Endlich mal wieder in einem richtigen Bett geschlafen. Was für eine Wohltat. Als ich gegen 10.15 Uhr vorsichtig in den Tag blinzle, bin ich alleine im Zimmer, läuft der Fernseher ohne Ton und liegt ein leichter Duft nach frischen Brötchen in der Luft. Mein wunderbarer Lebensmensch hat mich ausschlafen lassen – und mich gleichzeitig mit allem versorgt, was ich für einen guten Start in diesen historisch bedeutsamen Tag brauche: Was zwischen die Kiemen und den Sender, der die Hochzeit von Prinz Harry und der amerikanischen Schauspielerin Meghan Markle übertragen wird. Überraschenderweise langweilt mich das aber ziemlich und Hunger habe ich auch noch nicht. Ich werde zwar im Laufe der kommenden Stunden immer mal wieder vom Frühstücksraum nach oben in Zimmer 4 gehen, um einen Blick aufs Hochzeitskleid zu erwischen, aber wirklich gefesselt bin ich nicht. Offensichtlich haben sich Prioritäten verschoben. Sollte mich das beunruhigen?
Wir verbringen den halben Tag damit, Artikel für den Blog zu schreiben. Am frühen Nachmittag haben wir kein Sitzfleisch mehr und schlendern durch die Straßen, die voller deutscher Touristen und einer Horde holländischer Junggesellen auf Abschiedsparty sind. Der Bald-Ehemann macht sich zum Mega-Deppen, indem er – in Cargo-Hose, Muskelshirt und schwarzer Langhaarperücke – über das Pflaster robbt wie ein Soldat in der Grundausbildung und noch einige andere idiotische Dinge tut. Alles mit größter Begeisterung und unter Beifall der Touristen, die die vier Restaurants am Platz befüllen. Ich lade uns zum essen ein, lerne mühsam „Dank je wel“ richtig auszusprechen und scheitere rettungslos an „alsjeblieft“ (Bitte), verliebe mich in unsere blonde Bedienung und bin sowieso total verknallt in die Niederlande im allgemeinen und das holländische Dasein im Besonderen. Das Örtchen Arcen ist ein Touri-Magnet und wir kosten es in vollen Zügen aus. Erkunden im Bummelschritt die Sehenswürdigkeiten, allen voran das Wasserschloss, bestaunen alte Kutschen, werden höflich darüber aufgeklärt, dass hier eine geschlossene Gesellschaft feiert und wandeln entspannt entlang des Wassergrabens mit den riesigen Rhododendronbüschen. Zum Abschluss geht’s noch ein bisschen am Wasser entlang und ein entspannter Ruhetag geht seinem Ende entgegen. Ich freu’ mich auf morgen, wieder auf dem Rad zu sitzen und obwohl ich letzte Nacht 13 Stunden geschlafen habe, falle ich um 22 Uhr schon wieder ins Bett. Ich schlafe ein mit der überraschenden Wahrnehmung, überhaupt keine Rückenschmerzen mehr zu haben.
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Christian
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Soll noch mal jemand sagen, ich sei dünnhäutig. Dem werde ich nicht widersprechen. Ganz im Gegenteil! ABER, und das möchte ich betonen, selbst meine zu allergrößte Toleranz neigender Christian verliert an diesem Morgen in Altfeld ein bisschen die Nerven. Oder zumindest tut er wenigstens so, damit ich mich nicht allein so schlecht fühle.
Wie gewonnen, so zerronnen, möchte man dieses dämliche Sprichwort bemühen. Denn was gestern noch in den schillerndsten Entspannungsfarben leuchtete, was sich als wahr gewordener Traumort der Ruhe und Kreativität präsentierte, ist eine verdammt laute Mogelpackung! Die schlimmste, die wir bislang erlebt haben. Und ich rede nicht von Rasenmähern, brüllenden Kleinkindern oder keifenden Wadenbeißern. Ich zupfe mir um halb neun die Ohropax aus den Ohren – und erstarre. Deutsche Schlager der allerschlimmsten Sorte – Oh Gott! Wie vermisse ich Cindy & Bert, Michael Holm, Katja Ebbstein, Marianne Rosenberg! -, stumpfer eins-zwei-Tipp-Discofox-Takt, in Ballermannlautstärke. Noch mal: Es ist Freitagmorgen, 8.30 Uhr, auf einem Campingplatz! Erst bei unserer überstürzten Abfahrt eine Stunde später stellt die Putzfrau das Radio übrigens auf Zimmerlautstärke. Nein, so richtig gut gelaunt war ich an diesem Morgen nicht wirklich. Denn im Gegensatz zu Dir hatte ich keine Ohropax und die arme Putzfrau schon seit mindestens 7.30 Uhr Dienst. Allerdings waren die gespielten Schlager für mich alle Neuland, auch wenn ich mir eingebildet habe, die eine oder andere Melodie schon einmal gehört zu haben. Wenn man aber bedenkt, dass das Schwimmbad seit einem dreiviertel Jahr außer Betrieb war und die Reinigung bestimmt einer der blödesten Jobs ever ist, dann kann ich diese Liedauswahl durchaus verstehen. Wahrscheinlich ist dritt- oder viertklassiger deutscher Schlager eines der stärksten legal erhältlichen Narkosemittel und damit erhält es von mir das Prädikat: BESONDERS NERVTÖTEND. Ich höre durch das Wummern der Bässe, wie Christian sich unterhält. Angeregt unterhält. Skandalös angeregt und fröhlich unterhält. Mit einer Frau, die ganz klar aus Stuttgart kommen muss. Sieglinde ist kurz vor 70, ihr kleiner Köter leidet unter Nierensteinen und muss alle drei Monate zum Arzt und ihr Mann putzt mit unendlicher Liebe, Leidenschaft und absurder Hingabe das fahrbare Eigenheim. Und während Sieglinde erzählt, dass sie eigentlich nur 245 Euro Rente bekommt, aber dank des Verkaufes ihres mit 230 Quadratmetern viel zu großen Eigenheims nun durch die Welt, vorzugsweise Spanien, gondeln kann, würzt sie acht Hähnchenkeulen – mehr passen nicht aufs Backblech des mobilen Elektroofens mit Grillfunktion. Ich nehme mich sehr zusammen, aber unter vier in Wut- und Enttäuschungstränen schwimmenden Augen verlange ich von Christian, dass wir auf- bzw. abbrechen. Sofort. Hier kann ich weder entspannen noch arbeiten. Im Gegenteil. Ich befinde mich in akuter Gefahr, den Rest meines Lebens hinter Gittern zu verbringen, weil ich den einen oder anderen Mord begehen könnte. Vorzugsweise an der Putzfrau.
