ext eine Flasche Bier, galoppiert durch den heißen Sand zurück, schlägt ab und wartet, bis er ein zweites Mal in die Spur geschickt wird? Richtig – die Holländer.
Wir und, huch, es ist Samstag, eine Millionen anderer Radfahrer. Immer wieder landen wir so in Grüppchen voller Rentner, Familien oder sonstigen Bummlern, die sich hier eine Erholung von der anstrengenden Woche auf der Arbeit in der Schule oder beim Arzt genehmigen wollen. Natürlich zu Recht, aber des einen Freud ist eben des anderen Leid. Und so stören wir uns besonders an den E-Biker, die exakt 18 Stundenkilometer schnell über längere Strecken fahren. Sie behindern unseren Fahrfluss erheblich, denn bergauf überholen sie uns, nur um dann direkt eine Nasenlänge vor uns zu “flanieren” und bergab machen sie sich so breit, dass man nur geringe Chancen hat, im Gegenverkehr an ihnen vorbeizuziehen. Irgendwie nicht weniger ignorant als SUV-Fahrer. Sehr sehr bedenklich… Schafft man es dann doch, kommt die nächste Düne und das Spiel geht von vorn los. So erreichen wir zwar das erste Mal nach 1100 Kilometern die Nordsee, können uns aber ob des hohen Verkehrsaufkommens nur so wenig daran erfreuen, dass wir den vermeintlich schöneren Radweg nach einigen Kilometern aufgeben und den Wochenendradlern das Feld überlassen. Wir ziehen uns zurück auf die parallel zum Strand verlaufende Küstenstraße, beziehungsweise auf deren Radweg. Die hat zwar keine so geile Aussicht, aber dafür sind wir raus aus der kräftezerrenden Massenveranstaltung auf der Düne. Darf ich mal fragen, wo die eigentlich alle herkommen, dieses Touris?

Als Reiseradler muss man Verzicht üben: Freiwillig schiebt niemand vollgepackten Räder durch den Sand

Da der Radweg sich nur gelegentlich mit dem LF1 überschneidet und uns die Dünen außerdem vor dem inzwischen recht böigem Wind schützen, kommen wir somit trotz Wind und Hitze ganz gut voran und erreichen um 14.35 Uhr den Fährhafen in Breskens.
Beim Kauf der Tickets erklärt mir die nette Verkäuferin, dass wir uns beeilen sollen, denn die Fähre legt in 2 Minuten ab. Na klar, inzwischen sind wir die Ruhe selbst und werden zum hetzen gezwungen! Aber eine weitere Stunde am Hafen wollen wir dann auch nicht warten, zumal sich Mary und Robert gerade gemeldet haben, und uns auf ihren Campingplatz in Dishoek eingeladen haben. Sie schreiben auch, dass wir sogar ihre Parzelle mitnutzen können, ihr Wohnwagen benötigt ja nur wenig Platz. Da wir uns sehr über das Wiedersehen freuen, sagen wir spontan zu und ich prüfe auf der Karte die Strecke. Nur noch wenige Kilometer und der Campingplatz liegt direkt am LF1. Wenn Google ihn nicht ausdrücklich als Familiencampingplatz angepriesen hätte, wäre er perfekt. Aber es ist egal, für eine Nacht wird es schon gehen und da ich mich inzwischen schlapp und krank fühle, bin ich zufrieden, keinen weiteren Platz suchen zu müssen und vor allem, nach ein paar Kilometern das Ende des Fahrtages zu wissen.
Also legen wir einen kleinen Spurt ein, erreichen die Fähre in dem Moment, als die Männer die Leinen losmachen wollen und können uns tatsächlich noch einen Platz im Bauch des Stahlriesens sichern. Auch wenn diese hektischen Spurteinlagen immer ein bisschen doof sind, so freuen wir uns doch jedes Mal wie Schneekönige, wenn wir sie erfolgreich gemeistert haben. Ich bin total dankbar, dass auf uns gewartet wurde. Denn wenn wir ehrlich sind: Wir haben länger als zwei Minuten gebraucht.
Knapp 20 Minuten benötigt die Fähre über die Westerschelde, dem südlichsten Meeresarm der Niederlande, in dem die durch Antwerpen fließende Schelde mündet. 20 Minuten, in denen wir von voller Leistung in eine Ruhepause katapultiert werden. Und jetzt merke ich ganz deutlich, dass mir die letzten Kilometer heute sehr schwer fallen werden und so vertrödeln wir in Vlissingen auch keine Zeit, sondern setzen unseren Weg auf dem LF1 gleich nach Ankunft der Fähre unvermindert fort.
Trotz der etwas komplizierten Radwegführung quer durch den Hafen, über enge Holzbrücken, durch die halbe Stadt entlang einer Promenade, die auf Grund des herrlichen Hochsommerwetters auch an der Côte d’Azur beheimatet sein könnte, und auch ebenso vollgeparkt und überlaufen scheint, finden wir eine halbe Stunde später den Platz, der uns unser heutiges Nachtlager zur Verfügung stellen soll.
Während meine bessere Hälfte sich um die Bezahlung des Platzes kümmert, sehe ich Robert und Mary bereits Händchen halten vom Strand kommen. Passt perfekt. Tina erklärt der jungen Dame an der Rezeption, dass wir in die Nähe der beiden wollen, aber nur, wenn da keine Kinder rumlaufen. Ihr Gegenüber schaut verwirrt und meint, hier laufen überall Kinder herum. Es wäre ja schließlich ein Familienplatz. Was ich nicht bemerke, ist Tinas zerknirschtes Gesicht als sie die Rezeption verlässt. Zerknirscht? ZERKNIRSCHT?! Ich platze fast vor fassungsloser Empörung und heiliger Wut. Ich freue mich sehr über unsere beiden Bayern, und als sie uns sogar zum Essen einladen, bin ich happy.
Tina hingegen ist angesäuert. ANGESÄUERT?! Ha! Ich bin bereit zu töten! Wir müssten eigentlich dringend schreiben und ob das mit den vielen Kindern hier etwas wird, ist zu bezweifeln. Außerdem schlägt der Campingplatz mit 38€ für eine Nacht zu Buche und daher alles bislang dagewesene. In Worten achtunddreißig. Begründung: Man muss nur über die Straße hopsen, die Düne hoch – und schon ist man an der Nordsee. Na ja, dann. Auch hier gelten die üblichen Immobiliengründe für die Preisfindung: Die Lage – die Lage – die Lage. Als sich jetzt auch noch eine junge Dame im 1,90 m großen Hasenkostüm auf die Ladefläche eines Golfwägelchens platziert um mit Kinder-Party-Musik die Kleinen zum gemeinsamen Spielen zu animieren, klappt uns endgültig die Kinnlade herunter.
Aber Mary und Robert kümmern sich rührend um uns und bewirten uns mit frischen Kartoffeln, Steak und Soße und Salat. Unsere bayerischen Reisefreunde sind so lang und schlank wie wir eher mittelgroß und… naja, wohlgenährt sind. Unfassbar, dass Mary und Robert ihre vier Steaks, die zusammen nicht mal 200 Gramm auf die Waage bringen, mit uns teilen. Es gibt sogar Servietten und Wein zum Essen. Wir sitzen so bequem auf den Polstern des Wohnwagens, den sie liebevoll Knutschkugel nennen, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufstehen würde. So gestärkt gehen wir nach dem Essen an den Strand um das erste Mal auf der Tour die Nordsee in Ruhe zu begutachten. Abschließend schaffen wir es tatsächlich noch ein paar brauchbare Texte zu schreiben. Ich hätte gerne einen gigantisch-romantischen Sonnenuntergang mit explodierenden Farben und so. Wird nix. Zwar wandere ich barfuß durch den Sand und durchs Wasser, aber die Sonne geht erstens hinter uns unter und zweitens mehr als unspektakulär. Deswegen gibt’s auch kein Sonnenuntergang-an-der-holländischen-Nordsee-Selfie. Nicht etwa, weil Christian den Deppenzeppteneinsatz boykottiert, wo es nur geht.

Der einzige Sonnenuntergang am Meer war weniger spektakulär als erwartet, aber dennoch wunderbar romantisch

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Christian

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Tag 20 – von Antwerpen nach Kamperhoek



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Tag 20- von Antwerpen nach Kamperhoek

Ja, ja, ich gebe es zu. Ein sonderlich großer Belgien-Fan bin ich nicht. Auch wenn wir hier durchaus die eine oder andere nette Begegnung hatten, die Stimmung ist irgendwie spürbar anders. Irgendwie deutsch eben. Das ging mir damals in Bulgarien schon so und Belgien fühlt sich für mich genauso an. Manchmal ist eben die eigene Stimmung nicht so doll, man ist nicht gerade freundlich oder aufmerksam. Und dann brauchen manche Menschen eben länger, um mit anderen warm zu werden. Gerade ich als Brandenburger kann ein Lied davon singen. (Du – und vor allem der wunderbare, der einzigartige Reinald Grebe. Wenn ich ihn zitieren darf: Es gibt Länder, wo was los is’ – Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt Brandenburg).
Aber dann kommt man in ein Land in dem alles viel wärmer zu sein scheint. Die Menschen sind spürbar besser drauf, die Gärten und Häuschen liebevoller und viel offener angelegt. Nichts schreit nach “Meins! Hau ab!” (Im Gegenteil. Jeder Busch, jeder Baum, jede Blume, ja, jede Dachpfanne und jeder Gartenzaun winken fröhlich und einladend: „Huhu! Guten Tag. Schön, dass du da bist. Willkommen. Herzlichst. Fühl dich wohl.“)
Das ist schon ein krasser Gegensatz zu einigen Teilen Deutschlands, in denen sogar Wohnwagen eingebunkert werden. Und dann folgt auf diesen wunderbaren Landstrich mit den tollen Menschen (Niederlande) ein Land, das wie zu Hause ist (Belgien). Wären die Niederländer genau solche Stiesel wie wir oder die Belgier, dann wäre mir das wahrscheinlich auch gar nicht so sehr aufgefallen. Aber so ist das eben, ein Völkchen sticht raus und plötzlich findet man das Gewohnte doof.   (Ich gehe einen Schritt weiter. Unser erster Kontakt mit belgischem Boden verpasst uns einen prompten Stimmungsdämpfer. Während Christian in gewohnter Toleranz bittet, dem kleinen Land – das übrigens auch ein Königspaar hat – eine Chance zu geben, habe ich mein Urteil nach weniger als 20 Minuten in Stein gemeißelt: Belgien ist grau, ungepflegt, wirkt ärmlich, unfreundlich und höchst resignativ.)

