Tag 25 – von Vrouwenpolder nach Potsdam



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 25 – von Middelburg nach Potsdam

So. Neue Woche, neues Glück. Und damit kommen wir gleich zur wichtigsten Frage des Tages: Wann ist eigentlich eine gute Zeit, um zu starten? Also, den neuen Tag entspannt, weil ausgeruht zu beginnen? Bevor hier irgendjemand Absurditäten in den Raum trötet, greife ich mal vor und erkläre: Definitiv ist 4.30 Uhr keine gute Zeit. Vollkommen indiskutabel. Maximal ok, um nach dem wattigen Lärmschutz zu tasten und sich in die Ohren zu schrauben. Liebe Daheimgebliebenen, liebe arbeitende Bevölkerung: 4.30 Uhr ist eine echte Kackzeit! Jeder, der um 4.30 Uhr aufstehen muss, wird von mir aufs allergrößte bedauert und bewundert. Ich finde 4.30 Uhr ist mindestens drei Stunden zu früh für alles.

Interessiert aber meine innere Uhr offensichtlich gar nicht. An diesem Montagmorgen um 4.30 Uhr macht es klack – meine Augen klappen auf, ich bin hellwach und gleichzeitig schreiend müde. Draußen ist irritierende Ruhe. Kein einziges Tirili, kein gedämpftes Tschilpen, kein scheues Kuckuck. Nüscht. Stille. Abgesehen vom leisen Schnorcheln im Nachbarschlafsack. Dafür kann ich nicht schlucken, ohne dass Reibeisenassoziationen vor meinem inneren Auge aufploppen. Mein Hals ist rau und wund und ich kann quasi seine Röte spüren. Ah, verdammt. Halsschmerzen! Ganz schlechtes Zeichen. Ich krame so leise es geht nach einem Bonbon, kuschele mich wieder in den Schlafsack und schlucke probehalber noch mal. Nein. Kein doofer Traum. Ich habe tatsächlich schmerzhafte Schluckbeschwerden. Ich werde krank? Echt jetzt? Keine 150 Kilometer vor Amsterdam? Gibt’s ja wohl nicht. Geht gar nicht. Ein winziges Gedankensamenkörnchen buddelt sich in mein noch träge arbeitendes Hirn. Ich kneife die Augen zu, es ist einfach noch viel, viel zu früh für alles. Ich beschließe, einfach nicht mehr zu schlucken, und während ich mich krampfhaft darauf konzentriere, schlafe ich wieder ein. Als ich das nächste Mal die Augen öffne, ratzt mein Frühaufsteher immer noch, sind die Halsschmerzen noch immer da, zeigt die Uhr immerhin schon 7.30 Uhr.

Das Gedankensamenkörnchen von 4.30 Uhr ist zu einem riesigen Gedankenbaum gewachsen, der nur eine einzige Frucht trägt. Name: Fahrverweigerung. Mein Hirn beginnt direkt zu arbeiten und der Gedanken rollt sich vor mir aus zu zwei Sätzen: „Ich möchte heute lieber mit dem Zug nach Amsterdam. Ich möchte mich nicht quälen müssen.“ Überrascht liege ich einen Moment still und lausche in mich. Hab ich das wirklich gedacht? Ich möchte mit dem Zug nach Amsterdam – statt mit dem Rad zu fahren? Ich will mich nicht quälen müssen? Und nur, weil ich ein bisschen Halsschmerzen habe?! Was stimmt denn mit mir nicht?

Verlassen, aber mit pünktlichem Zugverkehr. Ohne Probleme kann man in Holland sein Rad mit in den Zug nehmen.

Beim rauspellen aus dem Schlafsack, beim Schlappen suchen, auf dem Weg zu den Waschräumen, beim Zähneputzen – meine Gedanken kreisen nur darum, wie ich es formuliere, ohne dass es kränklich oder zickig oder nörgelig oder …. „Ich würde gerne mit Zug nach Amsterdam fahren“, sage ich schließlich, während wir beim Frühstück sitzen. Es ist gerade mal 9 Uhr, die Sonne brutzelt jetzt schon, wir haben alles zusammen gepackt und ich habe tatsächlich die Geduld aufgebracht, bis zu diesem Moment zu warten. Überraschenderweise scheint Christian beinahe erleichtert – gibt allerdings zu bedenken, dass es von hier aus schwierig wird nach Amsterdam zu kommen. Völlig egal. Er ist nicht enttäuscht. Alles andere wird sich finden. Innerlich gönne mir einen riesigen Behaglichkeitsseufzer. 

Und was dann passiert, irritiert uns beide – und entlastet uns augenblicklich. Es steht nämlich die Frage im Raum, ob wir überhaupt noch nach Amsterdam wollen? Jetzt, wo die Luft offensichtlich raus ist – aus unseren Körpern wie auch aus den Geldbörsen. Wäre es ein aufgeben, jetzt direkt nach Hause zu fahren? Wir sind uns geradezu absurd schnell einig: NEIN. Unser Ziel war immer Brügge. Amsterdam hatten wir als Endpunkt gewählt, weil man von dort aus schnell (weniger als sechs Stunden) und unkompliziert (entweder per Flix-Bus oder der Deutschen Bahn) zurück nach Potsdam kommt. Jeder betont, kein Problem damit zu haben, dieses Mal nicht nach Amsterdam zu fahren. Läuft uns ja nicht weg, versichern wir uns gegenseitig und sind glücklich und stolz und befreit, dass wir diese Entscheidung so leicht und mühelos getroffen haben.

Bis zum Bahnhof nach Middelburg sind es knapp sieben Kilometer. Und während wir in die Pedalen treten, denke ich bedauernd, vielleicht war mein Vorschlag vorschnell; vielleicht sind die Halsschmerzen gar kein Warnzeichen meines erschöpften Körpers, sondern nur die Probe auf Exempel, ob ich die letzten 150 Kilometer auch noch schaffen will. Doch dieser kleine Gedankenkonflikt löst sich in Wohlgefallen auf, als wir den Bahnhof nach einigem rumkurven durch die Fußgängerzone finden. Am Bahnsteig treffen wir auf ein holländisches Radlerpaar – er wirkt wie ein Guru für Bewusstseinserweiternde Seminare; ihr sieht man an, dass sie seit über 50 Jahren raucht und das bisschen, was sie isst, lieber in Hochprozentigem zu sich nimmt. Beide sind unglaublich herzlich und hilfsbereit. Gemeinsam hieven wir unsere vier vollgepackten Räder in den richtigen Zug. So unkompliziert ist das nämlich bei unseren holländischen Freunden: Jeder Zug – ob Regio oder IC – hat mehrere Radabteile. Sind sie voll, hat man Pech. Ansonsten steigt man mit seinem Rad einfach ein. Ohne Reservierung, ohne kompliziertes Prozedere à la Deutsche Bahn, die sich einmal mehr ein absolutes Armutszeugnis ausstellt, wenn es um Spontan-Reisen geht. Unter drei Tage im Voraus reservieren geht da nämlich schon mal gar nicht. 

Zwei fröhliche holländische Reiseradler, denen wir beim Aus- und Umsteigen behilflich sind.

Die beiden Radler bitten uns, ihnen beim nächsten Bahnhof mit den Rädern zu helfen, weil sie nur zwei Minuten Umsteigezeit haben. Machen wir gerne. In einiger Hektik werden erst unsere beiden Räder an den anderen Mitfahrenden bzw. Aussteigenden vorbei geschoben und auf dem Bahnsteig geparkt. Dann die holländischen Fietsen, </em>dann unsere Räder wieder rein. Wir verabschieden uns eilig, aber fröhlich, uns fliegen noch Kusshändchen zu. Sehr schräg die beiden, sagen wir noch und schauen verträumt aus dem Fenster. Etwa eine Minute nach der herzlichen Verabschiedung starrt Christian mich an: „Wir müssen hier auch umsteigen.“ Hä? Wie jetzt? Scherz? Nein. Mein Navigator macht keinen blöden Witz, sondern zieht schon sein Rad aus der Ecke. Ich tue es ihm nach, wir hieven unsere Räder raus. Zum Glück müssen wir nur den Bahnsteig wechseln – aber: Unser Zug fährt ganz vorne los. Und wir stehen selbstverständlich ganz hinten. Wir sprinten los, ich nutze das Rad wie einen Roller, weil, fahren traue ich mich dann doch nicht. Ich erreiche den hintersten Wagon, als das Geräusch der sich schließenden Türen erklingt. Ich  drücke wie blöd auf den Knopf, der die Tür wieder öffnet. Sehe vorne den Schaffner zur Abfahrt winken. Ich winke ihm zu, versuche verzweifelt zu signalisieren, wir brauchen nur noch einen Moment. Drehe mich um, Christian ist noch immer mindestens zehn Meter entfernt. Warum rollert er nicht, denke ich und brülle gleichzeitig seinen Namen. Drücke erneut auf den Knopf und endlich, die Tür zum Zugabteil öffnet sich. Ich entwickle Bärenkräfte und hieve mein schweres Rad ohne Hilfe ins Abteil. Schaue dabei in die staunenden Augen vom Guru und der Schnapsdrossel mit den knallroten Lippen. Und endlich erreicht auch Christian den Zug, schiebt den Silberpfeil neben Betty Blue. In buchstäblich letzter Sekunde. Die Tür schließt sich und schon rollt der Zug an. Aller Holländer, so richtig was gelernt haben wir die vergangenen drei Wochen irgendwie nicht, oder? Die nächste Bahn wäre in einer Stunde gefahren. Also – wozu eigentlich der ganze überflüssige Stress?

Wir lachen stolz, dass wir es geschafft haben. Unsere beiden holländischen Radler freuen sich, dass wir uns wiedersehen und unsere Plauderei hat die Qualität von alten Bekannten, die sich zufällig wiedersehen. Bevor sie im Abteil verschwinden, bittet die rotlippige Schnapsdrossel, beim übernächsten Halt mit den Rädern zu helfen, weil sie dann nur – richtig! – zwei Minuten Zeit zum umsteigen haben. Der Guru unterbricht seine flatterige Gefährtin und beruhigt: Sie haben ganze sieben Minuten. Na ja, dann. Sie entschuldigt sich, immer so nervös zu sein und dann erzählen sie uns von ihrem Tripp, der sie quer durch Holland geführt hat. Sie nutzen dabei vrienden op de fiets (Fahrradfreunde): Man melde sich im Internet an, zahlt einmalig eine Gebühr von 80 Euro und kriegt dann für ein Jahr lang ganze Häuser oder eben Wohnung vermittelt. Pro Person, pro Nacht für 39 Euro, inklusive Frühstück. Ist jetzt noch mal um einiges teurer als mit dem Zelt, dafür aber natürlich spannend, luxuriös und preiswerter als im Hotel zu übernachten. Und da der Guru und die Schnapsdrossel jeweils die 70 fröhlich  überschritten haben dürften, ist das natürlich eine super Alternative zum Zelten bzw. zum Hotel. Die Fotos, die sie auf ihrem Handy zeigt, machen jedenfalls Lust darauf, dieses „System“ auch mal auszuprobieren. So in zehn Jahren oder wenn wir beide reich und berühmt geworden sind. 

Dann kommt der Schaffner, will aber nicht etwa unsere Tickets sondern, sondern grinst uns an und fragt mit charmantem Akzent auf Englisch, ob ich das gewesen wäre, mit dem Aufspringen in letzter Sekunde. Ich nicke und entschuldige mich zerknirscht. Und er? Grinst diebisch erfreut und lacht: „You did a good job – I did a good job. Everybody is happy.“ Wie? Keine oberlehrerhafte Standpauke, die man sich bei der Deutschen Bahn mit gesenktem Kopf hätte anhören müssen? Nee. Es gibt ein Lob, dass wir so pfiffig waren, den Zug noch geschafft zu haben. Komm, Liebling, lass uns zu den Holländern ziehen.

So komfortabel reisen Räder bei der holländischen Bahn: Mit eigener Parkbucht, wo sie niemanden stören.

Der Guru hatte behauptet, in Hengelo würde es einen Bahnschalter der Deutschen Bahn geben. Da könnten wir dann unsere Rad-Reservierung bekommen. Deswegen sind wir ziemlich entspannt, was unsere Weiterfahrt nach Potsdam angeht. Denn via Internet können wir zwar zwei Sitzplätze für uns reservieren, aber nicht für unsere Räder. Ich schalte per whatsapp Christians Schwester ein, die unschlagbar ist, wenn es um recherchieren von unmöglichen Dingen ist. Aber auch Jule kann nicht weiterhelfen. Wir vertrösten uns gegenseitig auf Hengelo. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Es gibt dort keinen Schalter der deutschen Bahn. Dafür bekomme ich eine „Notfallnummer“, die ich anrufe. Auf Englisch erkläre ich unseren Wunsch – wir möchten noch heute nach Deutschland, mit unseren Rädern. Familienangelegenheit. Dringend und so. Ein bisschen auf die Tränendrüse würde helfen, dachte ich. Tja, nicht denken, nachdenken. Hätte ich das getan, wäre mir wieder eingefallen, dass bei der Deutschen Bahn (und bekanntlich nicht nur da) größter Wert auf Umständlichkeit und Kundenunfreundlichkeit gelegt wird.  Die freundliche Holländerin bestätigt das auch, gibt alles – kann uns nach 20 Minuten aber auch nur Tickets inklusive Radreservierung für den folgenden Tag, 14.30 Uhr ab Osnabrück organisieren. Ich sehe mich schon mit den Eltern meines besten Freundes telefonieren, ob sie uns in ihrem Garten zelten lassen würden. Ich gebe meine Kreditkartennummer am Telefon durch (Ich will keinen Kommentar hören! KEINEN!), bestätigte die Zahlung von 99 Euro für zwei Personen und zwei Räder und entscheide dann gemeinsam mit Christian, dass wir auch versuchen können, uns mit den Regionalbahnen nach Hause durchzuschlagen. Das, was ich vor einer halben Stunden noch vehement abgelehnt hatte, erscheint mir angesichts der drohenden Zeltnacht in irgendeinem Osnabrücker Garten jetzt doch irgendwie verlockend. Also verschweige ich, dass die Tickets bereits per Visa bezahlt sind und denke: Hm, blinden Aktionismus muss man sich auch leisten wollen.