Von Siggi bekommen wir selbstverständlich unsere Kaution und die zweite, im Voraus bezahlte Nacht zurück. Ach, Mensch, Siggi. Sie macht seit vier Jahren einen vermutlich richtig guten Job. Eine quirlige, herzliche Endvierzigerin, die hier schon als Kind war und eigentlich selber eine Parzelle gekauft hat. Die zu dem Job der Campingchefin durch Zufall kam. Die für alle immer zu sprechen ist. Die von Mobbing unter den Dauercampern erzählt, wenn der Winter zu lang ist. Weil so ein Campingplatz, auf dem ganzjährig auf engstem Raum gewohnt wird, am Ende nichts anderes als ein Dorf ist. Siggi, die gute Seele, lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und als ich zu einer Notlüge greife, warum wir doch schon heute fahren müssen, dann nur aus einem Grund: Ich möchte die sympathische Siggi nicht vors Knie treten. Vielleicht ist es auch wegen Marla, diesem hinreißenden Vierbeiner, der sich zum Abschied noch mal anständig kraulen lässt.
Wir verlassen Altfeld um 10.30 Uhr geradezu fluchtartig. Wobei Altfeld stellvertretend für Deutschland steht. Wir haben nach 16 Tagen die Nase voll von deutschen Campingplätzen. Gestrichen voll! Obwohl wir ja wirklich wunderschöne kennengelernt haben. Aber irgendwie ist der Wurm drin. Und dass sich nun auch der vierte Platz in Folge nicht als Ruhetag qualifiziert konnte, lässt nur einen Schluss zu: Wir machen rüber. Nach Holland. Zu den Käsköppen. Dabei muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts mit Holland verbinde außer den üblichen Klischees. (Alles Gute ist wohl nie beisammen und so gibt es bei den meisten Plätzen wohl einen mehr oder weniger sichtbaren Haken. Was für uns gar nicht geht, ist für andere wahrscheinlich vertretbar oder sogar erwünscht. Eventuell wäre die Musik mit Eröffnung des Schwimmbades sogar ganz verschwunden und dann durch den Lärm der Badegäste ersetzt worden. Wir hätten vielleicht etwas genauer zuhören sollen, denn Siggi hatte es gestern angedeutet: Morgen wird das Schwimmbad eröffnet und alle freuen sich schon darauf. Wir sind uns jedenfalls einig, nach 2 erfolglosen Ruhetagsversuchen werden wir keine Unterkunft mehr für 2 Tage am Stück buchen, sondern uns nur noch von Tag zu Tag hangeln.) Dank der musikalisch untermalten Enttäuschung ist meine Laune mies. Richtig, richtig, richtig mies. Geradezu miesmuschelig trete ich in die Pedale, nur nicht zu kräftig. Ich will Christian nicht nerven. Und schon gar nicht der Möglichkeit geben, mich aufzuheitern. Um Himmels Willen! Das wäre ja geradezu albern. Hab mich schließlich sehr sorgfältig in diese düstere Stimmung manövriert. Schafft er dann aber doch. Mich aufzuheitern. Und zwar mehr als das: Er macht mich glücklich. Christian bremst und zeigt nach links. Wüstenschiffe! Braune und weiße. Das kuschelteppichartige (Winter-)Fell, das in langen Fetzen von den riesigen Körpern und dem Höcker hängt. Weiche Lippen, leichter Überbiss, lange Zungen und umflorter Blick – ich bin mal wieder Schockverliebt. Rupfe wie paralysiert ganze Äste von den bereits auf Weidenseite sehr ramponierten Bäume und siehe da, so ein fremdländisches Dromedar hat im Gegenteil zum heimischen Reh keinerlei Berührungsängste. Mit einer an Arroganz grenzenden Selbstverständlichkeit schnappt es das hingehaltene Grünzeug und zermahlt mit allergrößter Gelassenheit sogar die Zweige, als wären sie Grashalme. Die weiße Dromedarlady bekommt schnell spitz, dass es hier eine Extraportion Futter gibt und wankt in gemächlichen, aber zielstrebigen Schritten auf uns zu. Christian ahnt, warnt – mir egal. Ich kann und will nicht widerstehen – für den Bruchsteil einer Sekunde berühre ich das weiche weiße Maul, das wie zum Pfeifen gespitzt ist. Dann löse ich mein Versprechen ein und pflücke weiter Äste. Ein dritter Kollege kommt neugierig dazu. Christian findet ja, es reicht jetzt mit füttern. Sorgt sich um die Magen- und Darmflora meiner neuen Lieblingstiere. Unsinn. Sieht er denn nicht, wie verhungert sie alle aussehen? Wie karg und abgeerntet die Wiese ist, auf der sie stehen? Ich entblöde mich nur mit allergrößter Selbstkontrolle nicht zum Deppenzeptergriff. Dabei hätte ich wirklich sehr sehr gerne ein Selfie mit den drei kuschellippigen Exoten gemacht. Die übrigens durch einen Holzzaun von träge herumliegenden Kamelen getrennt sind. Es fällt mir schwer, die Fütterung einzustellen und mich wieder aufs Rads zu schwingen. Doch auch wenn heute nicht mal 35 Kilometer zu bewerkstelligen sind, ewig können wir nicht hier rumtrödeln.
Irgendwo im Wald ist es dann soweit: Grenzüberschreitung. Wir machen daraus ein Event mit noch mal auf deutscher Seite ins Gebüsch pullern, noch mal in einen deutschen Bananen-Schokoriegel beißen. Auf deutscher Seite erfolglos versuchen, das Rücklicht zu reparieren. Natürlich bestehe ich auf einem Selfie, auch wenn außer zwei roten Bänden, die an Metallpfosten flattern, nichts darauf hindeutet, dass wir mit nur einer halben Radumdrehung von Deutschland in die Niederlande schieben. Dieser Waldteil ist bei aller Romantik irgendwie auch ein bisschen unheimlich, mit diesen Tarnnetzen, die wie ein Zaun linkerhand von uns ein unüberschaubares Stück Wald abtrennen. Sind wir etwa auf militärischem Gebiet? So was Ähnliches, wie wir wenige Minuten später erkennen. Es handelt sich um ein Paintball-Gebiet. Zur Erklärung für den geneigten Leser über 25: Ein besonders beim Testosteron gebeutelten Teil der Bevölkerung hoch im Kurs stehendes Kriegsspiel, bei dem der Gegner mit Farbkugeln beschossen wird. Kann man cool finden oder auch lassen. In diesem Teil der Niederlande geht Paintball offensichtlich knapp am Breitensport vorbei. Bevor es in Vergessenheit gerät: Unser künftiger Herbergsvater hat uns am Abend noch aufgeklärt: Das, was wir als Grenze identifiziert haben, ist eine ehemalige Kiesgrubbe. Grenze hin oder her, die verwunderten Blicke die wir geerntet haben, sprechen Bände: Wundervolle Straßen und Radwege haben wir hier in den Niederlanden und ihr Deppen schiebt durch ’ne Kiesgrubbe. Na logisch, warum leicht, wenn es auch kompliziert geht? Mein wunderbarer Tourguide hat mir versichert, in den Niederlande ist Camping für nen Appel und n Ei zu kriegen, sprich um die 10 Euro pro Nacht. Aha. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass genaue Recherche sinnvoller ist, als ein nicht durch Daten verifiziertes Wunschdenken. Trotzdem. Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Von denen haben wir aber quasi keine gefunden. Dein wunderbarer Tourguide hat sich aber auch eingebildet, Deutschland wäre das teuerste Land der Welt und die Niederlanden so von Campingplätzen übersät, dass die praktisch alle in Konkurrenz zu einander stehen und sich somit im Preis unterbieten. Aber nix da. Wir verlassen also das Paintballgebiet, fahren vorbei an einer Art Ferienpark mit Holzbungalows, passieren diverse Wiesen, diverse Gewächshäuser, viele Wiesen mit grasenden Kühen oder Schafen, fahren vorbei an einem Morast, sind entzückt von der großartigen Beschaffenheit der Radwege, der Architektur, der liebevollen Gestaltung der Vorgärten, der freundlichen und uns Radler respektierenden Autofahrer, dem Grün der Wiesen, Felder und Wälder. Klingt verliebt? Jo. Auf den ersten Blick quasi. Hmm, hoffentlich merkt bei Deiner wundervollen Aufzählung niemand, das es “quasi” nur 4000 Meter bis zur Herberge waren.