Ich würde gern noch mit dem Vorurteil aufräumen, dass es ja klar ist, dass die Niederländer so gut drauf sind, weil die ja ständig bekifft sind (Königsfamilie, mein Herzensmann, KÖNIGSFAMILIE!).Ehrlich gesagt, kann ich das aber gar nicht. Ich habe zwar keinen einzigen Coffee-Shop bewusst wahrgenommen, aber ob die eine oder andere unserer Begegnungen nicht gern mal einen raucht… ich weiß es nicht. Egal wie, wenn es den Deutschen und Belgiern zu einem Freundlichkeitsschub verhelfen würde, dann legalisiert doch endlich das blöde Grass.
Warum erzähle ich das eigentlich? Weil ich morgens bei der Planung noch 113 km bis Brügge ausgerechnet habe. Zuviel für einen Tag, zumal das Wetter nicht wirklich gut aussieht und wir heute Morgen echt lange zum Trocknen und Abbauen benötigen. Bis um 10 Uhr hat es geregnet und als wir dann mit unserem Tagwerk beginnen wollen, ist der Himmel noch immer so wolkenverhangen, dass wir jeden Moment mit einer neuen Dusche rechnen. Die restliche Wäsche muss noch mal in den Trockner – aber wir haben keine 50 Cent-Stücke mehr. (Einsatz für Miss Pragmatismus. Am Vorabend habe ich eine elegante blonde Dame Anfang 60 gesehen, die mit verkniffenem Gesichtsausdruck zwei Weinflaschen in den Container warf. Blöderweise ist sie am heutige Vormittag die einzige, die vor Wohnwagen mit Überdacht sitzt. Also marschiere ich mit dem Euro zu ihr und ihrem nach Erfolg und Arroganz aussehenden Mann und eröffne meine Charmeoffensive mit den Worten: „Would you please save my life?“ Ich höre schon meinen besten Freund sagen: Geht’s nicht ne Nummer kleiner? Nö. Geht’s nicht. Passt perfekt. Denn als ich mit Dackelblick die flache Hand ausstrecke, in der das ein-Euro-Stück blinkt und erkläre, mein Mann und ich seien mit dem Rad unterwegs, durch den Regen aber alle Klamotten nass und wir würden die gerne in den Trockner werfen, damit wir uns in dem nassen Zeugs nicht den Tod holen, weil wir ja schließlich noch bis nach Brügge wollen (puh. Einmal Luft holen), tja, also da fordert sie ihn auf, nach zwei fünfzig Cent Stücken zu gucken. Sie selber lächelt freundlich und dabei ungläubig. „By bike?“, hakt sie nach und ich nicke bescheiden. Sehr beeindruckt von diesem Ziel gibt sie mir den Rat, unbedingt noch Gent anzuschauen, eine ganz wundervolle Stadt. Und will wissen, was ich denn von Antwerpen halte? Ihr Mann ist in seiner Hosentasche (natürlich – Kerle wie er schleppen immer jede Menge Kleingeld in der Hosentasche mit sich rum.) fündig geworden und wir tauschen eins zu zwei. Ich halte mich bedeckt, was Antwerpen angeht, meine brachiale Offenheit könnte möglicherweise missverstanden werden. Die beiden sehen sich jetzt verliebt an und er sagt, dass sie seit 40 Jahren jedes Jahr für zwei Wochen hier auf dem Campingplatz sind. Antwerpen sei eine so fantastische Stadt. Aha. Ist uns bislang entgangen. Und plötzlich werfen sich die beiden so was wie einen verliebten Blick zu als er sagt, sie würden Antwerpen besser als Amsterdam kennen und sie dazu nachdrücklich nickt, da denke ich, wie reizend die beiden doch eigentlich sind. Sie wünschen eine erfolgreiche Fahrt, wiederholen, wie einmalig schön und dabei unterschätzt Gent ist und dann stolziere ich mit der lebensrettenden Beute zurück zu unserem Zelt. Wenn ich könnte, würde ich Wagners Walkürenritt pfeifen und dabei die zwei 50er fahnengleich schwenken. So drücke ich sie meinem Herrn der Wäsche bloß mit einem lässigen „erledigt“ in die Hand und stelle betont nebenbei die Frage, wie groß der Umweg über Gent eigentlich wäre.) Und so kommt es, dass wir erst gegen 13:00 Uhr starten können und somit meines Wissens wieder einmal einen Rekord aufgestellt haben.

Die Route wird jetzt also über Gent gehen und da wir beide keine wirkliche Lust auf belgische Dörfer haben, wähle ich die Route entlang einer stark befahrenen Hauptstraße. Einer zu stark befahren… Als wir in der kleinen Stadt Belveren unsere erste Pause machen, stellen wir fest, dass uns das beiden keine wirkliche Freude bereitet. (Und das liegt nicht an dem plötzlich hohen Polizeiaufkommen. Wir stehen an einem Kreisel, als uns drei VW-Busse versetzt und in unterschiedliche Richtung kurvend auffallen. Allerdings ohne Blaulicht. Während wir noch überlegen, ob wir eigentlich wirklich nach Gent müssen, hält einer der Busse, ein glatzköpfiger Polizist mit graumeliertem Hipsterbart lehnt sich aus dem Fenster und fragt auf belgisch oder flämisch oder was auch immer, ob wir zwei zu Fuß flüchtende Männer gesehen hätten. Einer trage ein Baseballcap. Ich schüttelte mit einem angemessen bedauernden Gesichtsausdruck den Kopf, setze ich „Sorry“ hinzu, ernte dafür ein freundlich-resigniertes „Danke“ und der Bulli verschwindet im Kreisverkehr. Ich ernte einen bewundernden Blick von Christian, der nachfragt, was den Gesetzeshüter den eigentlich gefragt hat und ich gebe mich verwundert, dass er die Frage nicht verstanden hat. Schrei du mal über Jahre Krimis, dann weißt du, was die Polizei dich fragt, wenn sie offensichtlich jemanden sucht. Es ist IMMER irgendwer auf der Flucht.) Wir entscheiden uns ohne Diskussion gegen Gent, bzw. gegen Belgien. Also planen wir kurzerhand um und unter Inkaufnahme eines zusätzlichen Tages bis Brügge entscheiden wir uns für eine Weiterfahrt über Niederlande. Der Vorteil dabei ist, dass die Campingplatzdichte in Belgien eher gering ist und wir in Holland sicher eine passende und preiswerte Unterkunft finden.
Trotzdem geht es noch eine Zeitlang erneut durch trostlose belgische Dörfer und über triste, schlecht gepflasterte Nebenstraßen, die uns aber nicht mehr so schlimm wie an unserem ersten Belgientag vorkommen. Denn – die bunten, freundlichen Niederlande winken. Immerhin gibt es auf diesem Abschnitt keinen Kanal, den die Belgier nach Lust und Laune mit Industriebauten zugepflastert haben. Eine letzte Versorgung mit Lebensmitteln und dann geht es wieder über die Grenze. Diesmal sogar mit einem von mir gewünschten Schlagbaum.

Ob wir uns das nun einreden oder nicht, die Stimmung wird dann auch gleich wieder schlagbaumartig besser und auch meine neuen Karten kommen nun zum ersten richtigen Einsatz. Ich kann jetzt endlich nach Knotenpunkten planen und um unser Ziel, einen auf der Karte ausgewiesenen Campingplatz zu erreichen, geht es wieder durch schöne Landschaft, deren städtischer Höhepunkt die Stadt Hulst ist. Sie ist, trotz auf dem flachen Land errichtet, komplett von Wasser umgeben. Wir stoppen in der Innenstadt an einer Sitzbank (In unmittelbarer Nähe einer Kirche, zu unserer rechten ein seltsames Kunstwerk, bestehend auf Enten oder Gänsen aus Bronze), und grübeln bei Brötchen mit Aufschnitt mal wieder über die Unterscheide der Niederländer zu den Belgiern, als uns ein Bataillon sehr alter Damen von unserem Platz vertreibt. Darunter auch drei Nonnen, die alle so gebrechlich sind, dass sie in Rollstühlen sitzen. Selten habe ich mich so deplatziert gefühlt wie in diesem Moment. Tina witzelt, hier sind gerade locker 2000 Jahre versammelt. Was der Grund für diese Ansammlung war, wissen wir bis heute nicht. Denn diese Gruppe ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass wir nicht einmal eine Chance haben nachzufragen. (Die Wahrheit ist eine andere: Wir trauen uns nicht. Ich bin fasziniert von der sanften Heiterkeit der uralten Frauen. Besonders eine sehr zierliche Dame mit schlohweißem Haar, in weißer Bluse und wadenlangem Rock, deren Rücken so gekrümmt ist, dass sie mit beinahe waagerechtem Oberkörper in kleinen Schritten gehen muss, berührt mich. Trotz ihres vermutlich biblischen Alters und ihrer offensichtlichen Gebrechen, von denen ich nur ahnen kann, wie schmerzhaft sie sein müssen, wirkt sie fröhlich und gelassen. Und während sie sich mit einer Hand an der Lehne der Bank abstützt und mit der anderen das Gesangsbuch oder eine Bibel festhält, scheint sie einen Scherz mit den zwei unwesentlich jüngeren Damen auf der Bank zu machen. Es ist ein leises Schnattern und plötzlich wird mir bewusst: Auch diese Damen waren alle mal junge Mädchen. Vielleicht sind sie zusammen zur Schule gegangen… Ich bedauere meinen fehlenden Mut, die Damen anzusprechen, in ein Gespräch zu verwickeln. Dagegen beschleichen Christian komische Fluchtgedanken, ihm ist das zu viel naher Tod auf einem Haufen. Er will nur weg.

So packen wir also zusammen und steuern unser neues Tagesziel, die Natuurkampeerterreinin Kamperhoek an. Ein letzter Einkauf in Vogelwaarde wird uns durch einen wahnsinnig gut gelaunten Mitarbeiter versüßt, der während unser gesamten Verweilzeit fröhlich ein Lied nach dem anderen im Radio mitpfeift.
Als wir dann endlich um 18.30 Uhr auf unserem Ziel ankommen, erwartete uns ein absolut fantastischer Campingplatz, der auf einem aktiven Bauernhof errichtet ist. Hier wird gleichzeitig Bio-Landwirtschaft und Beherbergung praktiziert, die ganz offensichtlich auf Familien oder ganze Schulklassen ausgerichtet ist. In 12 großen Zelten mit Luxusausstattung können bis zu 8 Personen schlafen und leben. Zusätzlich gibt es Hütten und eine liebevoll angelegte Zeltwiese. Da kann uns auch der inzwischen treue abendliche Regenschauer nicht die Freude verhageln. (Ich bin begeistert von dem Konzept, das u.a. vorsieht, dass Kinder für die Dauer ihres Aufenthaltes die Verantwortung für eines der zahmen Hasen übernehmen können. Vor jedem der Zelt steht nämlich ein mobiler Hasenkäfig.)
Die Distanz zu Brügge hat sich heute durch den Bogen über die Niederlande wieder ein bisschen erhöht, statt verringert. Aber es ist trotzdem ein toller Abschluss und keiner von uns ist unglücklich darüber, Belgien für einen Tag den Rücken gekehrt zu haben. Morgen werden wir allerdings nicht mehr drum herumkommen.

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Tag 19 – Ruhetag in Antwerpen



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Tag 19- Ruhetag in Antwerpen

Als ich aufwache, war Christian schon beim Supermarkt, hat kleine Obstkuchen und Käsekuchen und zwei Kerzen (eine drei, eine zwei) gekauft und ich bin gerührt. Das Handy, was ich tagsüber ausschließlich als Kamera nutze, bleibt auch an diesem Morgen aus. Ich habe Geburtstag und bin froh, ihn nicht zu feiern, sondern nur zu genießen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und meine neue Bekannte vom Vorabend aus dem Waschraum lädt Christian und mich auf einen Espresso ein. Mary und Robert aus München urlauben seit 15 Jahren mit ihrem kleinen Wohnwagen (Knutschkugel) durch die Weltgeschichte und ich hatte mich schon gestern in das fahrende Zuhause verknallt. Heute kann ich es mir von innen ansehen und bin entzückt. Ein echte Alternative zum Zelt – in zehn Jahren oder so.

Geburtstagsfrühstück auf Belgisch: So kann man das neue Lebensjahr auch ganz wunderbar feiern

Wir stehen also zusammen, plaudern ein bisschen und dann schließen wir uns Mary und Robert, die ihre Räder dabeihaben, spontan auf deren Weg zum MAS (Museum aan de Stroom) an. Wir haben große Lust mit diesen beiden reizenden Bayern ein paar Stunden zu verbringen. Der definitive Vorteil: Mary recherchiert viel und gerne und erfolgreich. Deswegen weiß sie auch, dass es in unmittelbarer Nähe des Campingplatzes eine kostenlose Fähre gibt. Und die nutzen wir, um die Schelde zu überqueren. Schon vor Abfahrt der Fähre kommen wir ins Gespräch mit einem bärtig-bärigen Brillenträger Mitte 40. Der Sohn eines Pastors ist in Antwerpen hängen geblieben, lebt hier seit 30 Jahren und überschüttet uns mit Informationen, von denen bei mir nur hängen bleibt: In den kommenden Jahren wird das Ufer begrünt, werden die alten Lagerhallendächer abgerissen. Und: Antwerpen ist die Stadt der Gegensätze. Sie galt lange als das Venedig Belgiens, bis in den 70er Jahren viele historische Gebäude, die vom Krieg verschont geblieben waren, abgerissen wurden und durch scheußliche Hochhäuser ersetzt wurden. Und: Das neue Lotsenhaus sieht aus wie ein gestrandetes Schiff mit einem aufgesetzten Diamanten. Und dann noch dieses: In Rotterdam darf jeder ein Hochhaus bauen, solange es sich nur von denen unterscheidet, die bereits existieren. Was unser selbsternannter freundliche Stadtführer eigentlich arbeitet, wissen wir nicht. Ich glaube, er sollte Stadtführer sein. Ein unglaubliches Wissen geballt in einem netten Kerl. Wir lernen auch, das Antwerpen nie in der Hanse war, weil sie die Zölle und Gebühren nicht mit den anderen Mitgliedern teilen wollten.