Ach, und irgendwie ist es alles sehr vergnüglich. Wir haben zu trinken, genug zu essen, die Sonne scheint und irgendwie ist es absurd, dass wir jetzt mit der Bahn nach Hause fahren. Christian freut sich auf unser trautes Heim, ich habe dazu keine Meinung. Nee, stimmt nicht. Ich würde lieber mit dem Rad weiterfahren. Gleichzeitig bin ich aufgrund meiner Erschöpfung  auch dankbar, heute nicht radeln zu müssen. (Äh, Moment mal. Wo sind eigentlich meine Halsschmerzen?) Wir fahren in kleinen Abschnitten durch die Niederlande zunächst bis nach Niedersachsen. Fast alle wären sie Tagesetappen mit dem Rad. In der  Westfalenbahn haben wir eine sensationell freundlich-witzige Schaffnerin, die uns Vorschläge macht, wie wir am besten weiterkommen. Hat Christian zwar alle Verbindungen längst per Handy organisiert, aber ich habe das Gefühl auch ein bisschen was zu unserer Rückreise beitragen zu wollen.
Dann steht auf der Kippe, ob wir überhaupt die letzte Bahn ab Magdeburg bekommen. Ich bin dafür, jetzt schon (es ist 17.30 Uhr) einen möglichen Abholdienst zu organisieren. Mir fallen auf Anhieb zwei Freundinnen und Schwägerin Jule ein, die diesen Job erledigen könnten. Christian ist dagegen, dass wir jemanden mit unserer Angelegenheit behelligen. Dieser Moment hat tatsächlich mehr Streitpotential als alles, was wir in den vergangenen Wochen miteinander erlebt haben. Aber wer will sich schon das Ende eines unglaublichen Abenteuers versauen, indem er auf seiner Meinung beharrt? Christian will es jedenfalls nicht und nimmt mir damit den Wind aus den Segeln.

Hauptbahnhof im niedersächsischen Braunschweig, 18.30 Uhr und ganz 7 Minuten Zeit zum Umsteigen.

Ich beginne für unseren Blog zu schreiben, Christian liest. Wir schaffen mit Leichtigkeit den Regio von Braunschweig nach Magdeburg und kniffeln im leeren Abteil eine große Partie. Überhaupt vergeht die Zeit unglaublich schnell. Viel zu schnell. Alles läuft so unverschämt unkompliziert – kenm’ ich sonst nicht von der Bahn -, dass wir Montagnacht, bzw. Dienstagmorgen um 1.10 Uhr auf dem Potsdamer Hauptbahnhof die Räder aus dem letzten Regio dieser Nacht, die Rolltreppe erst hoch und dann wieder runter schieben. Unglaublich. Unfassbar. Noch vor 13 Stunden saßen wir irgendwo in Holland – jetzt sind wir zuhause.
Der Vollmond begrüßt uns. Wir schwingen uns auf unsere Räder, machen einen kurzen Zwischenstopp bei unserer Lieblingskneipe, die gerade schließt und wo man uns offensichtlich überhaupt nicht vermisst hat. Wir radeln weiter durch die laue Sommernacht und sind uns einig: Eigentlich könnten wir die ganze Nacht durchfahren nach … wohin auch immer.

An diesem Morgen spielen viele Faktoren für unsere Entscheidung eine Rolle. Klar, das Wetter der letzten Tage war unglaublich anstrengend und die uns heimsuchenden Krankheiten ebenfalls. Finanziell war zumindest ich am selbstgesetzten Limit, auch wenn Amsterdam sicher gerade noch zu stemmen gewesen wäre. Allerdings stellt sich mir die Sinnfrage dieses Unternehmens: Fahren wir jetzt mit dem Zug nach Amsterdam, um uns die Stadt im Zweitageseiltempo anzuschauen, nur um dann wieder mit dem gleichen Zug in die Gegenrichtung zu fahren? Denn sicher ist eines: Mich stören die Räder in Großstädten erheblich. Was mich auf dem Land unglaublich flexibel und frei macht, erweist sich in Städten oftmals als ziemlicher Bremsklotz. Nein, ich will nicht mit dem Rad durch Amsterdam, auch wenn es eine der fahrradfreundlichsten Städte auf diesem Kontinent sein soll. Amsterdam anfahren, nur um im Nachhinein behaupten zu können, in Amsterdam gewesen zu sein? Alles in allem spricht für mich viel gegen die Fortsetzung der Reise, aber nichts so sehr wie die Tatsache, dass ich einfach unglaublich erschöpft bin und gleichzeitig super aufgeregt, auf das, was da jetzt vor mir, vor uns liegt: Ein neuer Abschnitt im Leben. Und ich kann ihn kaum erwarten.
Ja, ich möchte jetzt nach Hause und ja, ich bin glücklich mit der Entscheidung und ja, ich bin fröhlich, als wir in Middelburg ankommen und den Zug besteigen können. Die letzten 6 Etappen der Tour liegen jetzt zwar noch vor uns, aber diese werden wir heute alle in einem Rutsch erledigen. Auch wenn es zwischenzeitlich so aussieht, als würden wir irgendwo für eine Nacht stranden, habe ich wie immer Vertrauen in das Leben.
Und während wir aus den Zugfenstern schauen, erkennen wir hier und dort Stellen und Orte, die wir Tage oder Wochen zuvor aus eigener Kraft erreicht haben. Mir fallen Geschichten zu ihnen ein, und Stimmungen, die unser Handeln bestimmt haben, werden wieder spürbar. Und am Ende des Tages werden aus den heute Morgen geplanten 64 Kilometern plötzlich 862 Kilometer. Meine Erschöpfung, die mir in den letzten Tagen so unaufhaltsam in die Knochen geschlichen ist, weicht der Freude, endlich wieder zu Hause zu sein. Und noch etwas fällt mir auf, nämlich, dass man den viel beschworenen Punkt des Aufhörens oftmals verpasst. Wenn es am schönsten ist… Dazu habe ich ganz klar eine Meinung: Man weiß erst auf der Talfahrt, wann man den Höhepunkt überwunden hat. Und dann, nicht vorher, sollte man den Punkt zum Absprung finden. Ich glaube, das haben wir ganz gut geschafft. Ohne Plan, sondern nur aus dem Bauchgefühl heraus.

 

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 24 – von Dishoek nach Vrouwenpolder



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 24 – von Dishoek nach Vrouwenpolder

Heute ist es endlich soweit und ein weiterer Höhepunkt der Tour steht an: Ein Regentag!

Auch wenn es mit Mary und Robert echt lustig und gemütlich ist, aber direkt nach dem Aufstehen den Hasen dabei zu beobachten, wie er mal wieder Kinder für das gemeinsame Spaßprogramm einsammelt, ist einfach zu viel! Ich denke, Rattenfänger von Hameln, und bin schon wieder fassungslos, ob der dröhenden Musik und der vor Begeisterung kreischenden Kinder, die dem wild winkenden Hoppler hinterherrennen. Ich bin heute wieder einmal viel zu früh wach. Der Husten und die einsetzende Sonne treiben mich aus dem Zelt, und so beschließe ich, noch ein bisschen Schreiberei hinter mich zu bringen. Es ist kurz nach 6 und auf dem Campingplatz herrscht noch Ruhe und Frieden. Von den angekündigten Kinderlärm haben wir heute Nacht nichts mitbekommen, was eventuell daran lag, dass Tina während meiner gestrigen Dusche kurz bei deren Eltern um ein bisschen Ruhe gebeten hat. Mary erzählte, dass die junge Generation Camper offensichtlich keine Ahnung hat, wie man sich auf einem Campingplatz benimmt. Wie? Naja, Rücksichtnahme, ab 22 Uhr ist eben Platzruhe und dann wird geflüstert, statt lautstark die Kinderentwicklung diskutiert. Also bin ich direkt zu unseren Nachbarn – drei deutsche Elternpaare, alle um die Ende 20, Anfang 30 -, und habe sie mit gesenkter Stimme darauf aufmerksam gemacht, dass man jedes Wort im 10 Meter entfernten Zelt hört… Puh, manchmal komme ich mir vor wie Else Kling. Während ich schwer ins Schreiben vertieft bin, bemerke ich kaum, dass sich der Himmel langsam zuzieht. Erst als die ersten Tropfen aufs Display fallen, erkenne ich den Ernst der Lage und spurte zum Zelt, um einige vor dem Eingang verstreute Dinge in Sicherheit zu bringen. Kaum ist alles weg, hört auch der Regen auf. Trotzdem ist es noch immer viel zu früh, um Tina zu wecken und so nehme ich das Tablet, um einen erneuten Schreibversuch zu unternehmen. Gegen 8 beschließe ich, die Blogerei ab jetzt langweilig zu finden und schleiche vorsichtig ans Zelt, um mal nach meiner Dame zu schauen. Diese sitzt bereits zwar noch etwas zerknautscht im Zelt, hat aber übermütig gute Laune. Zumindest bis zum großen Auftritt von Koos Konijn – dem dusseligen Nervhasen. Was für die meisten Eltern hier wahrscheinlich toll ist, haben sie doch jetzt ein bisschen Zeit für sich, nachdem das verlauste Viech ihre Kinder adoptiert hat, ist für uns eher grenzwertig. So lässt auch mein Husten spontan nach und ich fühle mich superfit und unglaublich ausgeruht für die heutige Etappe. Noch eine Nacht werde ich hier auf keinen Fall verbringen!

Kurz vor Abfahrt startet der Regen – pausiert für eine viertel Stunde und hört dann nicht mehr auf

Ein weiteres Mal kündigt sich Regen an und ich dränge darauf, das Zelt abzubauen und die Räder fahrfertig zu machen. Ist erst einmal alles in den Taschen, stört mich der Regen nicht mehr sonderlich, denn einen Unterschlupf für sich selbst findet man zum Glück fast überall. Robert und Mary laden uns derweil zu einem letzte Tee bzw. Kaffee ein und beginnen ihrerseits ebenfalls mit den Abbauarbeiten. Sie wollen heute weiter nach Domburg, wo sie einen lang ersehnten Platz auf einem Campingplatz ergattern konnten. Wir sind zum Frühstück bei Mary und Robert eingeladen, aber irgendwie kriegen wir das nicht gebacken. Zwischen Artikel-schreiben und Räder zusammenpacken passt kein entspanntes Tee- bzw. Espresso-trinken. Und dann beginnt es auch schon zu tröpfeln. Eine herzliche Verabschiedung und das Versprechen in Kontakt zu bleiben später setzen wir uns auf unsere Räder und fahren zur Ausfahrt, nur um 30 Sekunden später von einem einsetzenden Regenschauer unter das Vordach der an den Platz angeschlossenen Imbissbude gezwungen zu werden. Das hat auch einen Vorteil, können wir doch Mary und Robert beim Verlassen des Platzes eine halbe Stunde später noch einmal zuwinken. Unsere Abfahrt hat sich auf 13 Uhr verschoben, und meine gute Laune wird vom Regen weggewaschen. Als sich die ersten verzweifelten Strandbesucher ebenfalls unter dem Dach in Sicherheit bringen und es langsam aber sicher voll zu werden droht, lässt der Regen endlich soweit nach, dass wir beschließen, die Strecke in Angriff zu nehmen. Unser Glück hält auch sagenumwobene fünf Minuten an, bis der Regen mit einer ungeahnten Heftigkeit zurückkommt und wir auf einem leeren Parkplatz erst einmal die Zeltplane über unsere Köpfe ziehen müssen, um nicht binnen kürzester Zeit komplett durchnässt zu werden. Das ist zwar schon irgendwie gemütlich, aber für unsere Tour ein bisschen hinderlich. 

Ab jetzt kennt das Wetter keine Gnade mehr und unterscheidet sich lediglich in der Intensität des Regens. Ein stetiger Wechsel zwischen viel und sehr viel zwingt uns während des Fahrens immer wieder dazu, zu pausieren und unseren Kleidungsvorrat anzufassen, um uns eines trockenen Shirts oder einer wärmende Jacke zu bedienen. Ich habe mal wieder etwas gefunden, um meine schlechte Laune zu verdoppeln. Die Regenjacke! Teuer bezahlt, vom gleichen Ausstatter wie unser großartiges, wunderbares Zelt und meine grandiosen Radlerhosen – VAUDE – versagt, wie eine teure Regenjacke nur versagen kann. Ich werde nass. Klitschnass. Und immer ruhiger. Zum Ausflippen ist es einfach zu ungemütlich und zu kalt. Zu allem Unglück führt uns die Karte auch noch ein wenig an der Nase herum und gibt uns keine Möglichkeit, meine Schlamperei beim morgendlichen Planen in irgendeiner Form zu kompensieren. Wir fahren im Zickzack und fliehen zwischendurch mal unter das Dach einer Tankstelle, mal unter das Vordach einer örtlichen Pflegestation. Auch auf die radreisefreundlichen Öffnungszeiten der Supermärkte ist hier kein Verlass und somit fällt eine Verpflegung für das heutige Abendessen auch ins sich inzwischen überall sammelnde Regenwasser. Zu all der Ungemütlichkeit kommt tatsächlich der scheinbar unzerstörbare Humor meines Chef-Navigators. Er ist offensichtlich krank – was er übrigens ziemlich gut runterspielen kann, sodass mir gar nicht bewusst wird, wie angeschlagen er tatsächlich ist – und trotzdem nicht verlegen um ernsthaft doofe Sprüche wie: „Nur wer mal einen Tag im Regen gefahren ist, kann von sich sagen, ein echter Reiseradler zu sein.“ Oder: „Das lässt sich prima erzählen, zuhause, in ein paar Wochen. Dann lachen wir drüber.“ Äh, ‘tschuldigung, dass mich dieser Aspekt gerade kein bisschen interessiert.

