Tag 12 – von Senden nach Haltern am See



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Tag 12- von Senden nach Haltern am See

Ah! Was für ein Luxus. Schon zwei Nächte in einem richtigen Bett = keine Rückenschmerzen. Ich gewinne fast meine alte Fröhlichkeitsform zurück und genieße unser Ponderosa-Frühstück, das inzwischen aus Fünf-Korn-Müsli mit Trockenfrüchten und Joghurt besteht. Die Nacht im einzigen Gartenhaus mit überdachter „Terrasse“ war erholsam, die heutige Etappe ist ein Klacks. Die geradezu lächerlichen 50 Kilometer bis nach Haltern am See, wo eine meiner langjährigsten und liebsten Freundinnen aus Studienzeiten seit sechs Jahren lebt, werden wir auf einer Arschbacke abradeln. Und obwohl meine an der Uni Bochum unterrichtende Freundin eigentlich überhaupt keine Zeit hat, will sie sich mit uns treffen und hat uns im Vorfeld zwei Campingplätze in fünf Kilometern Entfernung von ihrer Wohnung vorgeschlagen.

Dezente Hinweise auf ein frisch verheiratetes Paar können schon auch erschreckend sein.

Wir lassen uns an diesem Morgen viel Zeit, verbummeln quasi den Vormittag und verlassen erst um 11.30 Uhr den Kranencamp, nicht ohne noch einen kleinen Spaziergang zum „Hafen“ zu machen. Einmal mehr sind wir uns einig: Dauercampen mit Gartenzwergen, Benzinrasenmäher für vier Quadratmeter Rasen und in der Nacht blinkenden Leuchtturm vorm kiesgestreuten Vorplatz können weiterhin gerne die anderen. Wir im Leben nicht. Soviel ist inzwischen klar: Dauercamper im Münsterland unterscheiden sich nicht mal im Ansatz von denen in Niedersachsen. Außer, dass sie ein klitzekleines bisschen redseliger sind und einen charmanteren Akzent haben. Blöd nur, dass uns allmählich das Lästerpotenzial ausgeht, wollen wir uns mit unseren spöttisch-ratlosen Bemerkungen nicht ständig wiederholen. In größter Entspannung packen wir zusammen und verlassen mit guten Wünschen für unsere Reise den Platz.
Die heutige Strecke ist wenig aufregend. Der größte Nervfaktor der erste Mückenstich auf dem rechten mittleren Zeh. Nach entspannten zwei Stunden und 45 Minuten Fahrzeit erreichen wir den Jugendkreiscampingplatz, 5,5 Kilometer vor Haltern Am See. Es ist immer wieder faszinierend, wie schnell Menschen unangenehme Ereignisse verdrängen. Jup, haste Recht, die Fahrt war schon entspannend, zumindest ab dann, als wir sie endlich beginnen konnten. Senden hatte nämlich keinesfalls vor, uns einfach so abreisen zu lassen. Die Stadt ist ein einziger riesiger Kreisverkehr mit 1000 Kindern, die allerdings alle ¨in der Fertigstellung¨ sind. Fahrtechnisch Chaos pur! Wir haben geschlagene 45 Minuten gebraucht um einen Ausweg in die richtige Himmelsrichtung zu finden. Aber zurück zum Kreisjugendzeltplatz.

Es gab Gerangel um den besten Uferplatz mit einer kleineren Entenfamilie. Zu sehen sind hier die Sieger