Vermutlich DAS Wahrzeichen von Antwerpen: Der beeindruckende Kubus MAS (Museum aan de Stroom)

In wenigen Minuten ist die Schelde überquert, wir rollen von Bord und steuern das MAS an. Ich kann mich selten bis nie für moderne Architektur begeistern. Ich stehe mehr auf Jugendstil und so. Aber das MAS-Bebäude mit seinen roten Granitsteinen, die übrigens aus Indien stammen und nur noch ein einziges Mal in Europa verbaut wurden, und zwar in Berlin, das beeindruckt mich. Die (derzeit) 3184 silbernen Hände, die von weiten wie Nietnägel in den Quadern aussehen, die gewellten Glasfassaden – das ist schon einmalig und sehr beeindruckend. Wir fahren mit den Rolltreppen Stockwerk um Stockwerk nach oben, bewundern die riesigen von Rubens inspirieren Fotos vom belgischen Künstler Athos Burez deren Farbintensität und Motive von einer brachialen Wucht und gleichzeitig zarten Komposition sind (ja, ich kann auch in Kunstkritik.) Von oben betrachtet hat Antwerpen die selbe Wirkung wie am Vortag: Irritierend, auf gar keinen Fall anziehend. Es ist ein chaotisch-kreatives Bild, was sich uns darbietet und wir wissen bis zu unserer Abfahrt nicht, was wir von dieser Stadt eigentlich halten sollen. Der Aufstieg zur Dachterrasse ist übrigens umsonst. Eintritt muss man nur für das eigentliche Museum bezahlen. Als weiteres kostenloses Highlight kann man sogar noch eine Etage mit derzeit nicht ausgestellten Objekten besuchen und bekommt somit als Bonus einen Blick hinter die Kulissen des Museums. Das MAS ist definitiv einen Besuch wert, auch wenn wir unzähligen Schulkindern begegnet sind, deren Lehrer wohl bei dem halbherzigen Wetter keinen rechten Bock auf klassischen Unterricht hatten.

Christian, Mary und Robert (v. li. n. re.) bekommen vom freundlichen Deutsch-Belgier Infos zu Antwerpen

Es wird kühler, wir finden den perfekten Kartenladen und kaufen endlich eine gescheite Radkarte und können die von der Tankstelle dem Müll überlassen. Ich möchte noch in die Peter-und-Paul-Kirche. Auch wenn mich schon 1996 als Atheistin durchaus wohl fühle und mit Kirche als Institution nichts am Hut habe – die Gebäude faszinieren mich immer aufs neue. Weil ich mir immer bewusst bin, was die Menschen vor vielen Jahrhunderten ohne modernste Technik geschaffen haben. Ob es Holzschnitzereien oder Steinarbeiten sind – ich verneige mich voller Ehrfurcht vor den Erbauern, Erschaffern, den Künstlern. Hier sind es vor allem die dreidimensionalen Holzschnittarbeiten vom Leidensweg Christi. Die Brutalität der Geschichte wird für mich fühlbar wie nie zuvor. Der Sohn Gottes scheint mit jedem der 13 Bilder zu altern. Die Gesichter der geschnitzten Figuren sind von beunruhigender und erschütternder Lebendigkeit. Sie sind bedrückend und gleichzeitig faszinierend. Gerne würde ich über das dunkelbraune Holz streichen, die Linien der Gesichter, der Kleider mit den Fingerkuppen erkunden – aber natürlich tue ich es nicht. 

Mary und Robert verabschieden sich noch in der Kirche flüsternd mit inniger Umarmung von uns – sie wollen weiter. Wir haben Handynummern und Emailadressen getauscht und werden versuchen, in Kontakt zu bleiben, uns vielleicht noch mal zu treffen. Kaum sind die beiden weg, vermissen wir sie schon. Sie sind uns in wenigen Stunden ans Herz gewachsen.

Als wir die Kirche verlassen, ist mir so kalt, dass ich den nächstbesten Klamottenladen entere, von einer jungen Schäferhündin aufs stürmischste begrüßt werde und innerhalb von sieben Minuten den Laden mit einem langärmeligen giftgrünen Pulli mit V-Ausschnitt für 29 Euro wieder verlasse. Auf der Suche nach einem Fahrradladen (Christian will seit Tagen sein defektes Rücklicht ersetzen), bekommen wir einen kleinen Eindruck vom anderen, vom quirligen, bunten, individuellen und kreative Antwerpen. Aber mir fehlt die Lust, jetzt noch zu bummeln. Auch im dritten Radladen wird uns nicht weitergeholfen. Hier sind sie inzwischen so auf E-Bikes fokussiert, dass ein schlichtes zu verkabelndes Rücklicht nicht zu haben ist. Nie bekomme ich, was ich will!!! Ich hätte auch ein giftgrünes Rücklicht genommen, aber nix da. In Antwerpen werde ich einfach nicht fündig. Ich bekomme langsam das Gefühl, analoge Fahrräder sind  out. Zurück auf unserem Zeltplatz wird gekocht, gegessen und dann komme ich nicht mehr drum rum: Ich höre meine Mailbox ab, freue mich über die vielen lieben Glückwünsche zum Geburtstag (und bedanke mich in den kommenden Tagen sukzessive bei jedem per sms). Beim anschließenden Mega-Kniffel verkünde ich meinen Entschluss fürs kommende Jahr: Ich will nicht nach Kuba fliegen, sondern eine große Radtour machen. Christian lächelt milde und ich glaube, auch ein bisschen fröhlich. Aber jetzt geht’s erst mal nach Brügge. Und zwar in nur noch zwei Etappen.

Egal ob von oben oder unten: Antwerpen ist irritierend ob seiner chaotischen Architektur

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Tag 18 – von Keersop nach Antwerpen



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Tag 18 – von Keersop nach Antwerpen

Über sich hinauswachsen – check. Mit dem heutigen Tag erledigt. Und zwar mit Bravour, wenn ich das ohne falsche Bescheidenheit mal sagen darf. Aber ich will nicht vorgreifen.
Wir verlassen unsere Campingbucht „De Meeres“ gegen 9.30 Uhr. Vorher reiße ich mir noch den abgelaufenen Chip, der mich bis jetzt viel zu genau mit aktuellen Zuckerwerten versorgt hat, vom linken Oberarm. Die erste katastrophale Erkenntnis des Tages: Ich werde nicht nahtlos braun nach Hause kommen. Weil dieses verdammte Leukoplastpflaster, das mir die Apothekerin hinter Minden großzügig über den Sensor geklebt hat, nicht UV-durchlässig ist. Skandalös! Damit ist meine Entscheidung vom Vorabend bestätigt: Kein neuer Sensor mehr am Oberarm! Den Rest der Reise werde ich meine Zuckerwerte wieder wie in den vergangenen 18 Jahre testen: Per Stechhilfe und Teststreifen. Ja, ist unbequemer, aufwendiger und vor allem nicht während der Fahrt zu erledigen. Ja, das pieksen in die empfindlichen Fingerkuppen ist jedes Mal schmerzhaft. Trotzdem. Und an dieser Stelle möchte ich vorgreifen: Ab diesem Morgen normalisieren sich meine Werte. Und damit entspanne ich mich in schwindelerregender Geschwindigkeit, meine Laune verbessert sich erheblich. Erkenne: Zu häufiges testen der Zuckerwerte macht nervös und übellaunig. Ein mediales Phänomen, welches auch von Smartphones bekannt ist. Haste eines, guckste ständig drauf. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nicht ganz unschuldig an den Zuckerdramen bin. Wann immer möglich, habe auch ich das kleine glänzende Gerät an Tinas Arm gehalten, um dann auf diesem wunderbaren Touchmonitor eine Zahl zu erkennen, durch die ich auf Tinas Zustand schließen konnte… vorbei die schöne Zeit. Aber tatsächlich, ohne die ständigen Messungen gibt es auch kein schnelles Reagieren auf ansteigende oder abfallende Zuckerwerte mehr und das bringt viel Ruhe ins Zuckerdrama. Tina hat heute Morgen eine der elementarsten Entscheidungen der Tour einfach so aus dem Bauch heraus getroffen. Gut gemacht!

Der Blutzucker-Sensor war zwei Wochen mit Leukoplast angeklebt – nahtlose Bräune adé.

Runter vom Campingplatz, links auf den Radweg. Es dauert, bis ich den richtigen Rhythmus finde und nach drei vergeblichen Anläufen finden wir endliche eine Tankstelle, an der wir eine Straßenkarte der Niederlande kaufen können. Und eine halbe Stunde später passieren wir auch schon das blaue Schild mit den goldenen 12–EU-Sternen-Kreis, in dessen Mitte in weißer Schrift „België“ steht. Wir küssen uns grenzüberschreitend. Wir sind jetzt in Vlaanderen, wie ein weiteres gelbes Schild mit stilisiertem Löwen erklärt und noch einige Meter weiter wird schriftlich behauptet: „De provincie Antwerpen heet u welkom“. Scheint nicht so, als müsste ich meine rudimentären Französischkenntnisse rauskramen. Trotzdem suche ich während der Weiterfahrt nach den entsprechenden höflichen Frage-Formulierungen bezüglich eines Platzes für unser Zelt, wahlweise für ein Fremdenzimmer. Overigens vond ik niet dat de provincie Antwerpen ons had verwelkomd.
Der richtige Tritt-Rhythmus stellt sich endlich ein, es geht über Feld- und Waldwege, zunächst nicht spürbar schlechter als in den Niederlanden. Da stoppt Christian plötzlich. Ein graues Kraftpaket, locker 69 Zentimeter Schulterhöhe, mit altersweißer Schnauze, tiefer Stimme, wild wedelnder Rute und dem Anspruch, Haus und Hof laut bellend zu verteidigen, versperrt meinem vorausfahrenden Christian den Weg. Zuversichtlich, dass nichts passieren wird, fahre ich betont entspannt an dem kläffenden Hund vorbei, ohne auch nur eine Sekunde ernsthaft zu befürchten, er könne mir in die Wade beißen. Erstaunlich dieses Grundvertrauen in das Gute im Hund. Ich bilde mir eine Menge darauf ein, 13 Jahre lang „Hundemutti“ gewesen zu sein. Vielleicht zu viel? Hochmut kommt schließlich vor dem Fall, schießt es mir deswegen auch durch den Kopf, aber ich verdränge den Gedanken sofort wieder. Ein bellender Hund beißt nicht. Weiß doch jeder. Und der hier schon gleich gar nicht. Ganz bestimmt. „Alles gut, entspann dich“, sage ich dennoch freundlich, ohne daran zu denken, dass der Vierbeiner möglicherweise kein Deutsch versteht. Meine betont selbstbewusste Haltung überträgt sich zu meiner Irritation nicht auf Christian. Der steht, die Beine von den vorderen Packtaschen wenigstens einigermaßen geschützt, und scheint auf ein Wunder zu hoffen. Aber nein, der Hund wirft sich ihm nicht zu Füßen oder löst sich gar in Luft auf. Er bellt munter und laut und durchaus energisch. Wäre ich weniger Hundeerfahren, ich würde laut brüllen vor Angst. So gebe ich mich überlegen und versichere Christian mehrfach, dass der Hund ihm nichts tun wird. Dass der nur freundlich sein Revier markiert. Naja, der krawallgebürstete Rüde rennt dann doch ein paar Meter Zähne fletschend und sehr laut bellend neben uns her und mein wunderbarer Tourguide ist stinksauer und zetert einige hundert Meter lang über die Frechheit, dass so eine Bestie frei rumlaufen darf, freundliche Radwanderer aus dem Nichts heraus so energisch bedroht. Im Normalfall habe ich keine Angst vor Hunden, nur scheint mir die Kombination Fahrrad und Dorfköter echt ein bisschen problematisch. Aber der glimpfliche Ausgang der Situation fließt auch in meinen Erfahrungswertebogen ein und schmälert die fiesen Angriffe in Serbien, der Türkei und Griechenland. Mal ganz ehrlich, liebe Hundebesitzer: Haltet eure Bestien doch einfach innerhalb geschlossener Zäune und weg von öffentlichen Straßen. Mit Sätzen wie: “Der tut nix”, kann ich als unwissender Fahrradfahrer nichts anfangen, denn ich kenne euren Hund nicht und weiß eben nicht, ober er bloß aus Angst oder Revierverhalten kläfft oder ob er sich gerade mit Leichtigkeit von der schweren Eisenkette losgerissen und durch den Natodraht gebissen hat, um auf die Straße zu kommen; um nach dem halben Rind zum Frühstück jetzt noch einen Radfahrer als Zwischenmalzeit zu verspeisen. 

SO muss ein Grenzübergang aussehen! Hätten wir gewusst, was uns erwartet, gelächelt hätte ich nicht.

Um Christian vom Schrecken abzulenken, lästere ich jetzt über die scheußlichen kleinen Häuser, die vereinzelt unseren Weg säumen. Lieblos, grau, halbfertig oder halbverfallen, das lässt sich im Vorbeifahren schwer sagen. Wir sind auch nicht so wahnsinnig begeistert von der Landschaft und verfallen schnell wieder in schweigendes Treten. Kurz darauf versperren uns Hühner den Weg – sie gackern in einer Dreiergruppe über unseren Weg und lassen sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Auf Christians Klingeln reagieren sie mit gelassenem Trippeln von links nach rechts. Einzig ein ziemlich zerrupft aussehender Hahn bleibt wie angenagelt mitten auf der Straße stehen. Ich stoppe, will wissen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Ist es nicht. Dem schwarzen Federvieh fehlen nicht nur die schmückenden Schwanzfedern, sondern auch das linke Auge. Hier bekommt der flotte Spruch, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, einen bitteren Beigeschmack. Der einäugige Hahn wirkt krank und verloren und unser Mitgefühl mit dem armen Gockel hält lange an.