In der kleinen Stadt Serooskerke lässt das Wetter dann endlich von uns ab und wir beginnen an der Erreichbarkeit des heutigen Zieles zu zweifeln. Seit der Verabschiedung von unseren beiden Münchnern Campern sind inzwischen dreiStunden vergangen und wir haben gerade einmal 22 Kilometer geschafft. Weitere 45 Kilometer sind unser beider Meinung nach illusorisch, zumal wir dringend zumindest einen Wäschetrockner bräuchten, um die ganzen durchgeweichten Klamotten wieder irgendwie nutzbar zu machen. Also planen wir kurzerhand um und entscheiden uns, nach den guten Erfahrungen des letzten Platzes, noch einmal für eine Naturkämperei in ca. 10 Kilometern Entfernung. Einmal mehr ist es überraschend, dass sämtliche Distanzen unter 30 Kilometer wie ein Katzensprung erscheinen. Und sogar 30 Kilometer und mehr wirken nicht mehr bedrohlich oder auch nur irgendwie vorauseilend erschöpfend. Und wahrlich, es ist auch ein toller Platz, der uns nach dem Durchfahren des wunderschönen, fast mittelalterlichen Örtchens Veere erwartet. Ich möchte zum Campingplatz und dann mit trockenen Füßen zurück nach Veere. Ja, vermutlich wieder mal Touri-Nep, aber die vielen kleinen Cafés und geöffneten Geschäfte wecken eine Sehnsucht in mir, wie bislang nicht einmal auf der Fahrt. Ich sehe mich schon kleine Mitbringsel erbeuten…

Bei Regen bleibt einem eben nichts anderes übrig, als den Gaskocher im Zelt anzuwerfen

Es gibt hier Natur so weit das Auge reicht, Duschen und auch ein paar Toiletten. Nur eine Waschmaschine und einen Trockener gibt es leider nicht. Aber gerade heute ist beides unerlässlich und so ziehen wir schweren Herzens wieder von dannen, um nach einem anderen Platz Ausschau zu halten. Eine Sache will ich allerdings noch wissen: Wie teuer ist diese Campingoase eigentlich? Da es hier keine klassische Rezeption gibt, sondern nur einen Automaten, an dem man seine Übernachtung buchen kann, versuche ich zumindest theoretisch einmal eine Übernachtung zu erstehen. Als der Automat von mir theoretische 37 € verlangt, falle ich fast in Ohnmacht. Dann kaufe ich lieber ein paar Kisten Krombacher und rette den Regenwald damit. Der Platz ist wirklich ein Traum. Mitten im Wald gelegen, ein Teich, der schon beinahe See ist; ein verzweigter Bachlauf, über den Holzbrücken führen; kleine Lichtungen, auf denen man sein Zelt genauso wie sein Wohnmobil stellen kann. Und dann kommt da noch dieses ziemlich alte Radler-Pärchen. Sie filmt ihn, als er auf den Platz fährt. Zwei, die mit Sicherheit seit Jahrzehnten regelmäßig mit Rad und Zelt unterwegs sind. Zu gerne hätte ich ein paar Geschichten von ihnen erfahren. Nach ein paar weiteren Versuchen, einen Campingplatz zu finden, der nicht unverschämt teuer ist, werden wir in endlich in dem kleinen, ebenfalls sehr touristischen Ort Vrouwenpolder fündig. Hier können wir für einen erschwinglichen Betrag unser Zelt aufschlagen und sowohl die Waschmachine als auch den Trockner benutzen. Der Betreiber verlangt gerade mal 22 Euro und dann ist da ja noch sein zweijähriger Schäferhund, der sich hingebungsvoll den Bauch kraulen lässt und liebevoll mein Handgelenk zwischen seine strahlend weißen Zähne nimmt und überhaupt schrecklich albern ist. Wo ein Köterkind rumrennt, da können wir uns entspannen. Trotzdem sind wir ein bisschen deprimiert. Denn dafür, dass wir gerade einmal die Halbinsel durchquert haben, haben wir insgesamt über 5 Gesamtstunden gebraucht und dabei lediglich eine Strecke von 42 Kilometern zurückgelegt. Hast du nicht gesagt, Luftlinie haben wir gerade mal 15 Kilometer überbrückt? Während wir die Wäsche waschen, kocht Tina uns aus unseren letzten nahrhaften Vorräten noch ein leckeres Abendessen und irgendwie fühle ich, dass mir die Puste ausgeht…

Zum ersten und einzigen Mal gibt es ein drei-Gänge-Menue. Gekocht im Zelt, in einem Topf. Hat geschmeckt.

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 23 – von Brügge nach Dishoek



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 23- von Brügge nach Dishoek

Es ist Samstag der 26.05.2018, ca. 17:30 Uhr und wir stehen mit vor Schrecken geweiteten Augen an der Rezeption eines Campingplatzes und müssen mit ansehen, wie ein 1,70m großer Hase auf der Ladefläche eines Golfwägelchens und mit ohrenbetäubendem Lärm abtransportiert wird. Nein, das ist keine Nagetierbekämpfung, das ist Tierquälerei allererste Güte!
Stunden früher.
Ich bin ziemlich angeschlagen und ein hartnäckiger Husten hält mich fest in seinem Griff. Keine gute Ausgangsposition für die anstehende Tagesetappe, die uns in Richtung des Amsterdamer Bahnhofs und damit in wenigen Tagen wieder nach Hause bringen soll. Aber die Sonne gibt sich nach ihrem gestrig eher schwachen Auftritt heute richtig Mühe und scheint uns geradezu auffordern zu wollen, wieder aufs Rad zu steigen, um Brügge zu verlassen. Gestern Abend hatten wir noch kurz überlegt, ob wir nicht doch noch den Brügger Belfried besteigen sollten, aber ich würde heute Morgen schwächebedingt lieber passen Wir hätten einen vermutlich sensationellen Blick über Brügge gehabt. Aber für insgesamt 24 Euro? Och nö. Die geplante Etappe wird schon noch anstrengend genug. Auch Tina ist nicht sonderlich gut drauf, denn eine junge spanische Dame hat ihr mit ignoranten und unfreundlichen Art ein bisschen die Laune verhagelt. Lediglich eine mittelalte Salzburgerin scheint heute Morgen noch auf unserer Seite zu stehen, wenn auch das einzige, was uns zu verbinden scheint ist, dass wir vermutlich alle drei inzwischen das inoffiziell zulässige Hostelalter überschritten haben. Hinzu kommt, dass die Spanierin gestern Abend mit einer kompletten Reisegruppe eingetrudelt ist, während wir wahrscheinlich inzwischen zu lange nur mit uns allein waren. Ich kenne Spanier als fröhlich, herzlich und zugewandt. Daher irritiert mich das perfektionierte Zickengehabe dieser Seniorita noch vor dem Frühstück – sie überprüft mehrfach schmollmundig den Sitz ihrer langen Haare im Handy, wirft mir immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen abschätzende Blicke zu, reagiert auf mein zaghaftes Lächeln mit Augenverdrehen. Das ganze dämliche Stutenbissigenprogramm, während ich Trockenfrüchte schnipple.

Neugierige Blicke für uns Reiseradler an diesem Samstagmorgen in einer Seitenstrasse von Brügges Innenstadt

Während Tina heute Morgen noch schlief, habe ich mich erstmals auch theoretisch mit Brügge beschäftigt und noch ein paar interessante Fakten recherchiert. Und Anderem, dass auf dem, die Ostseite der Stadt umgebenen Deich, noch einige intakte Windmühlen stehen sollen und so beschließe ich, dass unser Weg aus der Stadt heraus ein anderer sein wird, als in die Stadt hinein. Ich möchte nicht noch einmal durch das Tourigedränge, das ohne Zweifel auch jetzt um halb 11 schon eigesetzt hat, und wähle den kürzesten Weg aus der Innenstadt hinaus, auch wenn dieser der längste ist, denn man einschlagen kann, um nach Norden und damit auf den Nordseeküsten-Radweg zu gelangen. Also geht es erst einmal nach Süden, um dann die Stadt in östlicher Richtung zu umfahren. Und so kommen wir dann nicht nur an den Windmühlen, sondern auch noch am sogenannten Minnewater vorbei, auf dem zahlreiche Schwäne ihr Dasein fristen. Da ich die Legende sehr interessant finde, ernenne ich mich spontan selbst zum Stadtführer und egal, ob Tina sie hören möchte oder nicht, klugscheißere ich sie trotz des dichten Verkehrs einfach so vor mich hin. Tina musste die lange Version ertragen, ihr bekommt die kurze:
Ein Verschwörer gegen den damaligen König hieß Pieter Lanchals (auch Lankhals genannt) und als die Verschwörung aufflog, wurde er nicht nur gefoltert und geköpft, nein vielmehr hat der damalige König Brügge dazu verurteil, dass an dieser Stelle auf ewig Schwäne, oder eben Langhälse, zu halten sind. Ist zwar schon 520 Jahre her, aber die Brügger scheinen sich daran zu halten.
Ich mag ja immer eher directors-cut-versions, die ich selber nie zu Gehör bringen kann, weil ich ständig Details vergesse.

Ich weiß nicht, ob die Tina die Geschichte wirklich gefallen hat – Unbedingt! Habe nur leider schon nach 10 Kilometern wieder die Hälfte vergessen-, denn sie macht ein bisschen den Eindruck, fliehen zu wollen und beschließt auf Grund ihrer Ungeduld, nicht auf das Herablassen einer uns jetzt blockierenden Klappbrücke warten zu wollen und einen anderen Flussübergang zu suchen. Ich bin nicht ungeduldig, sondern genervt. Viel zu viele Eindrücke, zuviel Krach, zuviel Gedränge, zuviel Rücksichtslosigkeit der Autofahrer, zuviel von allem, was gemeinhin Zivilisation genannt wird. Zwar finden wir diesen, jedoch bringt er uns etwas von meinem geplanten Weg ab und somit verfehlen wir den Kanal, der uns zum Radweg bringen soll um einige hundert Meter. Trotzdem, erst einmal raus aus der Stadt und dann sehen wir weiter. Was soll schon schief gehen? Wir halten uns Richtung Norden und da kommt in wenigen Kilometern Küste und zur Küste wollen wir ja sowieso.

Eine Bootsfahrt, die ist lustig, eine Bootsfahrt, die kost’ Geld … mit 8 Euro pro Person gibts Brügge vom Wasser aus

Als ich merke, dass wenige Kilometer doch ziemlich lang sein können, erbitte ich mir einen kurzen Stopp um das Navi befragen zu dürfen und stelle fest, dass nach Norden gar nicht mal soooo richtig ist. Wir hätten eigentlich eher gen Nord-Ost gemusst. Tinas Ungeduld hin oder her, mir ist bereits heute Morgen bei der Routenplanung ein grober Fehler unterlaufen und so stehen wir jetzt irgendwo in einem Brügger Vorort und versuchen uns zu orientieren. Zum Glück kommt uns ein niederländischen Pärchen entgegen, das uns davon erzählt, in dieser Ecke schon länger regelmäßigen Urlaub zu machen. Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt ein holländische Radl-Pärchen daher. Und nein, nach Brügge fahren sie nicht hinein – zu viele Touristen. Allein heute Vormittag kommen in Seebrügge (ein offizieller Stadtteil der Märchenstadt) 2 Kreuzfahrtschiffe an, die 4000 neue potentielle Pralinenkäufer, Museumsbesucher und Straßenbefüller für einen Tagesbesuch auskotzen werden. Das muss man sich mal vorstellen: 4000!!! und das zusätzlich zu der spanischen Reisegruppe in unserem Hostel. Und okay, und auch die Reisegruppen der anderen 200 Hotels und Hostels und Pensionen. Privatzimmer noch nicht einmal mit eingerechnet. Man muss ja nur ein bisschen hilfesuchend wirken – zack! Hält jemand. An diesem Morgen steht uns die Rat- und Orientierungslosigkeit echt auf der Stirn geschrieben. Und die beiden Endsechziger haben echt Freude, uns weiterzuhelfen. Wir sollen immer geradeaus fahren und dann stoßen wir automatisch auf den LF1 Richtung Amsterdam. Wir haben uns also quasi gar nicht wirklich verfahren – wunderbar.
Um hier auch noch einmal die mühsam gesammelten Fakten wirken zu lassen:
Tina schrieb gestern das 118.000 Einwohner in Brügge leben. Das stimmt zwar, aber davon wohnen nur lediglich 20.000 in der Altstadt, die an “guten” Tagen gern einmal die doppelte Menge an Touris zu bespaßen versucht. Gründe für die „nur“ 20.000 – wir erinnern uns: Mietwucher.
Zu unserem Glück hatten die Niederländer eine Ausschilderung zum gesuchten Radweg in etwa 3 Kilometer im nächsten Ort gesehen. Wir bedanken und verabschieden uns höfflich und setzen unseren Weg immer noch in Richtung Norden fort. Und tatsächlich, nach wenigen Kilometern ist er endlich ausgeschildert: der LF1! Dieser Weg wird zwar kein leichter sein, soll uns aber ab hier innerhalb der nächsten 4 Tage bis in die Holländische Hauptstadt führen führen. LF1 bedeutet Landelijke Fietsroutes und meint den niederländischen Abschnitt des Nordseeküstenradwegs.
Sicher kann sich jeder denken, dass es sozusagen die Kernkompetenz eines Radfernweges ist, seinen Benutzer in die Verzweiflung zu treiben. Denn statt uns direkt und auf gerade Linie nach Nordosten zu führen, geht es jetzt erst einmal quer über alle Himmelsrichtung, durch uns inzwischen gut bekanntes und schmuckloses belgisches Hinterland, bis wir an dem Kanal ankommen, der uns zwei Tage zuvor in die gelobte Stadt geführt hat. “Kanäle können sie die Belgier”, geht es mir erneut durch den Kopf. Denn ab hier ist das Radfahren wieder eine große Freude, auch wenn wir nun natürlich nicht mehr auf unseren wundervollen Pappel-Kathedralen-Kanal abbiegen können. Dennoch ist das Fahren hier um einiges angenehmer als auf den zu engen Landstraßen. Wir kommen gut voran und sind bereits nach 2 Stunden in der ehemaligen Festungsstadt Sluis in den Niederlanden.
Leider will sich heute bei mir kein richtiges Fahrgefühl einstellen. Irgendwas steckt mir in den Knochen und die vorhin hochgelobte Sonne brennt inzwischen wieder erbarmungslos. Hinzu kommt ein kräftiger Ostwind, der uns die Tage zuvor wunderbar als Rückenwind diente, heute aber jeden Kilometer zu verdoppeln scheint.

