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Die Tour
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Tag 8 – von Rehburg-Loccum nach Porta Westfalica
Bedauerlicherweise können wir uns am folgenden Morgen nicht von der quirlig-herzlichen Birgit verabschieden. Vermutlich streift sie mit ihrer weißen Schäferhündin durch die Wiesen vom Erlengrund, diesem verzauberten Ort, irgendwo im Nirgendwo. Es geht gleich mit einer Steigung los, die mich spüren lässt, wie erschöpft ich bin. Meine Oberschenkel scheinen sich in den vergangenen sieben Tagen verdoppelt zu haben, sind krachhart und mit meinem Hintern könnte ich inzwischen vermutlich Nüsse knacken.
Die härteste Nuss des Tages allerdings, die hat Christian zu knacken. Weil mich mitten im Wald, etwa acht Kilometer von Bückeburg entfernt, eine gigantische Erschöpfungswelle überschwemmt (wir erinnern uns – ich trage den Titel Dramaqueen nicht zum Spaß! Wer das nachlesen möchte: sehr ausführlich unter www.millas-Blick.de beschrieben). Auf einem nach Harz und Wärme und Sommer riechenden Holzstamm sitzend, heule ich mir die Augen aus dem Kopf. Weltschmerz. Lebenskatastrophe. Sinnesverzweiflung. Von Allem in großen Portionen. Oh ja, ich weiß sehr genau, wie ich einen perfekten Vormittag ruinieren kann. Ganz im Ernst: Blauer Himmel, Sonne und nicht mal der Hauch einer zivilisatorischen Störung. Nur absolute und unbedingte Stille. Lediglich durchbrochen vom zarten Summen einer Biene. Oder dem kurzen Tschilpen eines sorglosen Vogels. Und da, aus heiterem Himmel, ist sie da die große Panik vor – sucht euch was aus, liebe Gemeinde der 40+. Ohne das blöde W Wort zu bemühen: Steckt nicht in jedem von uns immer mal wieder ein bisschen Weltschmerz?
Doch dann erreichen wir Pollenhagen. Ein kleiner Ort im Nirgendwo, verschlafen, wo scheinbar nur noch die Alten und die ganz Alten leben. Wo Anneliese mit einer Kollegin (vielleicht ist es ihre Schwester, vielleicht ihre Schwägerin. Wir haben es leider nicht rausgefunden) den kleinen EDEKA mit freundlichstem Fleiß täglich aufschließt. Frische Brötchen, frischen Aufschnitt, frischen Käse, aber auch Dosen- oder Tütensuppen, Kosmetikartikel und Keramika verkauft. Das, was früher als Tante-Emma-Laden bezeichnet wurde. Wir kaufen Brötchen und Aufschnitt und Christian fragt, ob er einen Kaffe haben kann. Was dann passiert, wird uns noch bis Ende der Tour als die Episode “Anneliese” in Erinnerung bleiben: Besagte Verkäuferin / Ladenbetreiberin verschwindet mit einem fröhlichen Lächeln hinter der Fleischtheke und taucht viele Minuten später mit einem Becher Kaffee in der Hand auf. Frisch aufgebrüht. Bezahlt haben wir 1 Euro (in Worten einen). Und während Christian noch an der Fleischtheke wartet, komme ich mit Annelieses Kollegin ins Gespräch. Sie verkauft mir eine Schachtel PallMall ohne Zusätze, ich fühle mich bemüßigt zu betonen, dass die Kippen nicht für mich sind, weil ich nämlich vor 5 Kilo aufgehört habe zu rauchen, und sie erzählt mir mit einigem Stolz, dass sie nie geraucht und deswegen auch nie Gewichtsprobleme gehabt hat. Sie hat früher Konfektionsgröße 34 getragen und jetzt, mit Ende 50, tut sie es immer noch. Naja, so genau wollte ich es dann eigentlich doch nicht wissen.