Stoisch bleibt dieses Federvieh mitten auf dem Radweg stehen. Dann erkennen wir: Es ist blind…

Wir erreichen einen Kanal, der für die kommenden Stunden unsere Route bestimmen wird. Wieder stoppt Christian unerwartet. Dieses Mal mit strahlenden Augen und der Bitte, unbedingt ein Foto zu machen. Die Rede ist von einem „Aardbeien-Automaat 7/7“. Nach Brot- und Kartoffel-Automaten ist das hier neu für uns beide: Sieben Tage die Woche werden hier in 250 Gramm-Schachteln für 4 Euro erntefrische Erdbeeren verkauft. Und offensichtlich mit Erfolg. Denn während wir noch vor dem Automaten stehen und staunen, kommt eine ältere, kurzhaarige Bäuerin in Jeans, T-Shirt und Schürze. Sie schiebt eine Art Service-Wagen mit Stiegen voller abgewogener Erdbeeren vor sich und bestückt den Automaten. Wir nicken einander freundlich zu. Da sie kein Deutsch spricht, Christina aber großartig im dechiffrieren fremder Worte, sagt er „camping“ und „Brügge“ und sie nickt beeindruckt und wünscht uns gute Fahrt (glaube ich zumindest). Wir ziehen keine Erdbeeren, weil wie sie gleich essen müssten. Wollen wir in dem Moment nicht, also geht’s weiter, immer am Kanal entlang. Also ich will schon. Aber nicht weil ich Erdbeeren essen möchte, sondern offenbar habe ich einen Hang zur Automatenspielsucht. Ich möchte hiermit den anderen Zockern mal raten, nur noch solche Automaten zu bespielen. Die Erfolgsquote liegt bei annähernd 100%. Und dieser Weg ist abgrundtief hässlich. Soviel versammelte Scheußlichkeit, Kilometer um Kilometer, das drückt ein bisschen auf die Stimmung. Industrie rechts und links des Wassers. Wir passieren einen Frachter, der Christian heißt, und irgendwann gibt es einen Kick: Die Kombination Rückenwind und schnurgerade Strecke sorgen plötzlich für ungeheuren Fahrspaß. Wir treten in die Pedale, liefern uns kleine Wettrennen. Die Laune steigt und ich grinse breit – 32 Zähne, alle oben – und rase mit 32 Km/h an meinem Liebsten vorbei. Der grinst zurück, holt mich ein, wir fahren nebeneinander und genießen das Tempo. Ich brülle übermütig: „Wenn das so weitergeht, können wir ruhig bis Antwerpen fahren.“ Bei Kilometer 78 pausieren wir kurz an einem Umspannwerk, an dem das Rauchen verboten ist. Umspannwerk, Gasverteilstation, wer kennt da schon den Unterschied. Aber die Techniker in Belgien scheinen im Gegensatz zu den Landschaftsgestaltern – die Bänke für müde Touristen aufstellen, oder eben nicht –  einen guten Job zu machen, denn undicht war offensichtlich nichts. Und eine kleine Funktionskontrolle hat noch niemandem geschadet… glaub’ ich jedenfalls. Ich rauche übrigens überhaupt nur wegen der Automaten, is’ klar, ne? Während er nach einem Campingplatz sucht, steckt sich Christian eine Kippe an, passiert uns eine Gruppe von 25 E-Bike-Radlern im hohen Rentenalter, haben wir bereits gefühlt 25 Brücken links liegen gelassen und entscheiden, wir verzichten auf den ursprünglich geplanten Campingplatz und fahren weiter bis Antwerpen. Sind ja nur noch knapp 20 Kilometer. Mich piekst der Hafer und ich bin so voller Kraft und Adrenalin und Lebensfreude, dass ich es wahrhaftig auf 34,7 Km/h bringe. Auf gerader Strecke! Ein lauter Juchzer brodelt in mir, will raus – ich lasse ihn und balle dabei die Faust. Dieser Moment ist unbeschreiblich.

Fangfrische Erdbeeren, 250 Gramm für 4 Euro – da lacht das Herz, aber das Portemonnaie bleibt zu.

Dann erreichen wir tatsächlich Antwerpen. Und sind schockiert. Mich erinnert dieser Teil der Stadt an die frühen 80er Jahre, wenn wir durch Berlin nach Warnemünde fuhren. Christian bestätigt das bedrückende Ostblock-Flair. Zu allem Überfluss zieht sich der Himmel zu, wird erst Taubenblaugrau, dann Schieferschwarz und es beginnt zu regnen. Wir stellen uns unter, neben einem kleinen Supermarkt, aus dem mehrere Afrikanerinnen mit heulenden Kleinkindern herauskommen und uns mitleidig angucken. Wir warten auf das Ende des Regens, doch der Himmel ist Gewitterwolkig und es grummelt. Immerhin, der Regen wird weniger, es ist warm genug, um ohne Regenjacke fahren zu können. Christian lotst uns souverän durch die Stadt, die immer scheußlicher, dreckiger, lauter, stinkender und bedrohlicher zu werden scheint. Es sind keine Frauen zu sehen, nur an geschlossenen Läden hockende und rauchende Männer mit leeren Blicken, Männer in Grüppchen stehend, gehend oder sitzend. Graffiti übersähte Häuserwände, schmutzige, enge Gehsteige. Verfallende Gebäude. Alles atmet Armut und ich frage mich ratlos, wo ist der Teil von Antwerpen, von dem so viele Menschen schwärmen? Während wir abwechselnd über Kopfsteinpflaster, holperige Gehwege und dann wieder rissigen Asphalt unseren Weg suchen, bete ich die ganze Zeit, dass wir nicht überfallen und ausgeraubt werden. Dabei werden wir nicht mal neugierig angesehen. Trotzdem bin ich froh, als wir endlich raus sind aus dieser bedrückenden Bronx und uns an der Schelde wiederfinden. Dem Fluss, der Antwerpen teilt. Und der keine Brücken hat, um den Schiffsverkehr nicht zu behindern.
Es ist ein wildes Gewusel auf dem kombinierten Fußgänger-Radweg. Der Himmel ist immer noch bedrohlich grau und es grummelt. Inzwischen blitzt es auch und ich werde ungeduldig vor Angst. Bei Blitz und Donner auf dem Rad? Lässt das Herz zwar höher schlagen – aber ganz sicher nicht vor Begeisterung. Christians Navi behauptet, es gäbe eine Brücke. Wir fahren vor und wieder zurück, vorbei an denen das Ufer säumenden und alten musealen Booten Schutz bietenden Hallendächer. Endlich wird klar: Die angebliche Brücke ist der 931 gebaute und 1933 eingeweihte Sint-Annatunnel. Wir überqueren die Baustellen verengte Straße während einer Rote-Ampel-Phase und dann erleben wir die abenteuerlichste Fahrt dieser Reise: Über zwei hölzerne Holzrolltreppen geht es 31 Meter in die Tiefe. Die schwer bepackten Räder verkantet, beide Bremsen gezogen, holpern wir bis zum Tunnelboden, der einen Durchmesser von 4,30 Metern hat und 572 Meter lang ist. Es ist ziemlich kalt hier unten, man darf als Radfahrer nicht schneller als 5 km/h fahren. Aber nachdem ich sehe, wie die anderen Radler in die Pedalen treten, hält mich nichts mehr davon ab, so schnell wie möglich diesen maximal 12 Grad kaltem schnurgraden Tunnel zu durchqueren. Für den Weg zurück ans Tageslicht nutzen wir dieses Mal den Lastenaufzug, den maximal 40 Personen gleichzeitig nutzen dürfen und der seit den 1990er zum Großteil von den Radfahrern genutzt wird. Sieht ein bisschen so aus, als würden nur doofe Touris mit ihren (vollgepackten) Rädern die historischen Rolltreppen nutzen. Jeder, der mal eine Reise nach Antwerpen wagt, sollte einmal diesen Tunnel benutzen. Das macht wirklich tierischen Spaß.

Kraft und Konzentration braucht es bei diesem Abenteuer: Die Holzrolltreppe im Sint-Annatunnel
Ein bisschen gruselig, schnurgerade, beinahe 600 Meter lang und sehr sehr kalt: Der Sint-Annatunnel

Kaum haben wir die Straße betreten, beginnt es wieder zu regnen. Es sind noch zwei Kilometer bis zum Campingplatz, der mitten im Hafengebiet liegt. Voller Hoffnung, dass der Blitz uns nicht in letzter Minute erschlagen wird, folge ich Christian. Die Schranke am Campingplatz umfahren wir. Im Pförtnerbüro sitzt niemand. Ich rufe bei der angegebenen Nummer an und rechne damit, dass ich jetzt aber in französisch unser Begehr formulieren muss. Denkste, die nette Dame am anderen Ende der Leitung spricht mit herrlichem Akzent und damit in perfekt verständlichem Englisch. Wir mögen uns einen Platz aussuchen und dann morgen bezahlen. Während ich telefoniere, scharwenzelt eine bunte Katze um mich herum, eine rothaarige macht es sich auf einem der gepolsterten Sitze vor dem Büro gemütlich und kommt Christian durch den leichten Nieselregen zu mir – er hat bereits einen Platz für uns ausgesucht.
Wir bauen das Zelt auf. Die Stimmung ist dem Wetter entsprechend angepasst. Ich koche aus Resten unser Abendbrot, wir essen schweigend und dann gratuliert mir mein Herzensmann zu 94,91 gefahrenen Kilometern. Reine Fahrzeit an diesem Tag: 5 Stunden, 17 Minuten. Und als ich später in den Waschräumen einer wildfremden Frau beim Zähne putzen von dieser persönlichen Höchstleistung erzähle, wird mir bewusst: DAS heute war die bisher größte sportliche Leistung meines Lebens. Ein cooleres Geschenk hätte ich mir zu meinem morgigen Geburtstag kaum selber machen können. Übrigens verquatschen sich die fremde Bayerin und ich uns. Sie kann nicht glauben, dass eine Reiseradlerin ernsthaft von Potsdam nach Brügge im Kleid fährt und darüber hinaus auch noch einen Lockenstab im Gepäck hat. Echt nicht? Tue ich und habe ich. Bei allem Pragmatismus: Ein bisschen Eitelkeit muss sein.
Und währenddessen stolpern ein fremder Bayer und ich zombiegleich über den Platz und suchen unsere Frauen, treffen uns vor dem Damenklo, atmen erleichtert auf, als wir die Hühner schnattern hören, wünschen uns eine gute Nacht und gehen schon mal schlafen.

Nach dem Gewitter über Antwerpen: Blick vom Campingplatz au den Hafen

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Tag 17 – von Arcen nach Keersop



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Tag 17- von Arcen nach keerson

Gut gelaunt geht es nach dem gestrigen Ruhetag wieder auf die Straße. Nachdem ich ja die offizielle Morgenfütterung vom Vortag verschlafen habe, bin ich begeistert von dem mehr als reichhaltigen und liebevoll arrangierten Frans-Frühstück. Neben dem Glas O-Saft und frischen Erdbeeren, Joghurt, gekochtem Ei, Wurst-, Käseteller und Tomaten-Gurken-Teller gibt es für jeden vier Brötchen und zwei Crossiants!! Liebe B&B’s / Pensionen in Deutschland: SO geht Service. Und Frans hat uns auch noch großzügige Streifen Alu-Folie und einen Brotbeutel hingelegt mit der Bemerkung, wir sollen uns Brötchen für die Tour schmieren. Ach, Frans, du gute Seele. Als ob du geahnt hast, dass diese Käsestullen am späteren Nachmittag quasi unsere Beziehung retten werden. Wer noch definitiv zu erwähnen ist: Das Pärchen neben uns am Frühstückstisch, das sich mit den Worten vorstellt, gemeinsam 140 Jahre alt zu sein. Sie sehen keinen Tag älter als 125 gemeinsame Jahre aus. Sehnsüchtig schiele ich zu ihrem Brötchenkorb, denn sie haben zwei von den dunklen, rustikalen Baguette-Brötchen, wir leider keines. Der winzige Fressneid hält die komplette Futterstunde und wäre auch am Ende belohnt worden, wenn ich mich letztlich nicht zu sehr geschämt hätte, das angebotene Baguette zu nehmen. Weil, ich habe nämlich vorher unseren fast unberührten Wurstteller rübergereicht. Und damit eine freundliche Gegengeste quasi provoziert. Was soll’s. So ein bisschen Verzicht üben kann eigentlich nicht schaden. Die beiden Niederländer jedenfalls tauen sehr schnell auf. Die männlichen 70 Jahre sprechen sehr gut Deutsch – hat er in den 1960er Jahren als Pfleger bei seinem einjährigen Berlinaufenthalt gelernt. Als die Mauer gebaut wurde, musste er zurück in die Niederlande und wiederholt einige Male in leichtem Singsang, er habe noch einen Koffer in Berlin. Wir vermuten, dass er seinen Traum, nochmal nach Berlin zu fahren, in diesem Leben nicht mehr realisieren wird. Einfach weil er lieber regelmäßig zu Frans fährt. Was wir durchaus verstehen, denn Arcen ist ein reizendes Städtchen (Frans sagt, es sei Dorf). Während er erzählt, fallen ihm immer mehr deutsche Worte ein, was ihn offensichtlich entzückt. Nachsichtig, dabei durchaus sehr liebevoll wird er von seiner Frau belächelt, die sich aus dem Gespräch weitgehend zurückhält. Nicht etwa, weil sie weniger gut deutsch spricht, sondern weil sie mit großem Genuss auch noch größerer Langsamkeit ein drittes Milchbrötchen mit Butter und Marmelade kaut. Herrgottnochmal, sind die Beiden reizend. Sie bewundern unsere bisherige Fahrleistung und weiteren Pläne mit mehr als großen Augen und noch größerem Respekt. Und wünschen uns zum Abschied eine gute und sichere Fahrt. 