Großer Spaß: Aus eigenem Antrieb bringt man sich mit dieser handbetriebenen kleinen Fähre über den Kanal

An einem Wegweiser kurz hinter Sluis müssen wir uns dann entscheiden. Fahren wir den direkten, aber vermutlich langweiligen Weg nach Breskens, von wo uns eine Fähre nach Vlissingen, unserem heutigen Tagesziel, bringen wird. Oder folgen wir dem LF1, der laut Karte mit einer Küstenführung seine Aufwartung macht? Natürlich entscheiden wir uns für den Umweg… Was ist schon ein bisschen Umweg, wenn du direkt mit Blick aufs Meer fahren kannst? Ok, menschenleerer Strand ist anders. Aber dafür kannst du junge Menschen beim Bier-Staffellauf bewundern. Was Bier-Staffellauf ist? Ich behaupte, eine typisch holländische Kombinationsdisziplin für Menschen zwischen 16 und 25. An dieser Stelle also unser Spieletipp des Tages: Zwei Mannschaften, 20 Meter Strandabschnitt, jede Menge Bier, ein Schiedsrichter. Fertig ist die sportliche Spaßaktion, die uns irgendwie auch ein bisschen Respekt abverlangt. Hey, wer rennt schon bei 32 Grad in praller Sonne barfuß um die Wette, ext eine Flasche Bier, galoppiert durch den heißen Sand zurück, schlägt ab und wartet, bis er ein zweites Mal in die Spur geschickt wird? Richtig – die Holländer.
Wir und, huch, es ist Samstag, eine Millionen anderer Radfahrer. Immer wieder landen wir so in Grüppchen voller Rentner, Familien oder sonstigen Bummlern, die sich hier eine Erholung von der anstrengenden Woche auf der Arbeit in der Schule oder beim Arzt genehmigen wollen. Natürlich zu Recht, aber des einen Freud ist eben des anderen Leid. Und so stören wir uns besonders an den E-Biker, die exakt 18 Stundenkilometer schnell über längere Strecken fahren. Sie behindern unseren Fahrfluss erheblich, denn bergauf überholen sie uns, nur um dann direkt eine Nasenlänge vor uns zu “flanieren” und bergab machen sie sich so breit, dass man nur geringe Chancen hat, im Gegenverkehr an ihnen vorbeizuziehen. Irgendwie nicht weniger ignorant als SUV-Fahrer. Sehr sehr bedenklich… Schafft man es dann doch, kommt die nächste Düne und das Spiel geht von vorn los. So erreichen wir zwar das erste Mal nach 1100 Kilometern die Nordsee, können uns aber ob des hohen Verkehrsaufkommens nur so wenig daran erfreuen, dass wir den vermeintlich schöneren Radweg nach einigen Kilometern aufgeben und den Wochenendradlern das Feld überlassen. Wir ziehen uns zurück auf die parallel zum Strand verlaufende Küstenstraße, beziehungsweise auf deren Radweg. Die hat zwar keine so geile Aussicht, aber dafür sind wir raus aus der kräftezerrenden Massenveranstaltung auf der Düne. Darf ich mal fragen, wo die eigentlich alle herkommen, dieses Touris?

Als Reiseradler muss man Verzicht üben: Freiwillig schiebt niemand vollgepackten Räder durch den Sand

Da der Radweg sich nur gelegentlich mit dem LF1 überschneidet und uns die Dünen außerdem vor dem inzwischen recht böigem Wind schützen, kommen wir somit trotz Wind und Hitze ganz gut voran und erreichen um 14.35 Uhr den Fährhafen in Breskens.
Beim Kauf der Tickets erklärt mir die nette Verkäuferin, dass wir uns beeilen sollen, denn die Fähre legt in 2 Minuten ab. Na klar, inzwischen sind wir die Ruhe selbst und werden zum hetzen gezwungen! Aber eine weitere Stunde am Hafen wollen wir dann auch nicht warten, zumal sich Mary und Robert gerade gemeldet haben, und uns auf ihren Campingplatz in Dishoek eingeladen haben. Sie schreiben auch, dass wir sogar ihre Parzelle mitnutzen können, ihr Wohnwagen benötigt ja nur wenig Platz. Da wir uns sehr über das Wiedersehen freuen, sagen wir spontan zu und ich prüfe auf der Karte die Strecke. Nur noch wenige Kilometer und der Campingplatz liegt direkt am LF1. Wenn Google ihn nicht ausdrücklich als Familiencampingplatz angepriesen hätte, wäre er perfekt. Aber es ist egal, für eine Nacht wird es schon gehen und da ich mich inzwischen schlapp und krank fühle, bin ich zufrieden, keinen weiteren Platz suchen zu müssen und vor allem, nach ein paar Kilometern das Ende des Fahrtages zu wissen.
Also legen wir einen kleinen Spurt ein, erreichen die Fähre in dem Moment, als die Männer die Leinen losmachen wollen und können uns tatsächlich noch einen Platz im Bauch des Stahlriesens sichern. Auch wenn diese hektischen Spurteinlagen immer ein bisschen doof sind, so freuen wir uns doch jedes Mal wie Schneekönige, wenn wir sie erfolgreich gemeistert haben. Ich bin total dankbar, dass auf uns gewartet wurde. Denn wenn wir ehrlich sind: Wir haben länger als zwei Minuten gebraucht.
Knapp 20 Minuten benötigt die Fähre über die Westerschelde, dem südlichsten Meeresarm der Niederlande, in dem die durch Antwerpen fließende Schelde mündet. 20 Minuten, in denen wir von voller Leistung in eine Ruhepause katapultiert werden. Und jetzt merke ich ganz deutlich, dass mir die letzten Kilometer heute sehr schwer fallen werden und so vertrödeln wir in Vlissingen auch keine Zeit, sondern setzen unseren Weg auf dem LF1 gleich nach Ankunft der Fähre unvermindert fort.
Trotz der etwas komplizierten Radwegführung quer durch den Hafen, über enge Holzbrücken, durch die halbe Stadt entlang einer Promenade, die auf Grund des herrlichen Hochsommerwetters auch an der Côte d’Azur beheimatet sein könnte, und auch ebenso vollgeparkt und überlaufen scheint, finden wir eine halbe Stunde später den Platz, der uns unser heutiges Nachtlager zur Verfügung stellen soll.
Während meine bessere Hälfte sich um die Bezahlung des Platzes kümmert, sehe ich Robert und Mary bereits Händchen halten vom Strand kommen. Passt perfekt. Tina erklärt der jungen Dame an der Rezeption, dass wir in die Nähe der beiden wollen, aber nur, wenn da keine Kinder rumlaufen. Ihr Gegenüber schaut verwirrt und meint, hier laufen überall Kinder herum. Es wäre ja schließlich ein Familienplatz. Was ich nicht bemerke, ist Tinas zerknirschtes Gesicht als sie die Rezeption verlässt. Zerknirscht? ZERKNIRSCHT?! Ich platze fast vor fassungsloser Empörung und heiliger Wut. Ich freue mich sehr über unsere beiden Bayern, und als sie uns sogar zum Essen einladen, bin ich happy.
Tina hingegen ist angesäuert. ANGESÄUERT?! Ha! Ich bin bereit zu töten! Wir müssten eigentlich dringend schreiben und ob das mit den vielen Kindern hier etwas wird, ist zu bezweifeln. Außerdem schlägt der Campingplatz mit 38€ für eine Nacht zu Buche und daher alles bislang dagewesene. In Worten achtunddreißig. Begründung: Man muss nur über die Straße hopsen, die Düne hoch – und schon ist man an der Nordsee. Na ja, dann. Auch hier gelten die üblichen Immobiliengründe für die Preisfindung: Die Lage – die Lage – die Lage. Als sich jetzt auch noch eine junge Dame im 1,90 m großen Hasenkostüm auf die Ladefläche eines Golfwägelchens platziert um mit Kinder-Party-Musik die Kleinen zum gemeinsamen Spielen zu animieren, klappt uns endgültig die Kinnlade herunter.
Aber Mary und Robert kümmern sich rührend um uns und bewirten uns mit frischen Kartoffeln, Steak und Soße und Salat. Unsere bayerischen Reisefreunde sind so lang und schlank wie wir eher mittelgroß und… naja, wohlgenährt sind. Unfassbar, dass Mary und Robert ihre vier Steaks, die zusammen nicht mal 200 Gramm auf die Waage bringen, mit uns teilen. Es gibt sogar Servietten und Wein zum Essen. Wir sitzen so bequem auf den Polstern des Wohnwagens, den sie liebevoll Knutschkugel nennen, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufstehen würde. So gestärkt gehen wir nach dem Essen an den Strand um das erste Mal auf der Tour die Nordsee in Ruhe zu begutachten. Abschließend schaffen wir es tatsächlich noch ein paar brauchbare Texte zu schreiben. Ich hätte gerne einen gigantisch-romantischen Sonnenuntergang mit explodierenden Farben und so. Wird nix. Zwar wandere ich barfuß durch den Sand und durchs Wasser, aber die Sonne geht erstens hinter uns unter und zweitens mehr als unspektakulär. Deswegen gibt’s auch kein Sonnenuntergang-an-der-holländischen-Nordsee-Selfie. Nicht etwa, weil Christian den Deppenzeppteneinsatz boykottiert, wo es nur geht.

Der einzige Sonnenuntergang am Meer war weniger spektakulär als erwartet, aber dennoch wunderbar romantisch

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 21 – von Kamperhoek nach Brügge



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 21- von Kamperhoek nach Brügge

Rückblick 1: Wir schreiben einen grauen Samstagabend im November 2017. Heute liegt nichts an und so beschließe ich, Tina endlich einen meiner Lieblingsfilme unterzujubeln. Ein Film, in dem es um zwei Auftragskiller geht, die einen Job vermasseln und untertauchen müssen. Ein Film, in dem die beiden Hauptdarsteller unterschiedlicher kaum sein könnten, und ein Film über eine Stadt, die eine Mischung aus langweiliger Geschichtsstunde und aufregendem Mittelaltermärchen zu sein scheint, reduziert auf sich selbst am Rande eines modernen Universums. “Brügge sehen und sterben” ist ein Film voller Widersprüche und unüberwindbarerer Differenzen und er hat kein Happy End, außer diesem, dass er innerhalb von 107 Minuten auch in Tinas Top-10-Liste der Filme ziemlich weit nach oben schießt. Und eigentlich sind dieser Samstagabend und dieser Film der Auslöser und der Beginn der Tour, auch wenn ich ihn bis Februar 2018 nur als Film und nicht als Ziel im Sinn behalte. Ich LIEBE Brendan Gleeson, und Colin Farell war nie besser als in diesem Film vom wunderbaren irischen Drehbuchautor und Regisseur Martin McDonagh.