Ich frage beim bezahlen, ob wir mit unseren Brötchen und dem Kaffee auf der kleinen Mauer vor dem EDEKA sitzen und frühstücken dürfen. Wir dürfen. Mit dem 1-€-Kaffee, zwei Brötchen für jeden mit Aufschnitt sitzen wir also auf der Mauer, auf der Lauer und fühlen uns ein bisschen wie im Kino: Heinz kommt in seinem dicken Mercedes aus den späten 90er Jahren und hält direkt vor dem Fenster neben dem EDEKA. Das Fenster öffnet sich, ein Mann jenseits der 80 guckt raus und dann wird erst mal ausgiebig gesprochen. Leider zu leise, um zu verstehen, worum es geht. Eine voluminöse Frau, von der wir nicht wissen, ob sie die Mutti oder die Omma von der etwa 4-Jährigen an ihrer Hand ist, stellt fest, dass der kleine blonde Fratz seine Trinkflasche hat fallen lassen. Die ist unters Auto gerollt. Keine 10 Zentimeter von der Beifahrertür entfernt. Wir sehen sie. Mutti (oder Omma, wer weiß es schon so genau) sieht es auch und handelt. Nein, sie kniet nicht nieder, um mit ausgestrecktem Arm die Flasche zu angeln. Nein. Sie steigt ein, fährt vor, steigt wieder aus, hebt die Trinkflasche auf, putzt den Schnuller an ihrer wallenden Hemdbluse ab, öffnet die hintere Tür, reicht dem Kind die Flasche, steigt vorne wieder ein und fährt. Ja. Genauso ist es gewesen, in Pollenhagen, Mittags gegen 13 Uhr.
Bei aller Fröhlichkeit und Abenteuerfreude: Tag für Tag um die 100 Kilo Gewicht nur Kraft seiner Beine von A nach B zu transportieren, ist nun mal kein Urlaub. Wir reden hier nicht ausschließlich von Tina, sondern noch von Fahrrad und Gepäck. Den haben mir übrigens viele Freunde und Bekannte gewünscht: Einen schönen, spannenden Urlaub. Nein, liebe Daheimbleiber und treue Blogleser. Eine Radtour wie diese ist kein Urlaub im klassischen Sinn, auch wenn sie viele klassische Elemente enthält. Sich Tag für Tag zu motivieren, seine körperliche Belastbarkeit auszutesten, wahlweise zu überschreiten, ist eine Grenzerfahrung, wie zumindest ich sie noch nicht in der Form erlebt habe. Ich bin versucht, es klein zu reden, fürchte allerdings Christians Tadel und gestehe deswegen: Die Tour ist arschanstrengend. Und ich rede an dieser Stelle nicht von den Naturgewalten wie Gegenwind, knallende Sonne, Steigungen, die mich an die Kotzschwelle bringen. Auch nicht die zum Teil unfassbar rücksichtslosen Autofahrer, die schlechten Radwege, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Nein, es ist das Alleinsein mit sich und seinen Gedanken, die Tango tanzen und sich nur schwer in Zaum halten lassen. Da können schon auch alte Geschichten von Verrat und Verlassenwerdens hochkommen, die Wut auf Freunde, die keine mehr sind, die Trauer über Verluste. Ja, es ist tatsächlich nicht nur spaßiger Luxus, so viel Zeit für sich selber und seine Gedanken und Erinnerungen zu haben. Was aber nicht bedeutet, dass ich bislang auch nur eine Minute / nur einen gefahrenen Kilometer bereue.
Der Frustanfall dauert eine knappe halbe Stunde – dann muss einfach Schluss sein, wir haben keine Taschentücher mehr übrig und auch das Klopapier wird knapp. Christian lenkt meine Gedanken auf einen Mistkäfer und es dauert ziemlich lange, bis ich begreife, worauf er hinauswill. Mit verquollenen Augen und dem wilden Wunsch, mich nicht von meinen Emotionen und Ängsten ernsthaft aus der Bahn werfen zu lassen, treten wir in die Pedale, erreichen nach 3:42 Stunden reiner Fahrzeit und 59,11 Kilometer den Campingplatz Weserbogen um 16.10 Uhr. Bauen unser Zelt auf, räumen es ein – und die zweite Erschöpfungswelle droht mich ohne Rücksicht auf Nachbarn in ihren Zelten und Wohnwagen zu ersäufen wie eine kleine Katze im Sack eines gefühlskalten Bauern. Es hilft nichts – außer aushalten. Und hoffen, dass der nächste Tag besser wird. Gute Nacht, böse Gedanken.
Ich denke, ohne es genau zu wissen, Tina erlebt gerade das Gleiche wie viele andere, die eine beschwerliche Pilgerreise wagen. Im Alltag verdrängen wir böse Gedanken und verstecken sie unter allerhand Beschäftigung. Um unsere eigenen Probleme nicht thematisieren zu müssen, stürzen wir uns manchmal leidenschaftlich auf die Probleme der Anderen. Das alles geht hier nicht. Beim Touren bin ich dazu gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, denn Gespräche beim Fahren sind zumindest auf öffentlichen Straßen kaum möglich.
Herzlich Willkommen
Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.
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TINA
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Christian
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