Schön per Fähre über die Maas. Es ist heiß, es duftet nach Rosen und die heutige Route ist nur grob klar.

Frans zu begegnen war einer dieser wunderbaren Zufälle, die es ja genau genommen nicht gibt. Wir empfehlen JEDEM sich wenigsten für eine Nacht im Café B&B Rayer Catering, Diner en Meer, Kerkstraat 2Qa Am Arcen einzuquartieren. Wir holen uns bei Frans noch ein paar Tipps für die Niederlande ab und starten die Strecke mit unserer ersten Fährfahrt über die Maas. Eine kleine elektrische, nur von Solarzellen angetriebenen Fähre, transportiert lediglich Radler, oder, wie sie in den Niederlanden heißen, Fietsen und Fußgänger. Heute ist Sonntag und die Niederlande sind geschlossen auf irgendwelchen Zweirädern unterwegs. Sind es keine Fahrräder (Fietsen), sind es eben Motorräder (Bromfietsen) oder irgendwas dazwischen. Auf jeden Fall sind es Tausende, denen wir heute begegnen und das Wetter lädt auch dazu ein.

Keine fünf Minuten per Elektrofähre dauert es, die Maas zu überqueren. Kosten pro Person: 1 Euro

Unsere erste Etappe führt uns nach Horst. Ich habe noch keine Karte für die Niederlande und nur mit dem Navi wird das ein schwieriges Unterfangen. Die Radwege sind hier nur selten mit Stadtnamen bezeichnet, sondern tragen nicht ganz nachvollziehbare Nummern. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich das System der Knotenpunkte durchschaue und mich vor allem damit anfreunde. Aber auch wenn Supermärkte am Sonntag geöffnet haben, einen offenen Buchladen haben wir nicht gefunden, um eine Radkarte unserer holländischen Freunde zu erwerben. Uns fällt aber auf: In den Niederlanden sind die meisten Lebensmittel teurer als in Deutschland. Auch Benzin und Tabak –  ICH bin ja seit sechs Kilo Nicht-Raucher. Mir also wampe .. äh, wumpe – kosten hier mehr als bei uns und umso mehr verwundert mich die Tatsache, dass die Niederländer durch die Bank weg sehr freundlich und aufgeschlossen sind. Liegt es am Radfahren oder an den wenigen Bergen? Die rauchen einfach weniger. Egal, es ist so und es ist gut so, denn wir fühlen uns auf Anhieb sehr wohl und herzlich aufgenommen. Die Orangjes sind ein zutiefst fröhliches Volk – weil sie mit Maxima und Willem Alexander und den drei Töchtern, die alle mit A heißen, eine fröhliche Königsfamilie haben.

Sonntags in der Fußgängerzone von Horst: An jeder Ecke gibt es Eis, aber keine Fahrradkarten.

Trotzdem kommt es im Laufe des Tages zu einem meiner berüchtigten Frustanfälle, denn wer sich hier nicht elektrisch oder mit Körperkraft fortbewegt, tut es scheinbar mit dem Motorrad. Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass Mopeds und Mofas auf niederländischen Straßen nichts zu suchen haben und wir uns die heute ohnehin überfüllten Radwege oft mit ihnen teilen müssen.
Machen wir uns mal nichts vor, mein Schatz. Du wirst garantiert bis zum letzten Tag der Tour Schimpf und Mordio zetern, wetten?
Mir persönlich sind diese Gefährte zu laut. Das schnelle Hochdrehen der Motoren und der brubbelige Sound mögen Mitsechziger ja toll finden, mich hingegen nervt es zunehmend und so kommt es wie es kommen muss: Ich werde mal wieder launisch.
Ich wusste nicht, dass ein Gebrülltes “warum?” genauso agro klingen kann wie “Verfluchte Scheisse”. Tina stoppt daraufhin unsere Karawane und füttert mich erst einmal mit Frans-Stullen, die auch sofort Wunder wirken. Offensichtlich werde ich mit zunehmendem Hunger echt unausstehlich.
Ach, was? Es liegt gar nicht an den Bromfietsen?
Aber wer weiß schon, wozu dieses beidseitige Wissen in unserem Beziehungsleben noch gut ist. Meine Stimmung ist schnell wiederhergestellt und so kann auch ich mich auch endlich an den schönen niederländischen Orten erfreuen, so wie Tina es schon den ganzen Tag tut. Ja, zugegeben, diese Niederlande scheinen, zumindest nach dem ersten Fahrtag, durch und durch lebens- und liebenswert zu sein.
Und dann waren da noch diese beiden Animalfarms. Also eigentlich ganz traurig, wenn man es genau betrachtet. Aber oberflächlich besehen ist es hinreißend, die ewig lang bewimperten Augen der Rehe zu sehen und noch hinreißender finde ich die frisch von ihrem kuschelweichen Fell befreiten Alpackas, die mit ihren langen Hälsen und ebenfalls lang bewimperten Kugelaugen verzückte Seufzer in mir auslösen. Übrigens, sowohl die Bambis als auch die Alpaccas trafen wir direkt vor America. Und ich verzichte jetzt auf den Kalauer, der einem eigentlich auf der Zunge liegt, sondern protze mit Christians Wissen, das er von Frans hat: America bedeutet auf Holländisch oder Flämisch oder Mittelhochdeutsch “An der Heide”. Die Botaniker unter uns wissen, dass Heide auch Erika heißt.

Latent hysterisch und dabei sooooo entzückend: Familie Alpacka, kurz vor America

Heute machen wir mehr Pause, als dass wir fahren, und so kommen wir auch erst sehr spät an unserem Campinplatz an. Ich mag unser trödeliges, entspanntes fahren, obwohl ich von Harrys und Meghans Hochzeit quasi nichts mitbekommen habe. Offensichtlich bin ich trotz der körperlichen Anstrengung ziemlich gleichgültig was internationalen Glamour-Gossip angeht. Wir reden hier immerhin von DER Adelshochzeit des Jahres. Sogar die Beckhams waren da, Elton John sowieso, und George und Amal Clooney – das immerhin habe ich mitbekommen. Hab schon dem Harry seine Mutti Diana damals beim Ja-Wort aufs Kleid geschielt.
Wir bauen das Zelt auf, lassen noch schnell einen kräftigen Regenschauer über uns ergehen und gehen zur Feier des heutigen, wirklich schönen Tages noch richtig lecker essen. Ähm… Sind wir nicht eigentlich essen gegangen, weil es zu nass war, um sich zum kochen irgendwo hinzusetzen? Und “lecker” finde ich auch ein großes Wort für einen durchschnittlichen Salat und einen frittierten Bürger an Pommes.

Yes, we did!

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Tag 15 – von Altfeld nach Arcen



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Tag 15- von Altfeld nach Arcen

Soll noch mal jemand sagen, ich sei dünnhäutig. Dem werde ich nicht widersprechen. Ganz im Gegenteil! ABER, und das möchte ich betonen, selbst meine zu allergrößte Toleranz neigender Christian verliert an diesem Morgen in Altfeld ein bisschen die Nerven. Oder zumindest tut er wenigstens so, damit ich mich nicht allein so schlecht fühle.
Wie gewonnen, so zerronnen, möchte man dieses dämliche Sprichwort bemühen. Denn was gestern noch in den schillerndsten Entspannungsfarben leuchtete, was sich als wahr gewordener Traumort der Ruhe und Kreativität präsentierte, ist eine verdammt laute Mogelpackung! Die schlimmste, die wir bislang erlebt haben. Und ich rede nicht von Rasenmähern, brüllenden Kleinkindern oder keifenden Wadenbeißern. Ich zupfe mir um halb neun die Ohropax aus den Ohren – und erstarre. Deutsche Schlager der allerschlimmsten Sorte – Oh Gott! Wie vermisse ich Cindy & Bert, Michael Holm, Katja Ebbstein, Marianne Rosenberg! -, stumpfer eins-zwei-Tipp-Discofox-Takt, in Ballermannlautstärke. Noch mal: Es ist Freitagmorgen, 8.30 Uhr, auf einem Campingplatz! Erst bei unserer überstürzten Abfahrt eine Stunde später stellt die Putzfrau das Radio übrigens auf Zimmerlautstärke. Nein, so richtig gut gelaunt war ich an diesem Morgen nicht wirklich. Denn im Gegensatz zu Dir hatte ich keine Ohropax und die arme Putzfrau schon seit mindestens 7.30 Uhr Dienst. Allerdings waren die gespielten Schlager für mich alle Neuland, auch wenn ich mir eingebildet habe, die eine oder andere Melodie schon einmal gehört zu haben. Wenn man aber bedenkt, dass das Schwimmbad seit einem dreiviertel Jahr außer Betrieb war und die Reinigung bestimmt einer der blödesten Jobs ever ist, dann kann ich diese Liedauswahl durchaus verstehen. Wahrscheinlich ist dritt- oder viertklassiger deutscher Schlager eines der stärksten legal erhältlichen Narkosemittel und damit erhält es von mir das Prädikat: BESONDERS NERVTÖTEND. Ich höre durch das Wummern der Bässe, wie Christian sich unterhält. Angeregt unterhält. Skandalös angeregt und fröhlich unterhält. Mit einer Frau, die ganz klar aus Stuttgart kommen muss. Sieglinde ist kurz vor 70, ihr kleiner Köter leidet unter Nierensteinen und muss alle drei Monate zum Arzt und ihr Mann putzt mit unendlicher Liebe, Leidenschaft und absurder Hingabe das fahrbare Eigenheim. Und während Sieglinde erzählt, dass sie eigentlich nur 245 Euro Rente bekommt, aber dank des Verkaufes ihres mit 230 Quadratmetern viel zu großen Eigenheims nun durch die Welt, vorzugsweise Spanien, gondeln kann, würzt sie acht Hähnchenkeulen – mehr passen nicht aufs Backblech des mobilen Elektroofens mit Grillfunktion. Ich nehme mich sehr zusammen, aber unter vier in Wut- und Enttäuschungstränen schwimmenden Augen verlange ich von Christian, dass wir auf- bzw. abbrechen. Sofort. Hier kann ich weder entspannen noch arbeiten. Im Gegenteil. Ich befinde mich in akuter Gefahr, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen, weil ich den einen oder anderen Mord begehen könnte. Vorzugsweise an der Putzfrau.
Von Siggi bekommen wir selbstverständlich unsere Kaution und die zweite, im Voraus bezahlte Nacht zurück. Ach, Mensch, Siggi. Sie macht seit vier Jahren einen vermutlich richtig guten Job. Eine quirlige, herzliche Endvierzigerin, die hier schon als Kind war und eigentlich selber eine Parzelle gekauft hat. Die zu dem Job der Campingchefin durch Zufall kam. Die für alle immer zu sprechen ist. Die von Mobbing unter den Dauercampern erzählt, wenn der Winter zu lang ist. Weil so ein Campingplatz, auf dem ganzjährig auf engstem Raum gewohnt wird, am Ende nichts anderes als ein Dorf ist. Siggi, die gute Seele, lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und als ich zu einer Notlüge greife, warum wir doch schon heute fahren müssen, dann nur aus einem Grund: Ich möchte die sympathische Siggi nicht vors Knie treten. Vielleicht ist es auch wegen Marla, diesem hinreißenden Vierbeiner, der sich zum Abschied noch mal anständig kraulen lässt.