Rückblick 2: Letztes Jahr ist schief gelaufen was nur schieflaufen konnte. Zu wenig Urlaub, zu viel Krankheit, zu schlechtes Wetter. Unserer Fahrradreise nach Prag stand vermutlich von Anbeginn unter keinem guten Stern, auch wenn die Rahmenbedingungen gut waren. Die Ausrüstung war vorhanden, der Wille da und die Vorfreude groß. Vielleicht ein bisschen zu groß? Vielleicht alles zu Anspannung, Erfolgs- und Erwartungsdruck mutiert? Was genau der Grund war, warum so viel schief gegangen ist, wissen wir nicht. Aber heute, fast ein Jahr danach, ist es auch egal. Wir planen erneut eine Tour. Um dieses Mal die Vorfreude möglichst klein zu halten, plane ich allein und wann geht das besser als an einem echt langweiligen Arbeitstag, an dem aber auch rein gar nichts passiert? Nur ein Ziel habe ich noch nicht. Ich weiß nur, diesmal muss es nach Westen gehen, um den Emotionshammer, den die osteuropäischen Staaten bei mir verursacht haben, mit möglichst wenig Wucht zuschlagen zu lassen. Weil, wenn einer in Emotionen kann, dann ist es Tina.
Also kreise ich mit der Maus über die Weltkarte und überlege, welche Länder ich gern besuchen würde. Klar, mein Plan nach Spanien steht noch, ist aber zu weit, um es Tina als erste Tour anzutun. Deutschland komplett durchfahren, nach Frankreich und dann nach Spanien… ich weiß nicht. Zumal mein eigenes Budget das eigentlich auch nicht hergibt. Vielleicht Irland? Tina hat hier ein paar Monate gelebt und ist immer wieder gern zurückgekommen. Aber Irland bedeutet eben auch quer durch Deutschland, die Niederlande, Belgien, Nordfrankreich und dann mit der Fähre nach Irland übersetzen oder erst nach England und dann von da aus.
Beim Berechnen der ungefähren Route fällt mir eine Stadt ein, die wir, so haben wir uns nach dem Film gegenseitig versprochen, einmal besuchen wollen. Brügge! Warum eigentlich nicht Brügge? Ich lasse Google die Strecke durchrechnen und das Ergebnis ist mehr als zufriedenstellend. “Nur” 832 Kilometer sagt der Routenplaner. Ich öffne ein zweites Fenster mit einer Webseite eines Reiseradlernetzwerkes und klicke mich entlang der vorgeschlagenen Route durch die Übernachtungsmöglichkeiten. Das verlängert die Strecke ein bisschen, aber selbst wenn wir zelten würden, wäre kaum einer der Campingplätze direkt auf der Strecke. Am Ende des Arbeitstages weiß ich: 879 Kilometer in 20 Tagen durch drei Länder. Fast einen ganzen Monat also und dann? Wie kommen wir zurück? Bekomme ich so lange Urlaub? 3 Wochen sollten gehen. Das bekomme ich vielleicht durchgesetzt, aber 6 Wochen? Mein Chef zeigt mir einen Vogel. Heute ist wohl kein guter Tag für einen frühen Feierabend. Also mache ich Überstunden und suche nach einem Rückweg. Von Brügge aus wird es schwierig. Es gibt nicht einmal eine direkte Zugverbindung nach Amsterdam, von wo aus ein IC direkt nach Berlin fährt. Wenn wir mit dem Zug von Brügge nach Hause wollen, bedeutet das, nach London oder Paris zu fahren und dann nach Berlin. Eine ganz schöne Juckelei und vor allem eines: sehr teuer. Ich frage Google noch einmal nach einer Route von Brügge nach Amsterdam. Und ohne ein konkretes Ziel zu nennen, schicke ich Tina folgende Eckdaten: 24 Tage + einige mehr bei Bedarf. 1200 Kilometer, 3 Länder. Also alles sehr entspannt und völlig stressfrei. Muss nur noch das Wetter mitspielen.

Sieht aus wie ausgestopft, ist aber nur vor Schreck erstarrt und flüchtet kurz darauf in seinen Stall

Wir schreiben den 27.02.2018 und unsere Tour ist geboren und nur einer weiß Bescheid, wo es hingeht: ICH! Vor Vorfreude reibe ich mir die Hände und bin auch ein bisschen stolz darauf, nichts verpetzt zu haben. Fahrradfahren verlernt man angeblich nicht und scheinbar ist es mit dem Recherchieren ähnlich. Denn als ich an diesem Abend voller Überstunden völlig überarbeitet nach Hause komme, hat meine Ex-Journalistin ein Grinsen auf den Lippen: Fahren wir vielleicht nach Brügge? Verdammt! Das hat dir der Teufel gesagt! Rumpelstilzchens Schmach konnte nicht größer sein. Dieses neugierige Weib. Kann die nicht einfach mal mit dem Nachdenken aufhören? Da ich echt schlecht lüge und es daher gar nicht versuche, kommt die Wahrheit exakt 2 Stunden nachdem ich sie zu verschleiern begonnen habe, ans Licht. Ich schwöre, ich habe nicht recherchiert. Einer guten Bekannten erzählt, dass wir Anfang Mai mit dem Rad auf Tour wollen und ich keine Ahnung habe wohin. Und während ich das sage, schießt mir plötzlich Brügge durch den Kopf. Zuhause ziere ich mich ein bisschen nachzufragen, denn eigentlich will ich es nicht wissen und vor allem will ich Christian nicht die Freude verderben. Also frage ich, ob es möglicherweise sein könnte, dass wir nach Brügge fahren. Und dann bin ich einfach nur überwältigt, dass mein vor Monaten geäußerte Wunsch, diese Stadt mal in echt zu sehen, ausreicht, um so belohnt zu werden. Ich hätte mir kein schöneres Ziel für unser erste gemeinsame Radtour vorstellen können.
 

Unterkunft von Außerirdischen? Radaranlage? Olympisches Feuer? Wir haben es nicht herausgefunden

Zurück in die Gegenwart:
Heute ist es also soweit und die finale Etappe steht an. Während ich schon hellwach bin, schläft Tina noch und ich plane noch einmal alles durch. Dann schaue ich beim Bauern vorbei, um ihm vielleicht ein paar frische Eier abzukaufen. Er tut alles, was in seiner Macht steht und klaut sechs Eier ein paar Hennen einfach unterm Hintern weg. Als er mir sie in die Hand drückt, sind sie noch warm und eigentlich viel zu frisch zum essen, wir werden es aber trotzdem tun.
Auf dem Rückweg zum Zelt taumelt mir Tina noch schlaftrunken auf dem Weg zu den Toiletten entgegen und voller Stolz drücke ich ihr meinen gerade erworbenen Schatz in die Hände. Ja… sie wäre theoretisch schon begeistert, müsse aber jetzt dringend aufs Klo. Verstehe. Offensichtlich haben wir gelegentlich andere Prioritäten. Also lasse ich sie ziehen und baue in der Zwischenzeit unsere Küche auf einer Bank auf.
Während das Wasser für Kaffee und Tee dem Siedepunkt entgegenstrebt, kommt ein älterer Herr zu mir und fragt mich nach dem Ziel unserer Reise. Brügge, verkünde ich stolz, wohlwissend, dass es heute soweit sein wird. Wohin er denn unterwegs sei und wie lange er noch Urlaub hat, frage ich ihn. Er zeigt nur auf seine Kleidung und meint, er würde jetzt arbeiten gehen. Und tatsächlich, der ältere Herr macht jedes Jahr 5 Monate Urlaub auf dem Bauernhof und arbeitet als Gegenleistung einfach mit. Ob Bauer und Camper in einem Familienverhältnis zu einander stehen, oder sich dieses Arbeitsverhältnis über jahrelanges Campen entwickelt hat, vermag ich nicht zu sagen. Manche Details scheinen mir zu intim, als dass ich nachfragen möchte. Meine Erfahrung sagt, die Menschen werden es schon erzählen, wenn sie es für erwähnenswert halten. Und ich sage dir, man muss den Menschen die Möglichkeit geben, dass sie reden! Die richtige Frage stellen, ernsthaft interessiert sein, statt zurückhaltend – und schwupps, erzählen sie dir ihre Lebensgeschichte.
Während wir noch beim Frühstück sitzen, zieht sich der Himmel wieder zu. Sehr schade, denn als ich vor zwei Stunden aufgestanden bin, sah alles nach einem perfekten Sommertag aus. Somit unterbrechen wir das Frühstück und verstauen in Windeseile unsere Habseligkeiten, um sie vor einem eventuellen Wolkenbruch zu bewahren. Ganz besonders das Zelt will ich diesmal trocken wissen, da wir uns noch nicht einig sind, ob wir uns in Brügge eine Pension suchen oder doch auf dem Campingplatz landen. Da bin ich mir bereits mit mir einig, dass ich in eine Pension möchte. Warte aber auf den richtigen Moment. Schließlich werden wir Brügge sicherlich nicht für nen kleinen Euro unterkommen. Trotz der Drohkulisse werden wir aber, zumindest für heute Vormittag, verschont und können nach erfolgreicher Packaktion unser Frühstück in Ruhe beenden.

Der beste Apfelsaft meines Lebens – irgendwo in einer winzigen Kneipe, in einem winzigen belgischen Kaff

Zurück in die Gegenwart:
Heute ist es also soweit und die finale Etappe steht an. Während ich schon hellwach bin, schläft Tina noch und ich plane noch einmal alles durch. Dann schaue ich beim Bauern vorbei, um ihm vielleicht ein paar frische Eier abzukaufen. Er tut alles, was in seiner Macht steht und klaut sechs Eier ein paar Hennen einfach unterm Hintern weg. Als er mir sie in die Hand drückt, sind sie noch warm und eigentlich viel zu frisch zum essen, wir werden es aber trotzdem tun. Auf dem Rückweg zum Zelt taumelt mir Tina noch schlaftrunken auf dem Weg zu den Toiletten entgegen und voller Stolz drücke ich ihr meinen gerade erworbenen Schatz in die Hände. Ja… sie wäre theoretisch schon begeistert, müsse aber jetzt dringend aufs Klo. Verstehe. Offensichtlich haben wir gelegentlich andere Prioritäten. Also lasse ich sie ziehen und baue in der Zwischenzeit unsere Küche auf einer Bank auf.
Während das Wasser für Kaffee und Tee dem Siedepunkt entgegenstrebt, kommt ein älterer Herr zu mir und fragt mich nach dem Ziel unserer Reise. Brügge, verkünde ich stolz, wohlwissend, dass es heute soweit sein wird. Wohin er denn unterwegs sei und wie lange er noch Urlaub hat, frage ich ihn. Er zeigt nur auf seine Kleidung und meint, er würde jetzt arbeiten gehen. Und tatsächlich, der ältere Herr macht jedes Jahr 5 Monate Urlaub auf dem Bauernhof und arbeitet als Gegenleistung einfach mit. Ob Bauer und Camper in einem Familienverhältnis zu einander stehen, oder sich dieses Arbeitsverhältnis über jahrelanges Campen entwickelt hat, vermag ich nicht zu sagen. Manche Details scheinen mir zu intim, als dass ich nachfragen möchte. Meine Erfahrung sagt, die Menschen werden es schon erzählen, wenn sie es für erwähnenswert halten. Und ich sage dir, man muss den Menschen die Möglichkeit geben, dass sie reden! Die richtige Frage stellen, ernsthaft interessiert sein, statt zurückhaltend – und schwupps, erzählen sie dir ihre Lebensgeschichte! Während wir noch beim Frühstück sitzen, zieht sich der Himmel wieder zu. Sehr schade, denn als ich vor zwei Stunden aufgestanden bin, sah alles nach einem perfekten Sommertag aus. Somit unterbrechen wir das Frühstück und verstauen in Windeseile unsere Habseligkeiten, um sie vor einem eventuellen Wolkenbruch zu bewahren. Ganz besonders das Zelt will ich diesmal trocken wissen, da wir uns noch nicht einig sind, ob wir uns in Brügge eine Pension suchen oder doch auf dem Campingplatz landen. Da bin ich mir bereits mit mir einig, dass ich in eine Pension möchte. Warte aber auf den richtigen Moment. Schließlich werden wir Brügge sicherlich nicht für nen kleinen Euro unterkommen. Trotz der Drohkulisse werden wir aber, zumindest für heute Vormittag, verschont und können nach erfolgreicher Packaktion unser Frühstück in Ruhe beenden.