Ohne groß Spannung aufzubauen und ihn zu beschreiben: Er ist gruselig. Verlassen. Ver-und runtergekommen. Verwaist. Er lässt mich frösteln. Egal, was Christian sagt „Ist doch nur für eine Nacht¨, egal, wie nett die studentische Aushilfskraft ist („Die Stadt verlängert nach 15 Jahren die Pacht nicht mehr; obwohl wir protestiert haben, müssen wir hier abbauen. Der Platz wird dichtgemacht, vermutlich werden sie hier Wohnungen bauen.“) – auf diesem Friedhof bleibe ich keine Sekunde länger als nötig. Wieder mal gibt mir mein Bauchgefühl recht. Denn keine zwei Kilometer weiter werden wir mit rheinländischer Freundlichkeit – laut, kodderig, herzlich – auf dem seit über 50 Jahren existierenden Campingplatz Hoher Niemen begrüßt. Wir fahren weiter zur Anmeldung, aber am Verwaltungsbau, der auch schon bessere Tage gesehen hat, hängt nur ein Zettel mit Handynummer. Dann eben erst mal eine Tüte Pommes. Wir gehen zurück zum Imbissstand, wo der glatzköpfige André aus Bochum vor wenigen Tagen das Küchenzepter übernommen hat und voller Elan und Pläne für die Zukunft kulinarische Abwechslung in den Alltag der 200 Dauercamper bringen will. Mit Dönerspieß, asiatischem und griechischem Abend, und überhaupt ganz groß. Das Merkwürdige ist nur, dem Kerl nimmt man das ab. Der macht das wirklich. Und auf einem Campingplatz, auf dem 300 Dauercamper leben, könnte das Konzept sogar wirklich funktionieren. Wir wünschen ihm jedenfalls das Beste. Am Biertisch schräg neben dem Wagen sitzen drei Kerle, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Der eine, Gesicht wie eine Bulldogge und genauso ein Gemüt, im Feinripp über der Wampe, blinzelt neugierig durch eine Brille. Seinen beiden klapperdürren Kumpel möchte ich am liebsten die Bierpullen wegnehmen und sie stattdessen mit hochkalorischem füttern und vorher noch zum Zahnarzt schleppen. Die drei Bierbrüder lassen es sich nicht nehmen, uns mit ungefragter Selbstverständlichkeit sofort zu helfen, indem sie beim Platzwart anrufen. Wir bestellen bei André jeder eine Portion Pommes Schranke (Ketchup-Majo, für den Nicht-Rheinländer), während uns einer der dürren Zahnlosen erklärt, wo wir unser Zelt aufstellen sollen. Und wenn bis morgen keiner zum kassieren kommt, sollen wir einfach so wieder fahren. Diese Schlitzohren hauen sich vor Begeisterung auf die mageren Schenkel, das Bulldoggengesicht grinst breit und wir fühlen uns so vorurteilsfrei und freundlich willkommen, wie bislang noch nicht. Während wir unserer Pommes kauen und mit André plaudern, als kennten wir uns schon seit Jahren, kommt Jörg-ich-hab-heute-eigentlich-frei auf seinem Roller, einen blonden 14-Jährigen als Beifahrer. Jörgs muskulösen, tätowierten Arme, sein Bart, sein langer Zopf unter dem Basecap erinnern mich wieder mal daran, dass ich diese Motorradtypen gut leiden kann. Ähm Motorradtyp? Unbedingt. 50iger Roller ist auch nur was für echte Kerle. Jörg wirkt im Gegensatz zu den drei Biertischlern beinahe schüchtern. Ist aber von gleicher entwaffnender, offener Herzlichkeit. Er verlangt lediglich 12 Euro – „Duschen kostet nix. Kannst so lange heiß duschen, wie du willst.“ – und nimmt uns das Versprechen ab, uns zu melden, wenn irgendwas ist.

André aus Bochum ist der neue Imbissbudenpächter und hat große Pläne.