Hat alles im Griff: Siggi Hoppe rockt den Campingplatz mit viel Humor, Hündin Marla bleibt entspannt.

Wir verlassen Altfeld um 10.30 Uhr geradezu fluchtartig. Wobei Altfeld stellvertretend für Deutschland steht. Wir haben nach 16 Tagen die Nase voll von deutschen Campingplätzen. Gestrichen voll! Obwohl wir ja wirklich wunderschöne kennengelernt haben. Aber irgendwie ist der Wurm drin. Und dass sich nun auch der vierte Platz in Folge nicht als Ruhetag qualifiziert konnte, lässt nur einen Schluss zu: Wir machen rüber. Nach Holland. Zu den Käsköppen. Dabei muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts mit Holland verbinde außer den üblichen Klischees. (Alles Gute ist wohl nie beisammen und so gibt es bei den meisten Plätzen wohl einen mehr oder weniger sichtbaren Haken. Was für uns gar nicht geht, ist für andere wahrscheinlich vertretbar oder sogar erwünscht. Eventuell wäre die Musik mit Eröffnung des Schwimmbades sogar ganz verschwunden und dann durch den Lärm der Badegäste ersetzt worden. Wir hätten vielleicht etwas genauer zuhören sollen, denn Siggi hatte es gestern angedeutet: Morgen wird das Schwimmbad eröffnet und alle freuen sich schon darauf. Wir sind uns jedenfalls einig, nach 2 erfolglosen Ruhetagsversuchen werden wir keine Unterkunft mehr für 2 Tage am Stück buchen, sondern uns nur noch von Tag zu Tag hangeln.) Dank der musikalisch untermalten Enttäuschung ist meine Laune mies. Richtig, richtig, richtig mies. Geradezu miesmuschelig trete ich in die Pedale, nur nicht zu kräftig. Ich will Christian nicht nerven. Und schon gar nicht der Möglichkeit geben, mich aufzuheitern. Um Himmels Willen! Das wäre ja geradezu albern. Hab mich schließlich sehr sorgfältig in diese düstere Stimmung manövriert. Schafft er dann aber doch. Mich aufzuheitern. Und zwar mehr als das: Er macht mich glücklich. Christian bremst und zeigt nach links. Wüstenschiffe! Braune und weiße. Das kuschelteppichartige (Winter-)Fell, das in langen Fetzen von den riesigen Körpern und dem Höcker hängt. Weiche Lippen, leichter Überbiss, lange Zungen und umflorter Blick – ich bin mal wieder Schockverliebt. Rupfe wie paralysiert ganze Äste von den bereits auf Weidenseite sehr ramponierten Bäume und siehe da, so ein fremdländisches Dromedar hat im Gegenteil zum heimischen Reh keinerlei Berührungsängste. Mit einer an Arroganz grenzenden Selbstverständlichkeit schnappt es das hingehaltene Grünzeug und zermahlt mit allergrößter Gelassenheit sogar die Zweige, als wären sie Grashalme. Die weiße Dromedarlady bekommt schnell spitz, dass es hier eine Extraportion Futter gibt und wankt in gemächlichen, aber zielstrebigen Schritten auf uns zu. Christian ahnt, warnt – mir egal. Ich kann und will nicht widerstehen – für den Bruchsteil einer Sekunde berühre ich das weiche weiße Maul, das wie zum Pfeifen gespitzt ist. Dann löse ich mein Versprechen ein und pflücke weiter Äste. Ein dritter Kollege kommt neugierig dazu. Christian findet ja, es reicht jetzt mit füttern. Sorgt sich um die Magen- und Darmflora meiner neuen Lieblingstiere. Unsinn. Sieht er denn nicht, wie verhungert sie alle aussehen? Wie karg und abgeerntet die Wiese ist, auf der sie stehen? Ich entblöde mich nur mit allergrößter Selbstkontrolle nicht zum Deppenzeptergriff. Dabei hätte ich wirklich sehr sehr gerne ein Selfie mit den drei kuschellippigen Exoten gemacht. Die übrigens durch einen Holzzaun von träge herumliegenden Kamelen getrennt sind. Es fällt mir schwer, die Fütterung einzustellen und mich wieder aufs Rads zu schwingen. Doch auch wenn heute nicht mal 35 Kilometer zu bewerkstelligen sind, ewig können wir nicht hier rumtrödeln. 

R E I Z E N D und absolut verfressen. Zwei von etwa 10 Dromedaren in ihrem Winterquartier.

Irgendwo im Wald ist es dann soweit: Grenzüberschreitung. Wir machen daraus ein Event mit noch mal auf deutscher Seite ins Gebüsch pullern, noch mal in einen deutschen Bananen-Schokoriegel beißen. Auf deutscher Seite erfolglos versuchen, das Rücklicht zu reparieren. Natürlich bestehe ich auf einem Selfie, auch wenn außer zwei roten Bänden, die an Metallpfosten flattern, nichts darauf hindeutet, dass wir mit nur einer halben Radumdrehung von Deutschland in die Niederlande schieben. Dieser Waldteil ist bei aller Romantik irgendwie auch ein bisschen unheimlich, mit diesen Tarnnetzen, die wie ein Zaun linkerhand von uns ein unüberschaubares Stück Wald abtrennen. Sind wir etwa auf militärischem Gebiet? So was Ähnliches, wie wir wenige Minuten später erkennen. Es handelt sich um ein Paintball-Gebiet. Zur Erklärung für den geneigten Leser über 25: Ein besonders beim Testosteron gebeutelten Teil der Bevölkerung hoch im Kurs stehendes Kriegsspiel, bei dem der Gegner mit Farbkugeln beschossen wird. Kann man cool finden oder auch lassen. In diesem Teil der Niederlande geht Paintball offensichtlich knapp am Breitensport vorbei. Bevor es in Vergessenheit gerät: Unser künftiger Herbergsvater hat uns am Abend noch aufgeklärt: Das, was wir als Grenze identifiziert haben, ist eine ehemalige Kiesgrubbe. Grenze hin oder her, die verwunderten Blicke die wir geerntet haben, sprechen Bände: Wundervolle Straßen und Radwege haben wir hier in den Niederlanden und ihr Deppen schiebt durch ’ne Kiesgrubbe. Na logisch, warum leicht, wenn es auch kompliziert geht? Mein wunderbarer Tourguide hat mir versichert, in den Niederlande ist Camping für nen Appel und n Ei zu kriegen, sprich um die 10 Euro pro Nacht. Aha. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass genaue Recherche sinnvoller ist, als ein nicht durch Daten verifiziertes Wunschdenken. Trotzdem. Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Von denen haben wir aber quasi keine gefunden. Dein wunderbarer Tourguide hat sich aber auch eingebildet, Deutschland wäre das teuerste Land der Welt und die Niederlanden so von Campingplätzen übersät, dass die praktisch alle in Konkurrenz zu einander stehen und sich somit im Preis unterbieten. Aber nix da. Wir verlassen also das Paintballgebiet, fahren vorbei an einer Art Ferienpark mit Holzbungalows, passieren diverse Wiesen, diverse Gewächshäuser, viele Wiesen mit grasenden Kühen oder Schafen, fahren vorbei an einem Morast, sind entzückt von der großartigen Beschaffenheit der Radwege, der Architektur, der liebevollen Gestaltung der Vorgärten, der freundlichen und uns Radler respektierenden Autofahrer, dem Grün der Wiesen, Felder und Wälder. Klingt verliebt? Jo. Auf den ersten Blick quasi. Hmm, hoffentlich merkt bei Deiner wundervollen Aufzählung niemand, das es “quasi” nur 4000 Meter bis zur Herberge waren.

Kurz vor dem Hopser rüber nach Holland. Die Grenze hier geht durch eine ehemalige Kiesgrube.

Bei aller Begeisterung bekommen wir dennoch schnell einen Dämpfer, denn es erweist sich als komplizierter, ein geeignetes Fleckchen Rasen für unser Zelt zu bekommen, als angenommen. Der erst beste Platz ist zwar wie von Christian vorhergesagt ziemlich preiswert (13 Euro für zwei Personen inkl. Zelt), bietet aber weder Atmosphäre noch Sitzmöglichkeiten. Für unseren Ruhetag fehlen also zwei grundlegende Voraussetzungen. Weiter geht’s. Wir versuchen es bei einem am Waldrand gelegenen B&B – leider ausgebucht. Mal nebenan probieren, der vermietet auch. Der geneigte Leser ahnt es schon: Auch hier kassieren wir eine Absage. Eine freundliche zwar, aber eine Absage. Es ist noch relativ früh, gerade mal 15 Uhr, also machen wir uns keine großen Sorgen und radeln munter weiter. Hach, was ist es reizend bei den Niederländern. Alles wirkt frisch und ordentlich und liebevoll und dabei gleichzeitig auf charmante Art traditionell. Eine gelungene, unaufdringliche Mischung aus Bauernhof und modernem Einfamilienhaus begegnet uns mehrfach und selbst was bei uns unter Reihenhaussiedlung fallen würde, hat hier seinen besonderen Charme. Begründet in den roten Backsteinen, den weißen Fenstern, den bunten Gärten und den Straßen, die meist auch aus rotem Ziegel gepflastert, statt Schwarz geteert sind. 

Schon gut. Das hier soll ja keine Werbebroschüre für die Niederlande werden. Also, wir erreichen nach 33 Kilometern Arcen. Auf der linken Seite eine Gastwirtschaft, die sicherlich schon seit den 60er Jahren existiert. Christian klingelt, versucht durch die Scheiben zu gucken, klopft. Niemand öffnet. Ich schaue die Fassade skeptisch hoch – sehr kleine Fenster. Das sieht nach dunklen Zimmern aus. Innerlich hake ich diese Unterkunft schon ab. Da wird Christian von einer kurzhaarigen Holländerin angesprochen. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Seite bei den Rädern, sehne mich nach einer Zigarette, und sehe: Da passiert gerade etwas Entscheidendes. Und richtig. Annika hat mal in dem Restaurant gearbeitet, und winkt uns ihr zu folgen. Links ums Gebäude rum, an einer kleinen Terrasse unter einem uralten Baum vorbei, noch ein Stück weiter. Ein Kiesweg, ein halb geöffnetes, schwarzglänzendes Metalltor und da kommt Frans. Schüttelt uns freundlich die Hand, begrüßt uns mit reizendem Rudi-Carell-Akzent, zeigt uns ein kleines, auf den ersten Blick tatsächlich dunkles Zimmer mit angrenzendem Bad. Wir mögen den jungenhaft aussehen Holländer auf den ersten Blick, entscheiden uns mit einem wortlosen Zunicken für das Zimmer. Auch wenn 60 Euro nicht gerade ein Schnäppchen sind, schlagen wir ein. Immerhin ist ja Frühstück dabei. 

Frans fragt, was wir trinken möchten und bringt eine Fanta und einen Apfelsaft, während wir durch den Rosenbogen in die quadratische, mit alten Bäumen und Büschen umwachsene Oase treten und denken: Ja, alles richtig gemacht. Frans ist unaufgeregt, unaufdringlich und wir dürfen unsere Räder in seinem Schuppen unterstellen. Er gibt uns den Schlüssel, fragt, wann wir frühstücken wollen und verschwindet dann, weil er für seine Frau kochen muss – wie er mit einem Augenzwinkern sagt. 

Quadratisch, idyllisch und ruhig: Der von Frans’ Vater angelegte Garten in Arcen ist ein Traum.

Die Stille des Gartens, die späte Sonne – wir sind glücklich. Weil wir ein bisschen auf unsere Tourkasse achten wollen, koche ich aus dem, was wir noch haben, unser Abendessen im Garten. Es fühlt sich ein bisschen wie zuhause an, hier bei Frans. Um 21 Uhr falle ich vollkommen erschöpft ins Bett. Herrlich! Ein richtiges Bett mit frischer Bettwäsche, einem fluffigen Kopfkissen. Obwohl ich eigentlich noch eine Runde schreiben wollte oder wenigstens das obligatorische Megakniffel im Kopf hatte, stehe ich nicht mal mehr zum Zähneputzen auf. Ich falle in den tiefsten Schlaf seit 20 Tagen und brauche nicht mal Ohropax.
Frans hat uns sogar seinen Garten zum Campen angeboten, falls uns das Zimmer zu teuer sein sollte. Frans, falls du wie versprochen liest: Danke, du bist ein wunderbarer Kerl!!!

Spätes Abendessen, fast wie zuhause im eigenen Garten.