Auf dem Weg nach Brügge gehts durch die Pappelkathedrale – vermutlich unsere eindrucksvollste Strecke

Die Tour habe ich heute das erste Mal nur nach den angegebenen Knotenpunkten in der Niederlandenkarte geplant. Das bedeutet, ich kann mir auf der Karte den Ort heraussuchen, den ich ansteuern möchte und schreibe mir nur noch die Zahlen auf, die ich beim Fahren auf den Schildern vorzufinden hoffe. Diese fahren-nach-Zahlen-Strategie hat den Vorteil, dass wir immer abseits der Hauptstraßen radeln können und trotzdem diverse Orte durchqueren. Also eigentlich eine tolle Sache, die sich die Niederländer da ausgedacht haben. Der Nachteil ist, dass sich die Wege dadurch oftmals erheblich verlängern und wir mehr als einmal im Zickzackkurs durchs Land schlängeln, um stark befahrene Straßen zu vermeiden. Für eine entspannte Tour ist das fantastisch, wenn man aber die vom Navigationsgerät ausgerechneten Strecken mit den real gefahrenen Strecken vergleicht, schlägt das gern einmal mit 10 oder 15 Kilometern mehr zu Buche. Die heutige Strecke sollte laut Navi 62 Kilometer betragen, es werden dann aber insgesamt 79. Ach, was solls. Kurven wir eben im Kreis ums eigentliche Ziel… Ist übrigens DER Bringer, wenn’s richtig heiß ist – oder es aus Eimern gießt. Knaller. Hat man nach der Tour alle Sympathien / die Bewunderung / das Mitgefühl aller auf seiner Seite, soviel ist mal sicher. Ich höre schon die wohltuenden Kommentare a la „Ach du Scheiße!“ und „Echt jetz? Boah, ihr Armen.“ und „Also, ich wäre ausgeflippt!“ 

Als sich nach einigen Kilometern auch noch Mary und Robert per sms melden, die uns in einem laut ihrem Navi von uns zu durchquerendem Ort mit uns treffen wollen, muss ich ob des zusätzlichen Umweges leider passen. Es ist zwar erst der zweite Fahrtag nach dem Ruhetag, aber die uns inzwischen verfolgenden abendlichen Regengüsse beginnen mich langsam mürbe zu machen und so möchte ich nach Möglichkeit einen weiteren Zwischenstopp zum Ziel vermeiden. In uns beiden kommt gelegentlich das Gefühl hoch, dass der jeweils andere gar nicht so unbedingt nach Brügge will und wir alle möglichen Vermeidungsstrategien entwickeln, nur um noch ein bisschen langsamer voranzukommen und somit die Tour noch ein bisschen auszudehnen. Für mich ist das natürlich völliger Quatsch und auch meine Tina reagiert auf meine diesbezügliche Bemerkung mit gleicher Heftigkeit. In Wahrheit muss ich zugeben: Das ist hier der letzte Tag der Pflicht. Danach kommt die Kür und bei Dingen die über 100% gehen, bin ich nicht sonderlich gut. Erkenntnis des Tages: Zusammen das erste gemeinsame, große Ziel zu verfolgen, ist wunderbar und aufregend. Gemeinsam kurz vor diesem Ziel zu stehen, verunsichert.Einen weiteren Nachteil hat der heutige Zickzackkurs übrigens auch noch. Wir haben Wind aus Nord-Nord-West. Das bedeutet, dass der Weg nach Brügge, der sich auf direkter Line in Richtung Süd-West befindet uns keine Probleme machen würde. Dieses Zickzack führt uns allerdings abschnittsweise auch gern einmal in Richtung Norden, um uns ein paar Kilometer später dann wieder nach Süden und Westen zu leiten. So kommt es, dass sich langsame und kräftezerrende Passagen mit leichten und entspannenden Abschnitten abwechseln. Klar, den ganzen Tag Gegenwind zu haben ist Mist, aber immer wieder Kraft mobilisieren, dann pausieren und wieder Gas geben, ist für mich noch anstrengender. Es ist ein bisschen wie bergauf und bergab, und am Ende biste dann doch wieder auf der gleichen Höhe. Nix geschafft und trotzdem platt. Gegenwind gehört auch zu den unerfreulichen Zutaten dieser Tour, die in dem Moment echt übel sind. Aber mit ein bisschen Abstand stolz als Hürde gesehen werden, die gemeistert wurde. Ich sage nur, Teuteburger Wald. Dennoch kommen wir heute gut voran und fahren ein Teilstück lang sogar auf einem Deich, der die Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien symbolisiert. Ein Dorf belgisch, ein Dorf niederländisch, die Kuh links ist Belgierin, das Schaf rechts Niederländer und Alles und Jeder, der uns auf dem Weg begegnet, gehört nirgendwo hin. Hier sind selbst wir einige Kilometer lang staatenlose Europäer, ohne wirklich zu spüren, wie frei von Gesetzen und Regeln wir eigentlich gerade sind. Verdammt, hätte ich das bloß in dem Moment realisiert. Ich hätte glatt … ok, vergiss es. Hätte ich sowieso nicht. Einen letzten rein niederländischen Stopp machen wir dann doch noch in einem kleinen Dorf, in dem uns eine uralte Wirtin Apfelsaft und Kaffee verkauft. Was im Übrigen der letzte Laden mit günstigen Preisen dieser Tour sein wird… Nur mal so am Rande, denn gemerkt haben wir das natürlich in diesem Moment auch nicht.

Als im nächsten Ort auf einem Radwegschild das erste Mal Brügge ausgewiesen ist, gibt es kein Zurück mehr. Ab jetzt sind wir endgültig auf der Zielgeraden, und da es erst kurz nach 14 Uhr ist, gibt es auch keinen Grund die letzten 20 Kilometer nicht mehr zu fahren. Ab jetzt geht alles ganz leicht. Noch ein kleiner Spurt entlang einer Hauptstraße und dann biegen wir auf einen Radweg an einem Kanal entlang ab, der uns das letzte Stück erheblich versüßen soll. Eigentlich sind es zwei Kanäle nebeneinander, komplett mit Pappeln bepflanzt. Tina drückt ihre Begeisterung mit den Worten: “Wie in einer Kathedrale!” aus. Mathe ist ein Arschloch und im Abschätzen von Höhen / Distanzen generell bin ich eine Doppelnull. Also, ohne es wirklich zu wissen, möchte ich schwören, dass das die längste Pappelallee der Welt ist. Einfach nur u n f a s s b a r! Was sich in seiner majestätischen Schönheit vor uns in kilometerlanger Pracht zeigt, lässt sich nicht wirklich auf einem Foto bannen. Ich drehe eines der wenigen Videos dieser Reise, in der Hoffnung, dieses Gefühl von Ehrfurcht zu Hause vermitteln und vor allem, mich immer wieder in den Moment hineinversetzen zu können. Eine letzte Kurve und wieder ein wundervolles Stück an einem Kanal lang und schon sind wir in Brügge. Der Weg war genauso toll wie Brügge beim Einfahren unspektakulär ist. In den Vororten weist nichts auf die Schönheit hin, die uns wenig später schier den Atem verschlagen sollte. Immerhin, hier schienen die Menschen deutlich interessiert an uns Reiseradlern zu sein. Denn bereits ein paar Kilometer vorher fuhr ein Rennradfahrer dicht an mich heran und fragte mich nach Herkunft und Ziel, konnte nur ungläubig staunen, dass wir die gesamte Strecke mit dem Rad und dem Zelt gemeistert haben.

In Brügge selbst fragt mich ein junger Mann, woher wir kommen. Ich sage aus Potsdam. Er schaut verständnislos und schüttelt den Kopf. Ich sage, aus Deutschland. Ein verstehendes Lächeln und er fragt eine Reihe von ihm bekannten deutschen Orten ab. Ob wir vielleicht aus Freiburg kommen. – Nein, Potsdam. – Frankfurt vielleicht? – Nein, Potsdam. – Duisburg, Köln, Hannover, Münster, Stuttgart? Nein, Potsdam bei Berlin. – Berlin? Hmm, hat er auch noch nicht gehört.
Nun bin ich dran mit der Sprachlosigkeit. Berlin, das ist die Hauptstadt von Deutschland! Aber es hilft nichts. Sagt ihm nichts. – Hamburg vielleicht? Mir geht die Puste aus. Ich lächle ihn an, und meine, Berlin sei an der Grenze zu Polen. Jetzt schaut er bewundernd. Wir erreichen Brügges äußere Ausläufer, kurz vorm innerstädtischen Ring und schon beginnt das Mittelaltermärchen. Unseren ursprünglichen Plan, per Deppenzepter ein entsprechendes Foto zu machen, haben wir vergessen. Es gibt zuviel zu sehen. Als wir dann endlich im altertümlichen Kern von Brügge ankommen, überfordert mich die Situation schlichtweg. Tausende von Touristen. Ein Café jagt das nächste. Hotels und kleine Läden mit Andenken, Pralinen und sonstigem Gedönst, soweit das Auge reicht. Skulpturen im Rahmen der Triennale. Ich mag es ja persönlich nicht so gern, wenn es irgendwo sehr voll ist und Brügge ist an diesem Nachmittag für mich ziemlich voll, wenn auch noch erträglich. Wir stoppen auf dem Burgplatz und Tina besorgt uns zur Feier des Tages erst einmal eine richtige belgische Waffel mit Obst und Sahne. Ich, die sämtliches Touri-Gehabe immer lautstark abgelehnt hat, kann nicht widerstehen und gehe zu dem mobilen Waffelverkäufer, der mit vier eckigen Waffeleisen gleichzeitig hantiert. Davon ausgehend, dass es höflicher ist, die Bestellung in Englisch aufgeben, bitte ich um etwas ganz besonders. Er verkauft mir eine Waffel mit Erdbeeren und Sahne und ich bestellt eine zweite, für Christian, mit Banane und Schokolade. Macht 14 Euro, die ich ohne zu schlucken bezahle. Und während ich warte, stellt sich der Waffelverkäufer als Sprachgenie heraus. Er plaudert in spanisch, portugiesisch, italienisch, französisch, schwedisch, englisch sowieso und – in deutsch. Als wir später unsere Leckereien aus purer Verzweifelung mit unserem Campingbesteck genießen, versuchen wir hochzurechnen, was der Waffeldealer wohl täglich verdient – uns bleibt die Waffel beinahe im Hals stecken.

 

Gesünder wäre sicherlich ein Zitronenwasser gewesen. Gab’s auf dem Marktplatz in Brügge aber nicht

Plötzlich kommen in mir gemischte Gefühle hoch. Einerseits ist die Tour hiermit geschafft. Wir haben uns ein Ziel gesetzt und dies ohne ernsthafte Schwierigkeiten als Team, als Paar erreicht. Wir haben uns mehr als einmal durchgebissen und Hürden überwunden, von denen wir vorher nichts geahnt haben. Anderseits, was kommt nun? Wie wollen wir diese Erfahrung noch steigern? Denn nach exakt 3 Wochen und 1122 Kilometern ist die Tour hier und heute eigentlich vorbei. Ein emotionales Chaos in mir lässt mich Brügge zum Zwischenziel degradieren. Nein, das ist nicht das Ende der Tour. Amsterdam ist das Ende! Aber – bin nicht ich auch derjenige, der ständig mahnt, dass man eben auch mal begreifen muss, wann genug genug ist? Während wir also die Waffel mümmeln, erkläre ich, dass ich hier in Brügge schlafen möchte, nicht irgendwo auf dem Zeltplatz, fünf Kilometer entfernt. Wir suchen und finden ein „Luxury Hostel“, das mit 84 Euro die Nacht ein echter Schnapper ist. Man kann nämlich locker auch 1300 Euro für eine Nacht bezahlen.
Ich grüble noch ein bisschen, während wir den Weg zu unserem Hostel suchen und als endlich unser allabendlicher Regen einsetzt, beschließe ich: Egal! Jetzt sind wir erst einmal hier. Egal, ob es das Ende der Reise ist oder nicht. Aber es lässt sich nicht verhehlen, ich bin erleichtert und angespannt zu gleich…

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 14 – von Wesel nach Altfeld



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 14- von Wesel nach Altfeld

Superlative. Wer hat die eigentlich erfunden? Und: Wozu braucht es die noch mal genau? Ja, richtig, um den Größenwahngeiern eine Plattform zu bieten. Damit die dann später angeben können: Ich fraß das größte Schnitzel. Ich habe den größten Wohnwagen oder eben: Ich war auf Deutschlands größtem Campingplatz. Der liegt übrigens auf einer Insel mitten im Rhein und ist so überflüssig wie ein Kropf. Wir könnten jetzt natürlich mit Zahlen, Daten, Fakten um uns werfen – aber mal ganz ehrlich, wen interessiert es, ob Jürgen Ich-bin-der-König-von-Mallorca-Drews und diverse DSDS-Nasen hier ihre nichtssagenden Schlager trällern?
Ok, Preismäßig ist der Platz Grav-Insel mit seinen 2000 Stellplätzen (in Worten: Zweitausend! Absurd!) bislang ungeschlagen: Gerade mal 11 Euro hat uns Bernd mit dem trocken-herzlichen Humor pro Nacht berechnet. Duschen kostet nicht extra. Trotzdem verweigere ich am Morgen nach einer ungemütlichen Nacht auch hier den geplanten Ruhetag und Christian ist mehr als einverstanden. Es ist stürmisch, kalt. Um meinen Schlaf nicht zu stören, sitzt mein tapferer Navigator bei gefühlten Minusgraden im Vorzelt, plant unsere nächste Etappe. Ich habe die Augen noch nicht ganz auf, als ich ihn anranze: Hier bleibe ich nicht, wir fahren. Wer ist schon zu liebevoller Kommunikation in der Lage, bei 11 Grad, grauem Himmel, Sturm und dem Wissen, dass die Toiletten knapp 350 Meter entfernt sind? Und wenn du duschen willst, brauchst du entweder flotte fünf Minuten zu Fuß oder fährst eben 504 Meter mit dem Rad – und wir sind im vorderen Drittel des Campingplatzes. Nur, um noch mal zu veranschaulichen, von welch irrsinnigen Dimensionen wir sprechen. Der Frust speist sich aus dem Wissen, dass dies nun schon der zweite Platz ist, der für die dringend notwendige Erholungsphase, sprich für einen entspannten Ruhetag, nicht taugt. Jammern hilft nicht. Ruff uff den Drahtesel und ab geht er, der Peter. Aller guten Dinge sind schließlich drei. (Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Campingplätze hierzulande sind. Inzwischen haben wir geglaubt, alles schon einmal gesehen zu haben. Aber weit gefehlt. Wesel ist in allen Belangen EXTREM. Im Gegensatz zu Tina war ich als Kind nie campen, kann mich aber sehr gut an die teilweise sehr einfache Ausstattung in Osteuropa erinnern. In Wesel sind die Duschen groß genug, um mit dem Elektrorollstuhl hineinzufahren, was wahrscheinlich den Bedürfnissen deutscher Camper zunehmend gerecht wird. Aber besser wird der Campingplatz dadurch auch nicht. Hier ist eine Kleinstadt in der Nähe einer inzwischen fast unbezahlbaren Stadt gegründet worden. Und das, obwohl die Lage im Rhein durchaus nicht die beste zu sein schein. Immer wieder gab es im Laufe der Bestandszeit Überflutungen und der für uns zuständige Platzwart lächelt lediglich, als wir ihm gegenüber den Wind ansprechen und meint ¨Das ist hier immer so¨. Nein, für einen Ruhetag taugt dieser Platz absolut nicht und ich beginne mich zu fragen, warum so viele Menschen in diese Slums ziehen.)
Eigentlich wollen wir uns die 11 Euro für die zweite Nacht und die drei Euro für das nicht genutzte WLAN zurückholen. Drei Euro für 24 Stunden – das muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Wie finanzieren das eigentlich die Dauercamper? Blöderweise sitzt an diesem Morgen nicht unser neuer einbeiniger Freund (er hat einen Bruder und der wohnt in Potsdam. So was verbindet in der Fremde natürlich ungemein) in der Schaltzentrale. Ein brummeliger (weil übermüdeter?) Zausel um die 68 verweist auf die Verwaltung, die aber erst 17 Minuten später besetzt wäre. Zu gereizt, um bis 10 Uhr zu warten, beschließe ich den Aufbruch – ohne Diskussion.