Bei aller Begeisterung bekommen wir dennoch schnell einen Dämpfer, denn es erweist sich als komplizierter, ein geeignetes Fleckchen Rasen für unser Zelt zu bekommen, als angenommen. Der erst beste Platz ist zwar wie von Christian vorhergesagt ziemlich preiswert (13 Euro für zwei Personen inkl. Zelt), bietet aber weder Atmosphäre noch Sitzmöglichkeiten. Für unseren Ruhetag fehlen also zwei grundlegende Voraussetzungen. Weiter geht’s. Wir versuchen es bei einem am Waldrand gelegenen B&B – leider ausgebucht. Mal nebenan probieren, der vermietet auch. Der geneigte Leser ahnt es schon: Auch hier kassieren wir eine Absage. Eine freundliche zwar, aber eine Absage. Es ist noch relativ früh, gerade mal 15 Uhr, also machen wir uns keine großen Sorgen und radeln munter weiter. Hach, was ist es reizend bei den Niederländern. Alles wirkt frisch und ordentlich und liebevoll und dabei gleichzeitig auf charmante Art traditionell. Eine gelungene, unaufdringliche Mischung aus Bauernhof und modernem Einfamilienhaus begegnet uns mehrfach und selbst was bei uns unter Reihenhaussiedlung fallen würde, hat hier seinen besonderen Charme. Begründet in den roten Backsteinen, den weißen Fenstern, den bunten Gärten und den Straßen, die meist auch aus rotem Ziegel gepflastert, statt Schwarz geteert sind.
Schon gut. Das hier soll ja keine Werbebroschüre für die Niederlande werden. Also, wir erreichen nach 33 Kilometern Arcen. Auf der linken Seite eine Gastwirtschaft, die sicherlich schon seit den 60er Jahren existiert. Christian klingelt, versucht durch die Scheiben zu gucken, klopft. Niemand öffnet. Ich schaue die Fassade skeptisch hoch – sehr kleine Fenster. Das sieht nach dunklen Zimmern aus. Innerlich hake ich diese Unterkunft schon ab. Da wird Christian von einer kurzhaarigen Holländerin angesprochen. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Seite bei den Rädern, sehne mich nach einer Zigarette, und sehe: Da passiert gerade etwas Entscheidendes. Und richtig. Annika hat mal in dem Restaurant gearbeitet, und winkt uns ihr zu folgen. Links ums Gebäude rum, an einer kleinen Terrasse unter einem uralten Baum vorbei, noch ein Stück weiter. Ein Kiesweg, ein halb geöffnetes, schwarzglänzendes Metalltor und da kommt Frans. Schüttelt uns freundlich die Hand, begrüßt uns mit reizendem Rudi-Carell-Akzent, zeigt uns ein kleines, auf den ersten Blick tatsächlich dunkles Zimmer mit angrenzendem Bad. Wir mögen den jungenhaft aussehen Holländer auf den ersten Blick, entscheiden uns mit einem wortlosen Zunicken für das Zimmer. Auch wenn 60 Euro nicht gerade ein Schnäppchen sind, schlagen wir ein. Immerhin ist ja Frühstück dabei.
Frans fragt, was wir trinken möchten und bringt eine Fanta und einen Apfelsaft, während wir durch den Rosenbogen in die quadratische, mit alten Bäumen und Büschen umwachsene Oase treten und denken: Ja, alles richtig gemacht. Frans ist unaufgeregt, unaufdringlich und wir dürfen unsere Räder in seinem Schuppen unterstellen. Er gibt uns den Schlüssel, fragt, wann wir frühstücken wollen und verschwindet dann, weil er für seine Frau kochen muss – wie er mit einem Augenzwinkern sagt.
Die Stille des Gartens, die späte Sonne – wir sind glücklich. Weil wir ein bisschen auf unsere Tourkasse achten wollen, koche ich aus dem, was wir noch haben, unser Abendessen im Garten. Es fühlt sich ein bisschen wie zuhause an, hier bei Frans. Um 21 Uhr falle ich vollkommen erschöpft ins Bett. Herrlich! Ein richtiges Bett mit frischer Bettwäsche, einem fluffigen Kopfkissen. Obwohl ich eigentlich noch eine Runde schreiben wollte oder wenigstens das obligatorische Megakniffel im Kopf hatte, stehe ich nicht mal mehr zum Zähneputzen auf. Ich falle in den tiefsten Schlaf seit 20 Tagen und brauche nicht mal Ohropax. Frans hat uns sogar seinen Garten zum Campen angeboten, falls uns das Zimmer zu teuer sein sollte. Frans, falls du wie versprochen liest: Danke, du bist ein wunderbarer Kerl!!!
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Superlative. Wer hat die eigentlich erfunden? Und: Wozu braucht es die noch mal genau? Ja, richtig, um den Größenwahngeiern eine Plattform zu bieten. Damit die dann später angeben können: Ich fraß das größte Schnitzel. Ich habe den größten Wohnwagen oder eben: Ich war auf Deutschlands größtem Campingplatz. Der liegt übrigens auf einer Insel mitten im Rhein und ist so überflüssig wie ein Kropf. Wir könnten jetzt natürlich mit Zahlen, Daten, Fakten um uns werfen – aber mal ganz ehrlich, wen interessiert es, ob Jürgen Ich-bin-der-König-von-Mallorca-Drews und diverse DSDS-Nasen hier ihre nichtssagenden Schlager trällern?