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Tag 13 – Haltern am See nach Wesel



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Tag 13- von Haltern am See nach Wesel

Heute morgen stellen wir beim Abbauen mal wieder einen neuen Rekord auf. Keine 45 Minuten nach dem Aufstehen ist die Morgentoilette erledigt und sind alle Taschen auf den Rädern verstaut. Dennoch will keine so rechte Heiterkeit aufkommen. Tinas Treffen mit ihrer Freundin sind einfach zu selten, und die Gewissheit, einen wunderbaren Menschen so schnell wieder verlassen zu müssen, betrübt auch mich. Gern hätte ich mehr gemeinsame Zeit gehabt, und Tinas Freundin hätte uns sicher auch noch mehr ihrer Zeit geschenkt, aber der Preis für sie wäre hoch gewesen und wir haben ja schließlich ein Ziel: Brügge. Mir wird vor allem bewusst, wir haben zwar viel Zeit, aber eben auch keine Unbegrenzte. Irgendwann werden wir wieder ins normale Leben zurückmüssen und trotz der Freude, die mir diese Tour bereitet, ich freue mich auch auf die vor mir liegende Zeit sehr.

Den Bielefelder Dauercamper verschlägt es jährlich hierher – die Schwiegerfamilie wird besucht.

Im Moment quälen mich aber noch andere Probleme. Mein Morgenkaffee hat unser letztes Gas fast völlig aufgebraucht. Zum Glück hat uns unser Bielefelder Nachbar gestern bereits eine ungefähre Wegbeschreibung zu einem örtlichen Outdoorausstatter gegeben, den wir als erstes aufsuchen wollen.
Da wir bereits um sagenhafte drei Minuten nach neun von unserem echt charmanten Campingplatz rollen, und sowieso durch Haltern Am See fahren müssen, um ins Industriegelände zum Ausstatter zu kommen, bestehe ich darauf, noch einen kurzen Abstecher bei meiner Freundin, die direkt in der Innenstadt wohnt, zu machen. Eine völlig idiotische und dennoch absolut richtige Entscheidung. Idiotisch, weil meine Freundin vermutlich bis tief in die Nacht gearbeitet hat und wir sie um 9.30 Uhr aus dem Bett klingeln. Absolut richtig, weil ich sie so unendlich mag und vermisse und ich sie einfach noch mal drücken wollte. Sie hat nicht mit uns gerechnet, und wir sprechen auch keine drei Minuten miteinander. Dann schließt sie wieder ihre Wohnungstür. Mich hat dieser kurze Moment sehr bewegt und den ganzen weiteren Tag überlege ich, ob wir nicht einen Tag hätten dranhängen sollen. Dann stehen wir vor dem Outddoorladen und es geschieht, worauf wir uns schon seit Beginn der Tour moralisch vorbereitet haben: Es regnet das erste Mal auf unsere vollgepackten Räder. Oh ja, wir können auch in hektisch. Kramen Regenhose, Regenjacke aus den Tiefen der Taschen. Ich stelle zwei wenig witzige Dinge fest: Ich habe den Wasserschutz für meine Lenkertasche vergessen und in der Regenhose sehe ich nicht nur aus wie eine schwarze Presswurst – und fühle mich auch so. Hilft übrigens ungemein, die angeschlagene Laune zu verbessern. Zum Glück regnet es nicht lange und nicht sehr intensiv, aber es reicht, um das erste Mal wirklich nass zu werden. Beim anschließenden Frühstück bei einem Bäcker eines Supermarktes lassen wir uns dann auch sehr viel Zeit. Keiner von uns ist heute morgen in allerbester Stimmung. Bei Tee, Kaffee, belegten Brötchen und einem steinhart gekochten Ei schauen wir dem Filialleiter bei einem Vorstellungsgespräch zu, das dieser wegen der drückenden Schwüle offensichtlich nicht in seinem Büro führen möchte. Ich vermute aber: Wahrscheinlich hat er bloß nicht aufgeräumt.

Soweit das Auge reicht: Kein Auto, kein Trecker – nur wir.

Als wir uns dann doch endlich aufraffen können, kommen wir trotz des guten Rückenwindes nicht so richtig in Schwung. Statt zu radeln, schleichen wir die ersten Kilometer durch die Gegend. Lustlos, antriebslos, scheinbar sogar ziellos. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob tatsächlich unsere Stimmung die Landschaft so trostlos erscheinen lässt. Ich stürze mich mit Kamera auf ein paar Mohn- und Kornblumen, damit wenigstens ein bisschen Farbe in den Tag kommt.Aber so richtig cool ist die durchfahrende Gegend dann doch auch wieder einmal nicht. So beschließe ich dann auch, nachdem wir so fast schöne Orte wie Dorsten und Datteln durchfahren müssen, auf der Hälfte der heutigen Strecke dem Navi die Führung zu entreißen. In einem Anflug von Schönheitsbedürfnis entscheide ich mich für eine Weiterfahrt am Weser-Datteln-Kanal, der laut Auskunft eines Pärchens (das ausgerechnet unsere Mittagspausenbank okkupiert – übrigens die einzige Bank weit und breit!) bis nach Wesel führen soll. Eine klare Fehlentscheidung, wie sich herausstellen wird. Weil, schöner wird es hier auch nicht und statt direkt von hinten, kommt der Wind hier zumindest so schräg, dass er unserer Weiterfahrt ein wenig ausbremst. Wie öde kann eine Fahrt entlang von Wasser und Wiesen eigentlich sein? Alter Holländer, so eine ätzende Strecke. Und nur, um es auch einmal gesagt zu haben: Nicht eine einzige verdammte Bank. Wir versuchen trotzdem weiterhin eine passende Sitzgelegenheit für unsere Mittagspause zu finden und ich vertröste Tina im Minutentakt auf die nächste Brücke, Kurve, Schleuse. Aber nix da. Der verdammte Kanal bietet kein ruhiges Plätzchen, um die neue Gaskartusche auszuprobieren und die vom Frühstück übrig gebliebenen Brötchen aufzufuttern. Irgendwann lässt sich Tina aber nicht mehr länger hinhalten und bestimmt eine Rast, so dass wir völlig ausgelaugt auf der Treppe einer extrem lauten Behelfsbrücke unsere letzten Vorräte vernichten. Wahrscheinlich existiert diese Behelfsbrücke auch schon seit über 40 Jahren und die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass es ständig kracht und scheppert, als würde das Metall jeden Moment bersten. Himmel, was sind wir lärmempfindlich dieser Tage. Aber auch nicht lärmempfindlich genug, um unsere Rast abzubrechen. Ach, seien wir doch mal ehrlich: Ist man scheiße drauf, dann gibt es doch nichts Besseres als irgendetwas, über das man sich nach Herzenslust aufregen kann. Oder? So lecker des Essens auch ist, unsere Motivation hält sich auch nach 18 Kilometern am Kanal entlang weiterhin in Grenzen und ich übergebe dem Navi wieder die Führung. Immerhin kann ich es heute wenigstens verstehen und so verlassen wir den Kanal gerade rechtzeitig, bevor die Lippe in ihn und er in den Rhein führt.
Spätestens jetzt ist klar, an der Stimmung liegt die Scheißgegend nicht. Sollte hier jemand lesen, der zufällig aus Wesel kommt –  mein herzliches Beileid. Meine Güte, ist das eine hässliche Ecke. Trostlos, grau, abweisend, laut, chaotisch, wenn ich das hinzufügen darf. Wobei es “hässliche Ecke” absolut auf den Punkt bringt. Und diese Abneigung beruht scheinbar auch auf Gegenseitigkeit. Denn kaum sind wir vom Kanal auf den offiziellen Radweg abgebogen, versucht auch schon ein Angestellter der Hafenspedition mich mit seinem 40-Tonner zu überrollen. LKWS und Radfahrer – immer eine sehr brisante Mischung. Ich brülle unanständige Worte in schneller Reihenfolge. Was natürlich weder der LKW-Fahrer noch sonst jemand in seiner Blechbüchse hört. Das Blöde bei einem vollbepackten Rad: Die beidhändige Mittelfingerzeigung gelingt mir nicht, ohne mich in Lebensgefahr zu bringen. Also verzichte ich laut fluchend. Nach dem Schreck lade ich Tina erst einmal zum leckeren Eis mit Erdbeeren ein, das zwar wirklich lecker, aber mit 18 € für zwei Portionen völlig übertrieben teuer ist. Wolltest du an dieser Stelle nicht so richtig auf den Putz hauen?! Gut, dann übernehme ich kurz und knackig: Es handelt sich um jeweils EINE Kugel Eis und jeder bekommt ZWEI in Scheiben geschnittene Erdbeeren, die sehr gekonnt mit Schokofäden überzogen und mit einem Pfefferminzblättchen dekoriert sind. Köstlich, in der Tat. Aber bin ich hier bei Königs, wo man Winzportionen auf riesigen Tellern anrichtet, einfach weils schick ist?! Christian zahlt insgesamt 25 Euro und ich bin kurz davor zu platzen. Und zwar nicht wegen Völlerei, das dürfte klar sein. Dieser Tag hat blöd begonnen und scheint sich auch so von uns verabschieden zu wollen.

Leider haben wir kein Liebesschloss auf Tasche, um herauszufinden was passiert, wenn wir es tun…

In Wesel ist es nämlich wieder so laut, dass ich alle 100 Meter das Navi rauskramen muss, um mich des Weges zu versichern. So dauern die letzten Kilometer bis zum Campingplatz dann auch noch einmal eine geschlagene Stunde. Gegenwind noch und nöcher. Wir fahren auf einem künstlich aufgeschütteten Deich, rechts und links Schafe, vereinzelt auch andere Radler, aber Spaß macht die Fahrt nicht. Wenn der Tag bislang makaber war, jetzt kommt das Sahnehäubchen. Der Platz ist zwar sensationell günstig. Aber, da er auf einer Rheininsel liegt, auch sensationell windig. An dieser Stelle sei hinzugefügt, wir sprechen hier von der Grav-Insel. Im Jahr 1969 von einem Visionär ins Leben gerufen und innerhalb der vergangenen 49 Jahre zu dem gemacht, was er jetzt ist. Allerdings wissen wir das bei der Ankunft noch nicht, und da wir jetzt dringend einen Ruhetag brauchen, buchen wir auch gleich zwei Tage. Ich übernehme die sich etwas hinziehenden Formalien mit Bernd, den Herrn über die Platzverteilung. Bernd ist genau aus dem Holz geschnitzt, wie ich Menschen in solchen Positionen mag: Ein bisschen kodderig, ein bisschen rau, ein bisschen ironisch und dabei absolut liebenswert. Typ raue Schale, weicher Kerl. Bernd lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen, spricht gleichzeitig mit drei unterschiedlichen Menschen, die einen Platz buchen möchten, bedient nebenbei die Schranke, telefoniert mit einem Anrufer und funkt einen Kollegen an, der den Campern ihren Platz per Elektrowägelchen zeigt. Und als ich ihn später anpflaume, dass WLAN ja wohl ein Grundbedürfnis, ja, ein Grundrecht ist, und dass 3 Euro pro 24 Stunden eine Frechheit sind, will er mir am liebsten die Zugangsdaten schenken. Gesteht er wenig später im Waschraum und entschuldigt sich quasi, dass er es nicht tun konnte, weil da noch ein Kunde war. Ach, Bernd, du Goldjunge. 

Was uns hier erwartet, schlägt unserem fassrunden Verständnis von Camping endgültig den Boden aus. Denn Wesel rühmt sich als der größte Campingplatz Deutschlands mit über 2000 Parzellen – Dauercamper wohlgemerkt. Die paar Tagesgäste fallen da nicht wirklich ins Gewicht und sind wahrscheinlich nur deswegen da, um sich den Status Campingplatz nicht zu versauen. Da wundert es uns auch fast gar nicht mehr, dass hier ein absoluter Discountplatz entstanden ist. Ein riesiges Gebäude im Zentrum des Platzes bietet alles was das Camperherz begehrt. Supermarkt, großzügige Wasch- und Duschmöglichkeiten, Restaurants.  Und vor den sanitären Anlange – festhalten, Leute – gibt’s buntes, blinkendes Jahrmarktfeeling. Zu den Hits der 80er Jahre kann man an diversen Automaten sein Geld vernichten. Per Greifarm ein neues Handy oder ein Kuscheltier versuchen zu ergattern. Und Mutti sitzt auf Wohnzimmerartigen Stoffbänken und schaut zu. Unglaublich. Ein freundlicher Mensch mit dunklen Knopfaugen und indianischen Zügen zeigt uns freundlich, wo wir unsere Wäsche waschen können. Micha arbeitet hier seit sechs Jahren, wohnt seit drei Jahren sogar hier und mag seinen Job. Und dann stehen wir vor den Waschmaschinen und erfahren von Micha und Bernd, dass es ein 3-Schicht-System an der Pforte gibt, dass Dreiviertel der Camper einen Dauerplatz haben… Irgendwie kommt hier eher das Gefühl eines Freizeitparks auf, statt dem einer ruhigen Unterkunft im Grünen. Wieder ein gelungenes Beispiel für unser Projekt, Deutschland, wie du campst. Und weil es zu windig ist, um unseren Gaskocher anzuwerfen, gönnen wir uns spontan und eine halbe Stunde vor Schluss noch das Mittelmeer-Buffet für 10 Euro pro Person. Essen mehr, als uns guttut. Der Wein schmeckt nicht, das Gyros ist kalt, genau wie die Pommes, aber das mediterrane Gemüse mit dem Tsatsiki ist lecker. Ein Gedanke blitzt auf, den ich nicht zulassen möchte, der aber noch in dieser Nacht zu einem Entschluss wächst.