Eigentlich müssten wir jetzt zurück nach wie-heißt-der-Bürgermeister-von-Wesel?-Esel!-Wesel, um dann weiter fahren zu können. Ach, man muss dem geliebten Routenplaner nur mit sanfter Bestimmtheit erklären, dass man überhaupt gar keinen Bock auf die sieben Kilometer zurück hat, als Totschlagargument wirkt wilder Rückenschmerz ja sowieso immer und wenn man dann mit einem grimmigen Gesichtsausdruck andeutet, dass die Stimmung sowieso kurz davor ist, in den Abgrund zu stürzen, da taucht aus dem Nichts eine Fähre auf, mit der man über den Rhein setzen kann. Na, also. Geht doch. 

Heftiger Gegenwind, grauer, wolkenverhangener Himmel, kleinköpfige Margeriten, die sich rechts und links neben dem historischen Postdeich biegen, dem Plüstern sich entgegenstemmende, frisch geschorene Schafe, kaum weitere Radler und – Hunger. Es gab nicht mal Tee, weil? Richtig, weil’s zu stürmisch ist. Eine Zumutung, jawohl! Eine Zumutung, nach all den wunderschönen, sonnigen, entspannten Touren. Eben war noch Sommer, jetzt ist schon wieder Herbst? Ja, was stimmt denn mit dem Wetter hier nicht? 


Als wir gefühlte 20 Kilometer später endlich die Fähre erreichen, hält gerade ein Golf mit Fahrradanhänger. Quietschfiedele Grauköpfe – vier Pärchen – schnattern fröhlich durcheinander, freuen sich auf ihre Tagestour, und während die Herren der Schöpfung die Räder vom Hänger hieven (natürlich nur schicke E-Bikes), übertrumpfen sich die Damen gegenseitig mit ihren für den Tag vorbereiteten Verpflegungsboxen. Meine Laune sinkt derweil ins Bodenlose. Die Fähre fährt täglich – außer Donnerstags. NATÜRLICH ist heute Donnerstag. Ich fasse unser Pech nicht und bin zu frustriert, um mehr als “Das kann ja wohl nicht wahr sein, so eine verdammte Scheiße!” in unterschiedlicher Intonation von mir zu geben. Christian ist ebenfalls angesäuert. Einzig die holländische Reiseradlerin nimmt es mit Gleichmut und fährt dann eben denselben Weg zurück, den sie vor wenigen Minuten gekommen ist. Unter den Senioren bricht Gelächter aus und der offensichtliche Organisator gesteht munter ein, da hätte man sich wohl besser erkundigen sollen. Verdammte gute Laune! Wir dagegen finden, sowas gehört großformatig entlang des Radweges als Infotafel aufgestellt. Am besten schon ab Wesel.
(Und hier muss ich zugeben: Auch ich hätte mich natürlich erkundigen können und sollen.)

Wir treten also den Rückweg in die unsympathische Stadt an. Ich bleibe sechs bis zehn Fahrradlängen hinter Christian, um mich ausgiebig in wütendem Selbstmitleid zu suhlen. Es ist der 14te Tourtag, der 12te Fahrtag und ich bin mal wieder sauer. Sauer auf das Wetter, die Rückenschmerzen, die Kamikaze-Autofahrer, die schlechten Radwege, kurz, aufs Leben. Hilft aber nix. Von alleine geht’s nicht von Wesel zum nächsten Campingplatz. Da hilft nur treten. Gleichmäßig, ohne noch darüber nachzudenken. Inzwischen sind wir seit echten 20 Kilometern unterwegs. Entschuldigung – ich bin Diabetikerin! Ich brauche was zu essen! (Sage ich natürlich nicht laut. Das wäre zu einfach!) Obwohl ich ziemlich sicher weiß, dass meine schlechte Stimmung in einer wenigstens zehn Quadratmeter dichten, dicken Wolke um mich herumwabert, und damit auch Christian einhüllt, fällt mir nix ein, sie aufzulösen als unfreundlich zu granteln, dass ich nicht mehr kann und was essen muss. Der nächste Discounter ist unserer.
Auf einem unbelebten Marktplatz zwischen zwei Kirchen finden wir eine Bank in der Sonne und stopfen schweigend Brötchen und Aufschnitt in uns rein. Es ist 12 Uhr, die Temperaturen sind endlich wieder so, wie wir es mögen und ich erkenne einmal mehr: Essen hebt die Stimmung. Mein Christian legt schweigend den Mantel der uneingeschränkten Liebe und Toleranz über meine Miesepetrigkeit, wir sind uns einig, dass man in diesem Städtchen eigentlich nur an Langeweile ersticken kann und pfeifen großzügig auf unsere Arroganz, die wir immer dann an den Tag legen, wenn wir nicht so wirklich gut drauf sind. Und heute Vormittag sind wir einfach mal richtig schlecht drauf.

Das bleibt auch noch einige Kilometer so. Dann biegen wir auf die Zielgrade des heutigen Tages – eine Landstraße, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat -, und stoppen. Mai ist nämlich eine prima Zeit, wenn man auf Kindchen Schema geprägt ist. Und wenn einer das ist, dann icke. Und zwar uneingeschränkt, ohne Wenn und Aber. Küken, Fohlen, Lämmer, Kälbchen – sie alle sind uns über den Weg gehopst, gestolpert, gewackelt und gestakst. Kurz vor dem Ziel – Campingplatz Altfeld – stoppt Christian. Er kennt mich. Er weiß, was meine Laune schlagartig hebt. Und wenn es schon kein Hund ist, der sich streicheln lässt – die drei Kälbchen zaubern mir ohne Anstrengung ein verzücktes Lächeln ins Sonnenbrandige Gesicht. Die drei – nennen wir sie der Einfachheit halber Justus, Bob und Peter – sind unendlich niedlich in ihrer kuhäugigen, langsamen Neugierde. Peter – komplett braun – geht zwei Schritte vor. Blick zu uns. Blick zu Bob und Justus. Einen weiteren Schritt. Halt. Bob – komplett weiß – stupst von hinten. Blick zu uns. Senkt den Blick, beginnt demonstrativ desinteressiert zu grasen. Peter dreht sich um zu Justus – schwarz-weiß gefleckt. Der geht seitwärts zum Zaun. Blick zu uns. Einen Schritt vor. Noch einen. Und noch einen. Kopf senken, grasen. Bob und Peter drängen sich an ihren Anführer. Der entscheidet sich für einen weiteren Schritt. Zuviel für Peter. Der macht einen kleinen Hopser und vergrößert den Abstand zwischen uns (mit abgerissen Grasbüscheln in den Händen und freundlichen Stimmen lockend). Bob beschließt sich Peter anzuschließen. Jetzt kann sich auf Justus nicht mehr durchringen, seiner Neugierde und vor allem seinem ewigen Hunger nachzugeben, und die dargebotenen frischen Gräser aus der Hand von zwei verschwitzten Reiseradlern zu fressen. 
Wir vergessen wieder einmal die Zeit und erfreuen uns an den drei Kälbchen, die tatsächlich wie Freunde wirken, die nichts ohne den anderen tun würden. Sie verlieren ihr Interesse und wir schwingen uns wieder in die Sättel. Ich zugegebenermaßen ganz glücklich. 

Dieses warme Gefühl soll sich weniger als eine halbe Stunde noch steigern. Als wir nämlich den Campingplatz von Siggi Hoppe erreichen, weiß ich sofort: Hier möchte ich unseren Ruhetag verbringen. Ach, naives Ding ich. Es ist Donnerstag vor Pfingsten, morgen wird der Swimmingpool eröffnet, das ganze Dorf freut sich schon. Diese winzigen Details überhöre ich – denn Marla hopst fröhlich auf mich zu und lässt sich sofort kraulen. Marla ist zwei, eine Appenzeller-Senn-Hündin, und wickelt mich schneller um den Finger, als ich verliebt seufzen kann. Ich will wieder einen Hund, denke ich in dieser Sekunde. Wieder so einen freundlichen, lustigen, fröhlichen Köter mit langen, seidenweichen Ohren. 

Siggi nimmt uns gerne für zwei Tage auf. Wir bekommen einen Platz neben einer Hütte zugewiesen, in der sich eine Küche inklusive Kühlschrank und eine Toilette befindet. Nur für uns. Ich bin begeistert und sicher – das wird ganz wunderbar. Mich kann nicht mal der ältere Herr schräg gegenüber, der seine zwei Quadratmeter Rasen akribisch mit dem Benzinrasenmäher auf Wimbleton-Länge stutzt, aus der Ruhe bringen. Und sobald das Zelt steht, fährt Christian in den nächsten Ort und frischt unsrer Lebensmittelvorräte auf. Ich bin auch nicht untätig und schreibe diesen Bericht. 

Ein opulentes Abendmahl, ein Spaziergang über das Gelände inklusive Erkenntnis, auch hier sind die Dauercamper von großer Kreativität, wenn es darum geht, ihre Eigenheime zu verbarrikadieren. Als es Zeit ist für den Schlafsack, bin ich mit dem Tag versöhnt. 

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 10 – Ruhetag



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 10 – Ruhetag

Eigentlich wollte ich an Ruhetagen über die vergangenen Fahrtage schreiben und nicht über den Ruhetag selbst. Da sich hier in Bad Rothenfelde jedoch trotz Sonntag und verordnetem Ruhetag das ein oder andere ergeben hat, vielleicht doch ein paar Kommentare. Der erste Regen der Tour und dann gleich ein Unwetter. Wir merken schon heute morgen beim Schreiben, dass sich etwas zusammenbraut. Außerdem steht noch etwas auf dem Plan, was ich gestern nicht umsetzen konnte: ein Bett. Denn auch in der letzten Nacht mussten wir im Zelt schlafen. Aber es gibt hier eine ganz neue und vor allem tolle Unterkunft, die aber in der letzten Nacht belegt war. Und zwar: Trommelwirbel… ein Fass! Richtig gehört, ein Fass. Aber mal von Anfang an.

Das bequem-romantische Highlight im Campotel: Die insgesamt vier Übernachtungsfässer.

Ganz Deutschland feiert heute Muttertag. Auch wir denken natürlich an unsere Mütter und übermitteln ihnen unsere Grüße per SMS. Allerdings läuft der Stimmungsmotor trotz des tollen Platzes, der netten Menschen und Begegnungen noch nicht wieder Hochtouren. Lieb untertrieben. Es läuft mehr als untertourig. Die Tour schlaucht einfach sehr und wir spüren unserer Körper geradezu aufdringlich. Wie ist eigentlich so ein Leben OHNE Rückenschmerzen und dem Dauergefühl, erschöpft und müde zu sein? Ich bitte um Verzeihung fürs lautstarke Lamentieren, aber man darf ja wohl darüber empört sein, auch nach mittlerweile über 700 gestrampelten Kilometern nicht müde genug zu sein, um wie ein Stein zu schlafen.
Also beschließen wir, als um 13:30 Uhr der Regen einsetzt, das Restaurant zum Schreiben zu okkupieren. Schnell richten wir uns ein (wie üblich chaotisches) Feldlager ein, bestellen uns leckeres Essen und beginnen mit der Schreiberei. Draußen wird der Regen immer stärker, was wir aber im Gewölberestaurant kaum zur Kenntnis nehmen. Tina war heute morgen nach dem Aufstehen gleich in der Rezeption, um ein Fass zu buchen. Der Preis schlägt mit 25 Euro/Nacht dem Fass auch nicht den Boden aus und wir hatten schon einen Campingplatz, da wollten die Betreiber das Gleiche für vier Quadratmeter harten Boden haben.

Die Welt geht unter und ertrinkt – unser Klingo-Castle trotzt Gewitter und Starkregen.