Ok, Preismäßig ist der Platz Grav-Insel mit seinen 2000 Stellplätzen (in Worten: Zweitausend! Absurd!) bislang ungeschlagen: Gerade mal 11 Euro hat uns Bernd mit dem trocken-herzlichen Humor pro Nacht berechnet. Duschen kostet nicht extra. Trotzdem verweigere ich am Morgen nach einer ungemütlichen Nacht auch hier den geplanten Ruhetag und Christian ist mehr als einverstanden. Es ist stürmisch, kalt. Um meinen Schlaf nicht zu stören, sitzt mein tapferer Navigator bei gefühlten Minusgraden im Vorzelt, plant unsere nächste Etappe. Ich habe die Augen noch nicht ganz auf, als ich ihn anranze: Hier bleibe ich nicht, wir fahren. Wer ist schon zu liebevoller Kommunikation in der Lage, bei 11 Grad, grauem Himmel, Sturm und dem Wissen, dass die Toiletten knapp 350 Meter entfernt sind? Und wenn du duschen willst, brauchst du entweder flotte fünf Minuten zu Fuß oder fährst eben 504 Meter mit dem Rad – und wir sind im vorderen Drittel des Campingplatzes. Nur, um noch mal zu veranschaulichen, von welch irrsinnigen Dimensionen wir sprechen. Der Frust speist sich aus dem Wissen, dass dies nun schon der zweite Platz ist, der für die dringend notwendige Erholungsphase, sprich für einen entspannten Ruhetag, nicht taugt. Jammern hilft nicht. Ruff uff den Drahtesel und ab geht er, der Peter. Aller guten Dinge sind schließlich drei. (Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Campingplätze hierzulande sind. Inzwischen haben wir geglaubt, alles schon einmal gesehen zu haben. Aber weit gefehlt. Wesel ist in allen Belangen EXTREM. Im Gegensatz zu Tina war ich als Kind nie campen, kann mich aber sehr gut an die teilweise sehr einfache Ausstattung in Osteuropa erinnern. In Wesel sind die Duschen groß genug, um mit dem Elektrorollstuhl hineinzufahren, was wahrscheinlich den Bedürfnissen deutscher Camper zunehmend gerecht wird. Aber besser wird der Campingplatz dadurch auch nicht. Hier ist eine Kleinstadt in der Nähe einer inzwischen fast unbezahlbaren Stadt gegründet worden. Und das, obwohl die Lage im Rhein durchaus nicht die beste zu sein schein. Immer wieder gab es im Laufe der Bestandszeit Überflutungen und der für uns zuständige Platzwart lächelt lediglich, als wir ihm gegenüber den Wind ansprechen und meint ¨Das ist hier immer so¨. Nein, für einen Ruhetag taugt dieser Platz absolut nicht und ich beginne mich zu fragen, warum so viele Menschen in diese Slums ziehen.)
Eigentlich wollen wir uns die 11 Euro für die zweite Nacht und die drei Euro für das nicht genutzte WLAN zurückholen. Drei Euro für 24 Stunden – das muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Wie finanzieren das eigentlich die Dauercamper? Blöderweise sitzt an diesem Morgen nicht unser neuer einbeiniger Freund (er hat einen Bruder und der wohnt in Potsdam. So was verbindet in der Fremde natürlich ungemein) in der Schaltzentrale. Ein brummeliger (weil übermüdeter?) Zausel um die 68 verweist auf die Verwaltung, die aber erst 17 Minuten später besetzt wäre. Zu gereizt, um bis 10 Uhr zu warten, beschließe ich den Aufbruch – ohne Diskussion.
Eigentlich müssten wir jetzt zurück nach wie-heißt-der-Bürgermeister-von-Wesel?-Esel!-Wesel, um dann weiter fahren zu können. Ach, man muss dem geliebten Routenplaner nur mit sanfter Bestimmtheit erklären, dass man überhaupt gar keinen Bock auf die sieben Kilometer zurück hat, als Totschlagargument wirkt wilder Rückenschmerz ja sowieso immer und wenn man dann mit einem grimmigen Gesichtsausdruck andeutet, dass die Stimmung sowieso kurz davor ist, in den Abgrund zu stürzen, da taucht aus dem Nichts eine Fähre auf, mit der man über den Rhein setzen kann. Na, also. Geht doch.
Heftiger Gegenwind, grauer, wolkenverhangener Himmel, kleinköpfige Margeriten, die sich rechts und links neben dem historischen Postdeich biegen, dem Plüstern sich entgegenstemmende, frisch geschorene Schafe, kaum weitere Radler und – Hunger. Es gab nicht mal Tee, weil? Richtig, weil’s zu stürmisch ist. Eine Zumutung, jawohl! Eine Zumutung, nach all den wunderschönen, sonnigen, entspannten Touren. Eben war noch Sommer, jetzt ist schon wieder Herbst? Ja, was stimmt denn mit dem Wetter hier nicht?
Als wir gefühlte 20 Kilometer später endlich die Fähre erreichen, hält gerade ein Golf mit Fahrradanhänger. Quietschfiedele Grauköpfe – vier Pärchen – schnattern fröhlich durcheinander, freuen sich auf ihre Tagestour, und während die Herren der Schöpfung die Räder vom Hänger hieven (natürlich nur schicke E-Bikes), übertrumpfen sich die Damen gegenseitig mit ihren für den Tag vorbereiteten Verpflegungsboxen. Meine Laune sinkt derweil ins Bodenlose. Die Fähre fährt täglich – außer Donnerstags. NATÜRLICH ist heute Donnerstag. Ich fasse unser Pech nicht und bin zu frustriert, um mehr als “Das kann ja wohl nicht wahr sein, so eine verdammte Scheiße!” in unterschiedlicher Intonation von mir zu geben. Christian ist ebenfalls angesäuert. Einzig die holländische Reiseradlerin nimmt es mit Gleichmut und fährt dann eben denselben Weg zurück, den sie vor wenigen Minuten gekommen ist. Unter den Senioren bricht Gelächter aus und der offensichtliche Organisator gesteht munter ein, da hätte man sich wohl besser erkundigen sollen. Verdammte gute Laune! Wir dagegen finden, sowas gehört großformatig entlang des Radweges als Infotafel aufgestellt. Am besten schon ab Wesel.
(Und hier muss ich zugeben: Auch ich hätte mich natürlich erkundigen können und sollen.)