Wer zuviel Kleingeld übrig hat, füttere doch die Spielautomaten vor den Duschen und Toiletten.

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Tag 12 – von Senden nach Haltern am See



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Tag 12- von Senden nach Haltern am See

Ah! Was für ein Luxus. Schon zwei Nächte in einem richtigen Bett = keine Rückenschmerzen. Ich gewinne fast meine alte Fröhlichkeitsform zurück und genieße unser Ponderosa-Frühstück, das inzwischen aus Fünf-Korn-Müsli mit Trockenfrüchten und Joghurt besteht. Die Nacht im einzigen Gartenhaus mit überdachter “Terrasse” war erholsam, die heutige Etappe ist ein Klacks. Die geradezu lächerlichen 50 Kilometer bis nach Haltern am See, wo eine meiner langjährigsten und liebsten Freundinnen aus Studienzeiten seit sechs Jahren lebt, werden wir auf einer Arschbacke abradeln. Und obwohl meine an der Uni Bochum unterrichtende Freundin eigentlich überhaupt keine Zeit hat, will sie sich mit uns treffen und hat uns im Vorfeld zwei Campingplätze in fünf Kilometern Entfernung von ihrer Wohnung vorgeschlagen.

Dezente Hinweise auf ein frisch verheiratetes Paar können schon auch erschreckend sein.

Wir lassen uns an diesem Morgen viel Zeit, verbummeln quasi den Vormittag und verlassen erst um 11.30 Uhr den Kranencamp, nicht ohne noch einen kleinen Spaziergang zum “Hafen” zu machen. Einmal mehr sind wir uns einig: Dauercampen mit Gartenzwergen, Benzinrasenmäher für vier Quadratmeter Rasen und in der Nacht blinkenden Leuchtturm vorm kiesgestreuten Vorplatz können weiterhin gerne die anderen. Wir im Leben nicht. Soviel ist inzwischen klar: Dauercamper im Münsterland unterscheiden sich nicht mal im Ansatz von denen in Niedersachsen. Außer, dass sie ein klitzekleines bisschen redseliger sind und einen charmanteren Akzent haben. Blöd nur, dass uns allmählich das Lästerpotenzial ausgeht, wollen wir uns mit unseren spöttisch-ratlosen Bemerkungen nicht ständig wiederholen. In größter Entspannung packen wir zusammen und verlassen mit guten Wünschen für unsere Reise den Platz.
Die heutige Strecke ist wenig aufregend. Der größte Nervfaktor der erste Mückenstich auf dem rechten mittleren Zeh. Nach entspannten zwei Stunden und 45 Minuten Fahrzeit erreichen wir den Jugendkreiscampingplatz, 5,5 Kilometer vor Haltern Am See. Es ist immer wieder faszinierend, wie schnell Menschen unangenehme Ereignisse verdrängen. Jup, haste Recht, die Fahrt war schon entspannend, zumindest ab dann, als wir sie endlich beginnen konnten. Senden hatte nämlich keinesfalls vor, uns einfach so abreisen zu lassen. Die Stadt ist ein einziger riesiger Kreisverkehr mit 1000 Kindern, die allerdings alle ¨in der Fertigstellung¨ sind. Fahrtechnisch Chaos pur! Wir haben geschlagene 45 Minuten gebraucht um einen Ausweg in die richtige Himmelsrichtung zu finden. Aber zurück zum Kreisjugendzeltplatz.

Es gab Gerangel um den besten Uferplatz mit einer kleineren Entenfamilie. Zu sehen sind hier die Sieger

Ohne groß Spannung aufzubauen und ihn zu beschreiben: Er ist gruselig. Verlassen. Ver-und runtergekommen. Verwaist. Er lässt mich frösteln. Egal, was Christian sagt “Ist doch nur für eine Nacht¨, egal, wie nett die studentische Aushilfskraft ist (“Die Stadt verlängert nach 15 Jahren die Pacht nicht mehr; obwohl wir protestiert haben, müssen wir hier abbauen. Der Platz wird dichtgemacht, vermutlich werden sie hier Wohnungen bauen.”) – auf diesem Friedhof bleibe ich keine Sekunde länger als nötig. Wieder mal gibt mir mein Bauchgefühl recht. Denn keine zwei Kilometer weiter werden wir mit rheinländischer Freundlichkeit – laut, kodderig, herzlich – auf dem seit über 50 Jahren existierenden Campingplatz Hoher Niemen begrüßt. Wir fahren weiter zur Anmeldung, aber am Verwaltungsbau, der auch schon bessere Tage gesehen hat, hängt nur ein Zettel mit Handynummer. Dann eben erst mal eine Tüte Pommes. Wir gehen zurück zum Imbissstand, wo der glatzköpfige André aus Bochum vor wenigen Tagen das Küchenzepter übernommen hat und voller Elan und Pläne für die Zukunft kulinarische Abwechslung in den Alltag der 200 Dauercamper bringen will. Mit Dönerspieß, asiatischem und griechischem Abend, und überhaupt ganz groß. Das Merkwürdige ist nur, dem Kerl nimmt man das ab. Der macht das wirklich. Und auf einem Campingplatz, auf dem 300 Dauercamper leben, könnte das Konzept sogar wirklich funktionieren. Wir wünschen ihm jedenfalls das Beste. Am Biertisch schräg neben dem Wagen sitzen drei Kerle, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Der eine, Gesicht wie eine Bulldogge und genauso ein Gemüt, im Feinripp über der Wampe, blinzelt neugierig durch eine Brille. Seinen beiden klapperdürren Kumpel möchte ich am liebsten die Bierpullen wegnehmen und sie stattdessen mit hochkalorischem füttern und vorher noch zum Zahnarzt schleppen. Die drei Bierbrüder lassen es sich nicht nehmen, uns mit ungefragter Selbstverständlichkeit sofort zu helfen, indem sie beim Platzwart anrufen. Wir bestellen bei André jeder eine Portion Pommes Schranke (Ketchup-Majo, für den Nicht-Rheinländer), während uns einer der dürren Zahnlosen erklärt, wo wir unser Zelt aufstellen sollen. Und wenn bis morgen keiner zum kassieren kommt, sollen wir einfach so wieder fahren. Diese Schlitzohren hauen sich vor Begeisterung auf die mageren Schenkel, das Bulldoggengesicht grinst breit und wir fühlen uns so vorurteilsfrei und freundlich willkommen, wie bislang noch nicht. Während wir unserer Pommes kauen und mit André plaudern, als kennten wir uns schon seit Jahren, kommt Jörg-ich-hab-heute-eigentlich-frei auf seinem Roller, einen blonden 14-Jährigen als Beifahrer. Jörgs muskulösen, tätowierten Arme, sein Bart, sein langer Zopf unter dem Basecap erinnern mich wieder mal daran, dass ich diese Motorradtypen gut leiden kann. Ähm Motorradtyp? Unbedingt. 50iger Roller ist auch nur was für echte Kerle. Jörg wirkt im Gegensatz zu den drei Biertischlern beinahe schüchtern. Ist aber von gleicher entwaffnender, offener Herzlichkeit. Er verlangt lediglich 12 Euro – “Duschen kostet nix. Kannst so lange heiß duschen, wie du willst.” – und nimmt uns das Versprechen ab, uns zu melden, wenn irgendwas ist.

André aus Bochum ist der neue Imbissbudenpächter und hat große Pläne.

Wir bauen unser Zelt zwischen einem dunkelrot blühenden Rhododendronbusch und einem Wohnmobil aus Bielefeld auf, ich rufe meine Freundin an und wir verabreden uns für 17.15 Uhr auf dem Marktplatz von Haltern Am See. Zwei Stunden Zeit, um ein bisschen mit dem Bielefelder Dauercamper zu plaudern, dessen Frau aus Haltern stammt und die regelmäßig hierherkommen, es sich finanziell aber nicht leisten können, hier zu wohnen. Wir bekommen Tipps, wie wir am besten Richtung Brügge fahren, wo wir im Industriegebiet unser Kochgas nachkaufen können. Zwei Stunden Zeit, um zu duschen und sich einigermaßen “stadtfein” zu kleiden. Endlich kommen Wimperntusche, Lidschattenstift und Augenbraunpuder zum Einsatz. Scheinen aber keinerlei Wirkung zu haben – Christian bemerkt die sanfte Restaurierung nicht und meine Freundin staunt sowieso nur über unsere dunkelbraune Gesichtsfarbe. Wenn das man kein gelungener Bluff ist: Erholt aussehen, obwohl man’s nicht wirklich ist. Aber mein Schatz, natürlich merke ich nichts! Ich bin dann letzten Endes doch nur ein Kerl. Du merkst ja auch nicht, welche Sorte von Öl ich an den Pfoten habe. Überhaupt staune ich, dass ich so unprätentiös und uneitel sein kann und mich trotzdem beinahe wohl fühle. Ehrlich gesagt ist es mir egal, dass ich klobige Treckingschuhe in verschmutztem Grau, statt luftige Sandaletten zu einem meiner Lieblingskleider trage. Normalerweise sind nämlich Schuhe und Handtasche farblich aufeinander abgestimmt, passen perfekt zum Kleid, genau wie der Lippenstift. Und natürlich gehe ich nicht aus dem Haus, ohne die Haare so perfekt wie möglich in Form gebracht zu haben. Hilfe, ich vergammle!

Stammgäste von Imbissbuden-André beim Nachmittagsplausch

Nachdem ich endlich ein neues Fahrradschloss gekauft habe, bekommen wir eine kleine Führung durch das touristisch ziemlich überlaufene Haltern Am See. Dann gibt’s noch einen Ausflug zum Silbersee (der im Sommer so von Besuchern im Umkreis von 50 Kilometern überfüllt ist, dass die Anwohner schon längst nur noch nach Sonnenuntergang oder unter der Woche zum schwimmen in die ehemalige Sandgrube kommen). Anschließend fahren wir zum kleinen Yachthafen von Haltern, trinken mit Blick über den See auf einer netten Terrasse Mangoschorle, Weißwein und Radler.
Fünf Stunden Zeit hat sich meine Freundin für uns genommen. Fünf kostbare Stunden, die eigentlich noch zu wenig sind. Während sie um halb zehn zurück an den Schreibtisch muss, um ihre Seminare an der Uni für den folgenden Tag vorzubereiten, radeln wir entspannt durch die Dämmerung und durch den Wald zurück zu unserem Campingplatz. Und wie endet ein entspannter Abend? Richtig. Kompliziert. So gehört es sich einfach. Und deswegen stehen wir vor dem verschlossenen Eisentor. Es ist 22.30 Uhr, überall dunkel und keiner der Dauercamper führt seinen kleinen Köter zur Gutenachtrunde Gassi. Während ich mich schon lässig über das Tor klettern sehe (ohne genau zu wissen, wie ich das eigentlich bewerkstelligen soll), fummelt Christian mit unserem Hausschlüssel am Schloss rum. Es macht klack – und mit einer höflichen Verbeugung lässt mich mein Held eintreten. Ich bin fasziniert, begeistert und noch ein bisschen mehr verliebt als sowieso schon. Natürlich kommt in der Sekunde der Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner ein letztes Mal das Bein heben lässt und einer der Dauercamper fährt im Schritttempo mit seinem uralten Opel auf den Platz… Gute Nacht, Freunde. Es war ein ziemlich vollkommener Tag und die Zeit die uns Tinas Freundin geschenkt hat, macht mir wieder bewusst, dass Zeit eben ein unglaublicher Luxus sein kann. Wir haben im Moment diese Zeit und ich möchte an dieser Stelle mal ganz herzlich all jenen danken, die sie uns ermöglichen.

Neben dem Waschhaus zu campen hat nur einen Nachteil: Die ganze Nacht ist Festbeleuchtung

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