Draußen wir der Regen immer stärker… Drinnen setzt er zwischenzeitlich auch mal wieder ein. Ich sag nur: Übermüdung + Hormone + Hunger. Unsere freundlichen Bedienungen retten uns vor dem Hungertod und damit den kompletten Stimmungsabsturz. Nach gegrilltem Fisch an Salzkartoffeln und in Sauce Hollandaise ersäuften Bohnen schreibt es sich plötzlich viel leichter und beim abschließenden Megakniffel macht mir das verlieren nix aus. So beschließe ich mich einmal an der Rezeption nach der Bezugsfähigkeit unseres Fasses zu erkunden. Ein bisschen Verwirrung, da die Dame von heute Morgen in die Dame von heute Nachmittag gewechselt ist. Sie drückt mir einen Schlüssel in die Hand und sagt aber gleich, die Fässer sind von der letzten Belegung noch nicht gereinigt. Eventuell müssten wir uns die Bettwäsche selbst neu beziehen. Ich gehe zum Fass, schaue rein – sehr geil. Das will ich und wenn ich ich die Bettwäsche für heute Nacht erst selber häkeln müsste. Also stapfe ich durch den Regen zurück zur Rezeption, wo sich jetzt die Verwirrung gelegt hat und die liebe Helga Bartels mir einen Schlüssel für ein anderes, bereits gereinigtes Fass in die Hand drückt. Der Regen wird stärker.
Ich gehe zum neuen Fass Nummer 4 und bin genauso begeistert wie gerade eben. Nur eben mit sauberer Bettwäsche. Also gehe ich zurück und verkünde: ¨Gekauft, und ich zieh da nie wieder aus!¨ Der Regen wird noch ein bisschen stärker.

Chaos verbreiten wir auch im kleinsten Fass im Handumdrehen – ohne anstrengen.

Ich wandere zurück ins Restaurant, um Tina die frohe Botschaft zu verkünden und deute an, bei der nächsten Rauchpause unsere Sachen aus dem Zelt in das Fass zu räumen. Während ich noch 30 Minuten schreibe, wird der Regen noch stärker.

Draußen geht inzwischen die Welt unter. Die A2, das erfahren wir am nächsten Morgen, war wegen Überschwemmung mehrere Stunden gesperrt. Auch unserem Zelt und unseren Packtaschen droht der Ertrinkungstod, den Christian allerdings heldenhaft zu verhindern weiß. Und weil dieses ehemalige Waldkrankenhaus so genial konzipiert ist, kann man trockenen Fußes durch den halbkreisigen Bau vom Restaurant bis zur Rezeption wandeln. Großartig.

Aus der örtlichen Tageszeitung am folgenden Morgen – wir sind nur knapp dem Ertrinkungstod entronnen

Als ich endlich beginne die Sachen umzuräumen, kann ich vor Regen die 40 Meter entfernten Bäume kaum noch sehen. Nach zwei von acht Packtaschen bin ich klitschnass. Nach acht von acht ist mir unglaublich kalt. Nur die Vorfreude auf das heutige Bett hält mich überhaupt noch bei Bewusstsein! Also beschließe ich duschen zu gehen. Also gleich nach dem Schreiben… und dem Kniffeln und überhaupt wenn es aufgehört hat zu regnen. Gaaaanz in Ruhe sozusagen. Als wir dann gegen 20 Uhr unsere Zelte abbrechen: Regnet es –  nicht mehr.
Als ich am nächsten Morgen ins Zelt gucke, sehe ich, welcher nassen Nacht wir entgangen sind. Obwohl… Chance vertan, um auf einem Wasserbett zu schlafen. Der Regen, der uns kein einziges Mal während der Tour heimsuchte, fiel an diesem Ruhetag gesammelt. Während ich also im warmen und gemütlichen Gewölbekeller sitze und meine Sicht der Dinge schreibe, ersäuft mein geliebter Lebensmensch beinahe, ohne dass ich es auch nur ahne. Ja, es grollt ein bisschen gewitterig, aber tief unter der Erde, bei Weißwein Nummer zwei, ist das komplette Unwetterausmaß nicht mal zu erahnen. Was für einen unendlich fürsorglichen Mann ich an meiner Seite habe, weiß ich schon lange. Aber heute wird es mir einmal mehr bewusst, als er mich zu unserem Fass bringt: ALLE unsere Sachen sind sicher und trocken da, wo wir sie brauchen. Danke, Mister Lifeguard.
Lassen wir also mal Revue passieren. Die gestern von Tina ausgeschlagenen Übernachtungsmöglichkeiten wären alle keine wirkliche Option für einen Ruhetag gewesen. Hier kann man folgende Schlussfolgerung ziehen: Hör auf das Bauchgefühl Deines Weibes, wenn Du selber schon keines hast! Danke Tina, es war ein fantastischer Ruhetag.

Die Schlüsselgewalt übers Fässchen mussten wir nach einem Tag leider wieder aus der Hand geben.

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.

Tag 8 – von Rehburg-Loccum nach Porta Westfalica



Blog


Die Tour


Über uns


Impressum

Tag 8 – von Rehburg-Loccum nach Porta Westfalica

Bedauerlicherweise können wir uns am folgenden Morgen nicht von der quirlig-herzlichen Birgit verabschieden. Vermutlich streift sie mit ihrer weißen Schäferhündin durch die Wiesen vom Erlengrund, diesem verzauberten Ort, irgendwo im Nirgendwo. Es geht gleich mit einer Steigung los, die mich spüren lässt, wie erschöpft ich bin. Meine Oberschenkel scheinen sich in den vergangenen sieben Tagen verdoppelt zu haben, sind krachhart und mit meinem Hintern könnte ich inzwischen vermutlich Nüsse knacken.

Pollenhagen und sein Tante-Emma-Lädchen wie aus der Vergangenheit – einmal hin, alles drin.

Die härteste Nuss des Tages allerdings, die hat Christian zu knacken. Weil mich mitten im Wald, etwa acht Kilometer von Bückeburg entfernt, eine gigantische Erschöpfungswelle überschwemmt (wir erinnern uns – ich trage den Titel Dramaqueen nicht zum Spaß! Wer das nachlesen möchte: sehr ausführlich unter www.millas-Blick.de beschrieben). Auf einem nach Harz und Wärme und Sommer riechenden Holzstamm sitzend, heule ich mir die Augen aus dem Kopf. Weltschmerz. Lebenskatastrophe. Sinnesverzweiflung. Von Allem in großen Portionen. Oh ja, ich weiß sehr genau, wie ich einen perfekten Vormittag ruinieren kann. Ganz im Ernst: Blauer Himmel, Sonne und nicht mal der Hauch einer zivilisatorischen Störung. Nur absolute und unbedingte Stille. Lediglich durchbrochen vom zarten Summen einer Biene. Oder dem kurzen Tschilpen eines sorglosen Vogels. Und da, aus heiterem Himmel, ist sie da die große Panik vor – sucht euch was aus, liebe Gemeinde der 40+. Ohne das blöde W Wort zu bemühen: Steckt nicht in jedem von uns immer mal wieder ein bisschen Weltschmerz? 

Doch dann erreichen wir Pollenhagen. Ein kleiner Ort im Nirgendwo, verschlafen, wo scheinbar nur noch die Alten und die ganz Alten leben. Wo Anneliese mit einer Kollegin (vielleicht ist es ihre Schwester, vielleicht ihre Schwägerin. Wir haben es leider nicht rausgefunden) den kleinen EDEKA mit freundlichstem Fleiß täglich aufschließt. Frische Brötchen, frischen Aufschnitt, frischen Käse, aber auch Dosen- oder Tütensuppen, Kosmetikartikel und Keramika verkauft. Das, was früher als Tante-Emma-Laden bezeichnet wurde. Wir kaufen Brötchen und Aufschnitt und Christian fragt, ob er einen Kaffe haben kann. Was dann passiert, wird uns noch bis Ende der Tour als die Episode “Anneliese” in Erinnerung bleiben: Besagte Verkäuferin / Ladenbetreiberin verschwindet mit einem fröhlichen Lächeln hinter der Fleischtheke und taucht viele Minuten später mit einem Becher Kaffee in der Hand auf. Frisch aufgebrüht. Bezahlt haben wir 1 Euro (in Worten einen). Und während Christian noch an der Fleischtheke wartet, komme ich mit Annelieses Kollegin ins Gespräch. Sie verkauft mir eine Schachtel PallMall ohne Zusätze, ich fühle mich bemüßigt zu betonen, dass die Kippen nicht für mich sind, weil ich nämlich vor 5 Kilo aufgehört habe zu rauchen, und sie erzählt mir mit einigem Stolz, dass sie nie geraucht und deswegen auch nie Gewichtsprobleme gehabt hat. Sie hat früher Konfektionsgröße 34 getragen und jetzt, mit Ende 50, tut sie es immer noch. Naja, so genau wollte ich es dann eigentlich doch nicht wissen.  

Warten auf den Kaffee zum Mitnehmen. Frisch aufgebrüht und trotzdem nur 1 €

Ich frage beim bezahlen, ob wir mit unseren Brötchen und dem Kaffee auf der kleinen Mauer vor dem EDEKA sitzen und frühstücken dürfen. Wir dürfen. Mit dem 1-€-Kaffee, zwei Brötchen für jeden mit Aufschnitt sitzen wir also auf der Mauer, auf der Lauer und fühlen uns ein bisschen wie im Kino: Heinz kommt in seinem dicken Mercedes aus den späten 90er Jahren und hält direkt vor dem Fenster neben dem EDEKA. Das Fenster öffnet sich, ein Mann jenseits der 80 guckt raus und dann wird erst mal ausgiebig gesprochen. Leider zu leise, um zu verstehen, worum es geht. Eine voluminöse Frau, von der wir nicht wissen, ob sie die Mutti oder die Omma von der etwa 4-Jährigen an ihrer Hand ist, stellt fest, dass der kleine blonde Fratz seine Trinkflasche hat fallen lassen. Die ist unters Auto gerollt. Keine 10 Zentimeter von der Beifahrertür entfernt. Wir sehen sie. Mutti (oder Omma, wer weiß es schon so genau) sieht es auch und handelt. Nein, sie kniet nicht nieder, um mit ausgestrecktem Arm die Flasche zu angeln. Nein. Sie steigt ein, fährt vor, steigt wieder aus, hebt die Trinkflasche auf, putzt den Schnuller an ihrer wallenden Hemdbluse ab, öffnet die hintere Tür, reicht dem Kind die Flasche, steigt vorne wieder ein und fährt. Ja. Genauso ist es gewesen, in Pollenhagen, Mittags gegen 13 Uhr.

Bei aller Fröhlichkeit und Abenteuerfreude: Tag für Tag um die 100 Kilo Gewicht nur Kraft seiner Beine von A nach B zu transportieren, ist nun mal kein Urlaub. Wir reden hier nicht ausschließlich von Tina, sondern noch von Fahrrad und Gepäck. Den haben mir übrigens viele Freunde und Bekannte gewünscht: Einen schönen, spannenden Urlaub. Nein, liebe Daheimbleiber und treue Blogleser. Eine Radtour wie diese ist kein Urlaub im klassischen Sinn, auch wenn sie viele klassische Elemente enthält. Sich Tag für Tag zu motivieren, seine körperliche Belastbarkeit auszutesten, wahlweise zu überschreiten, ist eine Grenzerfahrung, wie zumindest ich sie noch nicht in der Form erlebt habe. Ich bin versucht, es klein zu reden, fürchte allerdings Christians Tadel und gestehe deswegen: Die Tour ist arschanstrengend. Und ich rede an dieser Stelle nicht von den Naturgewalten wie Gegenwind, knallende Sonne, Steigungen, die mich an die Kotzschwelle bringen. Auch nicht die zum Teil unfassbar rücksichtslosen Autofahrer, die schlechten Radwege, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Nein, es ist das Alleinsein mit sich und seinen Gedanken, die Tango tanzen und sich nur schwer in Zaum halten lassen. Da können schon auch alte Geschichten von Verrat und Verlassenwerdens hochkommen, die Wut auf Freunde, die keine mehr sind, die Trauer über Verluste. Ja, es ist tatsächlich nicht nur spaßiger Luxus, so viel Zeit für sich selber und seine Gedanken und Erinnerungen zu haben. Was aber nicht bedeutet, dass ich bislang auch nur eine Minute / nur einen gefahrenen Kilometer bereue.


Der Frustanfall dauert eine knappe halbe Stunde – dann muss einfach Schluss sein, wir haben keine Taschentücher mehr übrig und auch das Klopapier wird knapp. Christian lenkt meine Gedanken auf einen Mistkäfer und es dauert ziemlich lange, bis ich begreife, worauf er hinauswill. Mit verquollenen Augen und dem wilden Wunsch, mich nicht von meinen Emotionen und Ängsten ernsthaft aus der Bahn werfen zu lassen, treten wir in die Pedale, erreichen nach 3:42 Stunden reiner Fahrzeit und 59,11 Kilometer den Campingplatz Weserbogen um 16.10 Uhr. Bauen unser Zelt auf, räumen es ein – und die zweite Erschöpfungswelle droht mich ohne Rücksicht auf Nachbarn in ihren Zelten und Wohnwagen zu ersäufen wie eine kleine Katze im Sack eines gefühlskalten Bauern. Es hilft nichts – außer aushalten. Und hoffen, dass der nächste Tag besser wird. Gute Nacht, böse Gedanken.
Ich denke, ohne es genau zu wissen, Tina erlebt gerade das Gleiche wie viele andere, die eine beschwerliche Pilgerreise wagen. Im Alltag verdrängen wir böse Gedanken und verstecken sie unter allerhand Beschäftigung. Um unsere eigenen Probleme nicht thematisieren zu müssen, stürzen wir uns manchmal leidenschaftlich auf die Probleme der Anderen. Das alles geht hier nicht. Beim Touren bin ich dazu gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, denn Gespräche beim Fahren sind zumindest auf öffentlichen Straßen kaum möglich.

Herzlich Willkommen

Zur chaotisch-schönen Radreise des Klingo-Castle Teams. Begleite uns durch eine aufregende Berg und Talfahrt von Potsdam über Brügge nach Amsterdam.

Aktueller Status:

  • Unterwegs
  • Couch

Hier schreiben:

TINA

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.

Christian

siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Tinas Text.