Wir treten also den Rückweg in die unsympathische Stadt an. Ich bleibe sechs bis zehn Fahrradlängen hinter Christian, um mich ausgiebig in wütendem Selbstmitleid zu suhlen. Es ist der 14te Tourtag, der 12te Fahrtag und ich bin mal wieder sauer. Sauer auf das Wetter, die Rückenschmerzen, die Kamikaze-Autofahrer, die schlechten Radwege, kurz, aufs Leben. Hilft aber nix. Von alleine geht’s nicht von Wesel zum nächsten Campingplatz. Da hilft nur treten. Gleichmäßig, ohne noch darüber nachzudenken. Inzwischen sind wir seit echten 20 Kilometern unterwegs. Entschuldigung – ich bin Diabetikerin! Ich brauche was zu essen! (Sage ich natürlich nicht laut. Das wäre zu einfach!) Obwohl ich ziemlich sicher weiß, dass meine schlechte Stimmung in einer wenigstens zehn Quadratmeter dichten, dicken Wolke um mich herumwabert, und damit auch Christian einhüllt, fällt mir nix ein, sie aufzulösen als unfreundlich zu granteln, dass ich nicht mehr kann und was essen muss. Der nächste Discounter ist unserer.
Auf einem unbelebten Marktplatz zwischen zwei Kirchen finden wir eine Bank in der Sonne und stopfen schweigend Brötchen und Aufschnitt in uns rein. Es ist 12 Uhr, die Temperaturen sind endlich wieder so, wie wir es mögen und ich erkenne einmal mehr: Essen hebt die Stimmung. Mein Christian legt schweigend den Mantel der uneingeschränkten Liebe und Toleranz über meine Miesepetrigkeit, wir sind uns einig, dass man in diesem Städtchen eigentlich nur an Langeweile ersticken kann und pfeifen großzügig auf unsere Arroganz, die wir immer dann an den Tag legen, wenn wir nicht so wirklich gut drauf sind. Und heute Vormittag sind wir einfach mal richtig schlecht drauf.
Das bleibt auch noch einige Kilometer so. Dann biegen wir auf die Zielgrade des heutigen Tages – eine Landstraße, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat -, und stoppen. Mai ist nämlich eine prima Zeit, wenn man auf Kindchen Schema geprägt ist. Und wenn einer das ist, dann icke. Und zwar uneingeschränkt, ohne Wenn und Aber. Küken, Fohlen, Lämmer, Kälbchen – sie alle sind uns über den Weg gehopst, gestolpert, gewackelt und gestakst. Kurz vor dem Ziel – Campingplatz Altfeld – stoppt Christian. Er kennt mich. Er weiß, was meine Laune schlagartig hebt. Und wenn es schon kein Hund ist, der sich streicheln lässt – die drei Kälbchen zaubern mir ohne Anstrengung ein verzücktes Lächeln ins Sonnenbrandige Gesicht. Die drei – nennen wir sie der Einfachheit halber Justus, Bob und Peter – sind unendlich niedlich in ihrer kuhäugigen, langsamen Neugierde. Peter – komplett braun – geht zwei Schritte vor. Blick zu uns. Blick zu Bob und Justus. Einen weiteren Schritt. Halt. Bob – komplett weiß – stupst von hinten. Blick zu uns. Senkt den Blick, beginnt demonstrativ desinteressiert zu grasen. Peter dreht sich um zu Justus – schwarz-weiß gefleckt. Der geht seitwärts zum Zaun. Blick zu uns. Einen Schritt vor. Noch einen. Und noch einen. Kopf senken, grasen. Bob und Peter drängen sich an ihren Anführer. Der entscheidet sich für einen weiteren Schritt. Zuviel für Peter. Der macht einen kleinen Hopser und vergrößert den Abstand zwischen uns (mit abgerissen Grasbüscheln in den Händen und freundlichen Stimmen lockend). Bob beschließt sich Peter anzuschließen. Jetzt kann sich auf Justus nicht mehr durchringen, seiner Neugierde und vor allem seinem ewigen Hunger nachzugeben, und die dargebotenen frischen Gräser aus der Hand von zwei verschwitzten Reiseradlern zu fressen. Wir vergessen wieder einmal die Zeit und erfreuen uns an den drei Kälbchen, die tatsächlich wie Freunde wirken, die nichts ohne den anderen tun würden. Sie verlieren ihr Interesse und wir schwingen uns wieder in die Sättel. Ich zugegebenermaßen ganz glücklich.
Dieses warme Gefühl soll sich weniger als eine halbe Stunde noch steigern. Als wir nämlich den Campingplatz von Siggi Hoppe erreichen, weiß ich sofort: Hier möchte ich unseren Ruhetag verbringen. Ach, naives Ding ich. Es ist Donnerstag vor Pfingsten, morgen wird der Swimmingpool eröffnet, das ganze Dorf freut sich schon. Diese winzigen Details überhöre ich – denn Marla hopst fröhlich auf mich zu und lässt sich sofort kraulen. Marla ist zwei, eine Appenzeller-Senn-Hündin, und wickelt mich schneller um den Finger, als ich verliebt seufzen kann. Ich will wieder einen Hund, denke ich in dieser Sekunde. Wieder so einen freundlichen, lustigen, fröhlichen Köter mit langen, seidenweichen Ohren.
Siggi nimmt uns gerne für zwei Tage auf. Wir bekommen einen Platz neben einer Hütte zugewiesen, in der sich eine Küche inklusive Kühlschrank und eine Toilette befindet. Nur für uns. Ich bin begeistert und sicher – das wird ganz wunderbar. Mich kann nicht mal der ältere Herr schräg gegenüber, der seine zwei Quadratmeter Rasen akribisch mit dem Benzinrasenmäher auf Wimbleton-Länge stutzt, aus der Ruhe bringen. Und sobald das Zelt steht, fährt Christian in den nächsten Ort und frischt unsrer Lebensmittelvorräte auf. Ich bin auch nicht untätig und schreibe diesen Bericht.
Ein opulentes Abendmahl, ein Spaziergang über das Gelände inklusive Erkenntnis, auch hier sind die Dauercamper von großer Kreativität, wenn es darum geht, ihre Eigenheime zu verbarrikadieren. Als es Zeit ist für den Schlafsack, bin ich mit dem Tag versöhnt.
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Heute morgen stellen wir beim Abbauen mal wieder einen neuen Rekord auf. Keine 45 Minuten nach dem Aufstehen ist die Morgentoilette erledigt und sind alle Taschen auf den Rädern verstaut. Dennoch will keine so rechte Heiterkeit aufkommen. Tinas Treffen mit ihrer Freundin sind einfach zu selten, und die Gewissheit, einen wunderbaren Menschen so schnell wieder verlassen zu müssen, betrübt auch mich. Gern hätte ich mehr gemeinsame Zeit gehabt, und Tinas Freundin hätte uns sicher auch noch mehr ihrer Zeit geschenkt, aber der Preis für sie wäre hoch gewesen und wir haben ja schließlich ein Ziel: Brügge. Mir wird vor allem bewusst, wir haben zwar viel Zeit, aber eben auch keine Unbegrenzte. Irgendwann werden wir wieder ins normale Leben zurückmüssen und trotz der Freude, die mir diese Tour bereitet, ich freue mich auch auf die vor mir liegende Zeit sehr.