Wir bauen unser Zelt zwischen einem dunkelrot blühenden Rhododendronbusch und einem Wohnmobil aus Bielefeld auf, ich rufe meine Freundin an und wir verabreden uns für 17.15 Uhr auf dem Marktplatz von Haltern Am See. Zwei Stunden Zeit, um ein bisschen mit dem Bielefelder Dauercamper zu plaudern, dessen Frau aus Haltern stammt und die regelmäßig hierherkommen, es sich finanziell aber nicht leisten können, hier zu wohnen. Wir bekommen Tipps, wie wir am besten Richtung Brügge fahren, wo wir im Industriegebiet unser Kochgas nachkaufen können. Zwei Stunden Zeit, um zu duschen und sich einigermaßen „stadtfein“ zu kleiden. Endlich kommen Wimperntusche, Lidschattenstift und Augenbraunpuder zum Einsatz. Scheinen aber keinerlei Wirkung zu haben – Christian bemerkt die sanfte Restaurierung nicht und meine Freundin staunt sowieso nur über unsere dunkelbraune Gesichtsfarbe. Wenn das man kein gelungener Bluff ist: Erholt aussehen, obwohl man’s nicht wirklich ist. Aber mein Schatz, natürlich merke ich nichts! Ich bin dann letzten Endes doch nur ein Kerl. Du merkst ja auch nicht, welche Sorte von Öl ich an den Pfoten habe. Überhaupt staune ich, dass ich so unprätentiös und uneitel sein kann und mich trotzdem beinahe wohl fühle. Ehrlich gesagt ist es mir egal, dass ich klobige Treckingschuhe in verschmutztem Grau, statt luftige Sandaletten zu einem meiner Lieblingskleider trage. Normalerweise sind nämlich Schuhe und Handtasche farblich aufeinander abgestimmt, passen perfekt zum Kleid, genau wie der Lippenstift. Und natürlich gehe ich nicht aus dem Haus, ohne die Haare so perfekt wie möglich in Form gebracht zu haben. Hilfe, ich vergammle!

Stammgäste von Imbissbuden-André beim Nachmittagsplausch

Nachdem ich endlich ein neues Fahrradschloss gekauft habe, bekommen wir eine kleine Führung durch das touristisch ziemlich überlaufene Haltern Am See. Dann gibt’s noch einen Ausflug zum Silbersee (der im Sommer so von Besuchern im Umkreis von 50 Kilometern überfüllt ist, dass die Anwohner schon längst nur noch nach Sonnenuntergang oder unter der Woche zum schwimmen in die ehemalige Sandgrube kommen). Anschließend fahren wir zum kleinen Yachthafen von Haltern, trinken mit Blick über den See auf einer netten Terrasse Mangoschorle, Weißwein und Radler.
Fünf Stunden Zeit hat sich meine Freundin für uns genommen. Fünf kostbare Stunden, die eigentlich noch zu wenig sind. Während sie um halb zehn zurück an den Schreibtisch muss, um ihre Seminare an der Uni für den folgenden Tag vorzubereiten, radeln wir entspannt durch die Dämmerung und durch den Wald zurück zu unserem Campingplatz. Und wie endet ein entspannter Abend? Richtig. Kompliziert. So gehört es sich einfach. Und deswegen stehen wir vor dem verschlossenen Eisentor. Es ist 22.30 Uhr, überall dunkel und keiner der Dauercamper führt seinen kleinen Köter zur Gutenachtrunde Gassi. Während ich mich schon lässig über das Tor klettern sehe (ohne genau zu wissen, wie ich das eigentlich bewerkstelligen soll), fummelt Christian mit unserem Hausschlüssel am Schloss rum. Es macht klack – und mit einer höflichen Verbeugung lässt mich mein Held eintreten. Ich bin fasziniert, begeistert und noch ein bisschen mehr verliebt als sowieso schon. Natürlich kommt in der Sekunde der Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner ein letztes Mal das Bein heben lässt und einer der Dauercamper fährt im Schritttempo mit seinem uralten Opel auf den Platz… Gute Nacht, Freunde. Es war ein ziemlich vollkommener Tag und die Zeit die uns Tinas Freundin geschenkt hat, macht mir wieder bewusst, dass Zeit eben ein unglaublicher Luxus sein kann. Wir haben im Moment diese Zeit und ich möchte an dieser Stelle mal ganz herzlich all jenen danken, die sie uns ermöglichen.

Neben dem Waschhaus zu campen hat nur einen Nachteil: Die ganze Nacht ist Festbeleuchtung

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