Im Moment quälen mich aber noch andere Probleme. Mein Morgenkaffee hat unser letztes Gas fast völlig aufgebraucht. Zum Glück hat uns unser Bielefelder Nachbar gestern bereits eine ungefähre Wegbeschreibung zu einem örtlichen Outdoorausstatter gegeben, den wir als erstes aufsuchen wollen. Da wir bereits um sagenhafte drei Minuten nach neun von unserem echt charmanten Campingplatz rollen, und sowieso durch Haltern Am See fahren müssen, um ins Industriegelände zum Ausstatter zu kommen, bestehe ich darauf, noch einen kurzen Abstecher bei meiner Freundin, die direkt in der Innenstadt wohnt, zu machen. Eine völlig idiotische und dennoch absolut richtige Entscheidung. Idiotisch, weil meine Freundin vermutlich bis tief in die Nacht gearbeitet hat und wir sie um 9.30 Uhr aus dem Bett klingeln. Absolut richtig, weil ich sie so unendlich mag und vermisse und ich sie einfach noch mal drücken wollte. Sie hat nicht mit uns gerechnet, und wir sprechen auch keine drei Minuten miteinander. Dann schließt sie wieder ihre Wohnungstür. Mich hat dieser kurze Moment sehr bewegt und den ganzen weiteren Tag überlege ich, ob wir nicht einen Tag hätten dranhängen sollen. Dann stehen wir vor dem Outddoorladen und es geschieht, worauf wir uns schon seit Beginn der Tour moralisch vorbereitet haben: Es regnet das erste Mal auf unsere vollgepackten Räder. Oh ja, wir können auch in hektisch. Kramen Regenhose, Regenjacke aus den Tiefen der Taschen. Ich stelle zwei wenig witzige Dinge fest: Ich habe den Wasserschutz für meine Lenkertasche vergessen und in der Regenhose sehe ich nicht nur aus wie eine schwarze Presswurst – und fühle mich auch so. Hilft übrigens ungemein, die angeschlagene Laune zu verbessern. Zum Glück regnet es nicht lange und nicht sehr intensiv, aber es reicht, um das erste Mal wirklich nass zu werden. Beim anschließenden Frühstück bei einem Bäcker eines Supermarktes lassen wir uns dann auch sehr viel Zeit. Keiner von uns ist heute morgen in allerbester Stimmung. Bei Tee, Kaffee, belegten Brötchen und einem steinhart gekochten Ei schauen wir dem Filialleiter bei einem Vorstellungsgespräch zu, das dieser wegen der drückenden Schwüle offensichtlich nicht in seinem Büro führen möchte. Ich vermute aber: Wahrscheinlich hat er bloß nicht aufgeräumt.
Als wir uns dann doch endlich aufraffen können, kommen wir trotz des guten Rückenwindes nicht so richtig in Schwung. Statt zu radeln, schleichen wir die ersten Kilometer durch die Gegend. Lustlos, antriebslos, scheinbar sogar ziellos. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob tatsächlich unsere Stimmung die Landschaft so trostlos erscheinen lässt. Ich stürze mich mit Kamera auf ein paar Mohn- und Kornblumen, damit wenigstens ein bisschen Farbe in den Tag kommt.Aber so richtig cool ist die durchfahrende Gegend dann doch auch wieder einmal nicht. So beschließe ich dann auch, nachdem wir so fast schöne Orte wie Dorsten und Datteln durchfahren müssen, auf der Hälfte der heutigen Strecke dem Navi die Führung zu entreißen. In einem Anflug von Schönheitsbedürfnis entscheide ich mich für eine Weiterfahrt am Weser-Datteln-Kanal, der laut Auskunft eines Pärchens (das ausgerechnet unsere Mittagspausenbank okkupiert – übrigens die einzige Bank weit und breit!) bis nach Wesel führen soll. Eine klare Fehlentscheidung, wie sich herausstellen wird. Weil, schöner wird es hier auch nicht und statt direkt von hinten, kommt der Wind hier zumindest so schräg, dass er unserer Weiterfahrt ein wenig ausbremst. Wie öde kann eine Fahrt entlang von Wasser und Wiesen eigentlich sein? Alter Holländer, so eine ätzende Strecke. Und nur, um es auch einmal gesagt zu haben: Nicht eine einzige verdammte Bank. Wir versuchen trotzdem weiterhin eine passende Sitzgelegenheit für unsere Mittagspause zu finden und ich vertröste Tina im Minutentakt auf die nächste Brücke, Kurve, Schleuse. Aber nix da. Der verdammte Kanal bietet kein ruhiges Plätzchen, um die neue Gaskartusche auszuprobieren und die vom Frühstück übrig gebliebenen Brötchen aufzufuttern. Irgendwann lässt sich Tina aber nicht mehr länger hinhalten und bestimmt eine Rast, so dass wir völlig ausgelaugt auf der Treppe einer extrem lauten Behelfsbrücke unsere letzten Vorräte vernichten. Wahrscheinlich existiert diese Behelfsbrücke auch schon seit über 40 Jahren und die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass es ständig kracht und scheppert, als würde das Metall jeden Moment bersten. Himmel, was sind wir lärmempfindlich dieser Tage. Aber auch nicht lärmempfindlich genug, um unsere Rast abzubrechen. Ach, seien wir doch mal ehrlich: Ist man scheiße drauf, dann gibt es doch nichts Besseres als irgendetwas, über das man sich nach Herzenslust aufregen kann. Oder? So lecker des Essens auch ist, unsere Motivation hält sich auch nach 18 Kilometern am Kanal entlang weiterhin in Grenzen und ich übergebe dem Navi wieder die Führung. Immerhin kann ich es heute wenigstens verstehen und so verlassen wir den Kanal gerade rechtzeitig, bevor die Lippe in ihn und er in den Rhein führt. Spätestens jetzt ist klar, an der Stimmung liegt die Scheißgegend nicht. Sollte hier jemand lesen, der zufällig aus Wesel kommt – mein herzliches Beileid. Meine Güte, ist das eine hässliche Ecke. Trostlos, grau, abweisend, laut, chaotisch, wenn ich das hinzufügen darf. Wobei es “hässliche Ecke” absolut auf den Punkt bringt. Und diese Abneigung beruht scheinbar auch auf Gegenseitigkeit. Denn kaum sind wir vom Kanal auf den offiziellen Radweg abgebogen, versucht auch schon ein Angestellter der Hafenspedition mich mit seinem 40-Tonner zu überrollen. LKWS und Radfahrer – immer eine sehr brisante Mischung. Ich brülle unanständige Worte in schneller Reihenfolge. Was natürlich weder der LKW-Fahrer noch sonst jemand in seiner Blechbüchse hört. Das Blöde bei einem vollbepackten Rad: Die beidhändige Mittelfingerzeigung gelingt mir nicht, ohne mich in Lebensgefahr zu bringen. Also verzichte ich laut fluchend. Nach dem Schreck lade ich Tina erst einmal zum leckeren Eis mit Erdbeeren ein, das zwar wirklich lecker, aber mit 18 € für zwei Portionen völlig übertrieben teuer ist. Wolltest du an dieser Stelle nicht so richtig auf den Putz hauen?! Gut, dann übernehme ich kurz und knackig: Es handelt sich um jeweils EINE Kugel Eis und jeder bekommt ZWEI in Scheiben geschnittene Erdbeeren, die sehr gekonnt mit Schokofäden überzogen und mit einem Pfefferminzblättchen dekoriert sind. Köstlich, in der Tat. Aber bin ich hier bei Königs, wo man Winzportionen auf riesigen Tellern anrichtet, einfach weils schick ist?! Christian zahlt insgesamt 25 Euro und ich bin kurz davor zu platzen. Und zwar nicht wegen Völlerei, das dürfte klar sein. Dieser Tag hat blöd begonnen und scheint sich auch so von uns verabschieden zu wollen.
In Wesel ist es nämlich wieder so laut, dass ich alle 100 Meter das Navi rauskramen muss, um mich des Weges zu versichern. So dauern die letzten Kilometer bis zum Campingplatz dann auch noch einmal eine geschlagene Stunde. Gegenwind noch und nöcher. Wir fahren auf einem künstlich aufgeschütteten Deich, rechts und links Schafe, vereinzelt auch andere Radler, aber Spaß macht die Fahrt nicht. Wenn der Tag bislang makaber war, jetzt kommt das Sahnehäubchen. Der Platz ist zwar sensationell günstig. Aber, da er auf einer Rheininsel liegt, auch sensationell windig. An dieser Stelle sei hinzugefügt, wir sprechen hier von der Grav-Insel. Im Jahr 1969 von einem Visionär ins Leben gerufen und innerhalb der vergangenen 49 Jahre zu dem gemacht, was er jetzt ist. Allerdings wissen wir das bei der Ankunft noch nicht, und da wir jetzt dringend einen Ruhetag brauchen, buchen wir auch gleich zwei Tage. Ich übernehme die sich etwas hinziehenden Formalien mit Bernd, den Herrn über die Platzverteilung. Bernd ist genau aus dem Holz geschnitzt, wie ich Menschen in solchen Positionen mag: Ein bisschen kodderig, ein bisschen rau, ein bisschen ironisch und dabei absolut liebenswert. Typ raue Schale, weicher Kerl. Bernd lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen, spricht gleichzeitig mit drei unterschiedlichen Menschen, die einen Platz buchen möchten, bedient nebenbei die Schranke, telefoniert mit einem Anrufer und funkt einen Kollegen an, der den Campern ihren Platz per Elektrowägelchen zeigt. Und als ich ihn später anpflaume, dass WLAN ja wohl ein Grundbedürfnis, ja, ein Grundrecht ist, und dass 3 Euro pro 24 Stunden eine Frechheit sind, will er mir am liebsten die Zugangsdaten schenken. Gesteht er wenig später im Waschraum und entschuldigt sich quasi, dass er es nicht tun konnte, weil da noch ein Kunde war. Ach, Bernd, du Goldjunge.
Was uns hier erwartet, schlägt unserem fassrunden Verständnis von Camping endgültig den Boden aus. Denn Wesel rühmt sich als der größte Campingplatz Deutschlands mit über 2000 Parzellen – Dauercamper wohlgemerkt. Die paar Tagesgäste fallen da nicht wirklich ins Gewicht und sind wahrscheinlich nur deswegen da, um sich den Status Campingplatz nicht zu versauen. Da wundert es uns auch fast gar nicht mehr, dass hier ein absoluter Discountplatz entstanden ist. Ein riesiges Gebäude im Zentrum des Platzes bietet alles was das Camperherz begehrt. Supermarkt, großzügige Wasch- und Duschmöglichkeiten, Restaurants. Und vor den sanitären Anlange – festhalten, Leute – gibt’s buntes, blinkendes Jahrmarktfeeling. Zu den Hits der 80er Jahre kann man an diversen Automaten sein Geld vernichten. Per Greifarm ein neues Handy oder ein Kuscheltier versuchen zu ergattern. Und Mutti sitzt auf Wohnzimmerartigen Stoffbänken und schaut zu. Unglaublich. Ein freundlicher Mensch mit dunklen Knopfaugen und indianischen Zügen zeigt uns freundlich, wo wir unsere Wäsche waschen können. Micha arbeitet hier seit sechs Jahren, wohnt seit drei Jahren sogar hier und mag seinen Job. Und dann stehen wir vor den Waschmaschinen und erfahren von Micha und Bernd, dass es ein 3-Schicht-System an der Pforte gibt, dass Dreiviertel der Camper einen Dauerplatz haben… Irgendwie kommt hier eher das Gefühl eines Freizeitparks auf, statt dem einer ruhigen Unterkunft im Grünen. Wieder ein gelungenes Beispiel für unser Projekt, Deutschland, wie du campst. Und weil es zu windig ist, um unseren Gaskocher anzuwerfen, gönnen wir uns spontan und eine halbe Stunde vor Schluss noch das Mittelmeer-Buffet für 10 Euro pro Person. Essen mehr, als uns guttut. Der Wein schmeckt nicht, das Gyros ist kalt, genau wie die Pommes, aber das mediterrane Gemüse mit dem Tsatsiki ist lecker. Ein Gedanke blitzt auf, den ich nicht zulassen möchte, der aber noch in dieser Nacht zu einem Entschluss wächst.
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Ah! Was für ein Luxus. Schon zwei Nächte in einem richtigen Bett = keine Rückenschmerzen. Ich gewinne fast meine alte Fröhlichkeitsform zurück und genieße unser Ponderosa-Frühstück, das inzwischen aus Fünf-Korn-Müsli mit Trockenfrüchten und Joghurt besteht. Die Nacht im einzigen Gartenhaus mit überdachter “Terrasse” war erholsam, die heutige Etappe ist ein Klacks. Die geradezu lächerlichen 50 Kilometer bis nach Haltern am See, wo eine meiner langjährigsten und liebsten Freundinnen aus Studienzeiten seit sechs Jahren lebt, werden wir auf einer Arschbacke abradeln. Und obwohl meine an der Uni Bochum unterrichtende Freundin eigentlich überhaupt keine Zeit hat, will sie sich mit uns treffen und hat uns im Vorfeld zwei Campingplätze in fünf Kilometern Entfernung von ihrer Wohnung vorgeschlagen.
Wir lassen uns an diesem Morgen viel Zeit, verbummeln quasi den Vormittag und verlassen erst um 11.30 Uhr den Kranencamp, nicht ohne noch einen kleinen Spaziergang zum “Hafen” zu machen. Einmal mehr sind wir uns einig: Dauercampen mit Gartenzwergen, Benzinrasenmäher für vier Quadratmeter Rasen und in der Nacht blinkenden Leuchtturm vorm kiesgestreuten Vorplatz können weiterhin gerne die anderen. Wir im Leben nicht. Soviel ist inzwischen klar: Dauercamper im Münsterland unterscheiden sich nicht mal im Ansatz von denen in Niedersachsen. Außer, dass sie ein klitzekleines bisschen redseliger sind und einen charmanteren Akzent haben. Blöd nur, dass uns allmählich das Lästerpotenzial ausgeht, wollen wir uns mit unseren spöttisch-ratlosen Bemerkungen nicht ständig wiederholen. In größter Entspannung packen wir zusammen und verlassen mit guten Wünschen für unsere Reise den Platz.
Die heutige Strecke ist wenig aufregend. Der größte Nervfaktor der erste Mückenstich auf dem rechten mittleren Zeh. Nach entspannten zwei Stunden und 45 Minuten Fahrzeit erreichen wir den Jugendkreiscampingplatz, 5,5 Kilometer vor Haltern Am See. Es ist immer wieder faszinierend, wie schnell Menschen unangenehme Ereignisse verdrängen. Jup, haste Recht, die Fahrt war schon entspannend, zumindest ab dann, als wir sie endlich beginnen konnten. Senden hatte nämlich keinesfalls vor, uns einfach so abreisen zu lassen. Die Stadt ist ein einziger riesiger Kreisverkehr mit 1000 Kindern, die allerdings alle ¨in der Fertigstellung¨ sind. Fahrtechnisch Chaos pur! Wir haben geschlagene 45 Minuten gebraucht um einen Ausweg in die richtige Himmelsrichtung zu finden. Aber zurück zum Kreisjugendzeltplatz.
Ohne groß Spannung aufzubauen und ihn zu beschreiben: Er ist gruselig. Verlassen. Ver-und runtergekommen. Verwaist. Er lässt mich frösteln. Egal, was Christian sagt “Ist doch nur für eine Nacht¨, egal, wie nett die studentische Aushilfskraft ist (“Die Stadt verlängert nach 15 Jahren die Pacht nicht mehr; obwohl wir protestiert haben, müssen wir hier abbauen. Der Platz wird dichtgemacht, vermutlich werden sie hier Wohnungen bauen.”) – auf diesem Friedhof bleibe ich keine Sekunde länger als nötig. Wieder mal gibt mir mein Bauchgefühl recht. Denn keine zwei Kilometer weiter werden wir mit rheinländischer Freundlichkeit – laut, kodderig, herzlich – auf dem seit über 50 Jahren existierenden Campingplatz Hoher Niemen begrüßt. Wir fahren weiter zur Anmeldung, aber am Verwaltungsbau, der auch schon bessere Tage gesehen hat, hängt nur ein Zettel mit Handynummer. Dann eben erst mal eine Tüte Pommes. Wir gehen zurück zum Imbissstand, wo der glatzköpfige André aus Bochum vor wenigen Tagen das Küchenzepter übernommen hat und voller Elan und Pläne für die Zukunft kulinarische Abwechslung in den Alltag der 200 Dauercamper bringen will. Mit Dönerspieß, asiatischem und griechischem Abend, und überhaupt ganz groß. Das Merkwürdige ist nur, dem Kerl nimmt man das ab. Der macht das wirklich. Und auf einem Campingplatz, auf dem 300 Dauercamper leben, könnte das Konzept sogar wirklich funktionieren. Wir wünschen ihm jedenfalls das Beste. Am Biertisch schräg neben dem Wagen sitzen drei Kerle, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Der eine, Gesicht wie eine Bulldogge und genauso ein Gemüt, im Feinripp über der Wampe, blinzelt neugierig durch eine Brille. Seinen beiden klapperdürren Kumpel möchte ich am liebsten die Bierpullen wegnehmen und sie stattdessen mit hochkalorischem füttern und vorher noch zum Zahnarzt schleppen. Die drei Bierbrüder lassen es sich nicht nehmen, uns mit ungefragter Selbstverständlichkeit sofort zu helfen, indem sie beim Platzwart anrufen. Wir bestellen bei André jeder eine Portion Pommes Schranke (Ketchup-Majo, für den Nicht-Rheinländer), während uns einer der dürren Zahnlosen erklärt, wo wir unser Zelt aufstellen sollen. Und wenn bis morgen keiner zum kassieren kommt, sollen wir einfach so wieder fahren. Diese Schlitzohren hauen sich vor Begeisterung auf die mageren Schenkel, das Bulldoggengesicht grinst breit und wir fühlen uns so vorurteilsfrei und freundlich willkommen, wie bislang noch nicht. Während wir unserer Pommes kauen und mit André plaudern, als kennten wir uns schon seit Jahren, kommt Jörg-ich-hab-heute-eigentlich-frei auf seinem Roller, einen blonden 14-Jährigen als Beifahrer. Jörgs muskulösen, tätowierten Arme, sein Bart, sein langer Zopf unter dem Basecap erinnern mich wieder mal daran, dass ich diese Motorradtypen gut leiden kann. Ähm Motorradtyp? Unbedingt. 50iger Roller ist auch nur was für echte Kerle. Jörg wirkt im Gegensatz zu den drei Biertischlern beinahe schüchtern. Ist aber von gleicher entwaffnender, offener Herzlichkeit. Er verlangt lediglich 12 Euro – “Duschen kostet nix. Kannst so lange heiß duschen, wie du willst.” – und nimmt uns das Versprechen ab, uns zu melden, wenn irgendwas ist.
Wir bauen unser Zelt zwischen einem dunkelrot blühenden Rhododendronbusch und einem Wohnmobil aus Bielefeld auf, ich rufe meine Freundin an und wir verabreden uns für 17.15 Uhr auf dem Marktplatz von Haltern Am See. Zwei Stunden Zeit, um ein bisschen mit dem Bielefelder Dauercamper zu plaudern, dessen Frau aus Haltern stammt und die regelmäßig hierherkommen, es sich finanziell aber nicht leisten können, hier zu wohnen. Wir bekommen Tipps, wie wir am besten Richtung Brügge fahren, wo wir im Industriegebiet unser Kochgas nachkaufen können. Zwei Stunden Zeit, um zu duschen und sich einigermaßen “stadtfein” zu kleiden. Endlich kommen Wimperntusche, Lidschattenstift und Augenbraunpuder zum Einsatz. Scheinen aber keinerlei Wirkung zu haben – Christian bemerkt die sanfte Restaurierung nicht und meine Freundin staunt sowieso nur über unsere dunkelbraune Gesichtsfarbe. Wenn das man kein gelungener Bluff ist: Erholt aussehen, obwohl man’s nicht wirklich ist. Aber mein Schatz, natürlich merke ich nichts! Ich bin dann letzten Endes doch nur ein Kerl. Du merkst ja auch nicht, welche Sorte von Öl ich an den Pfoten habe. Überhaupt staune ich, dass ich so unprätentiös und uneitel sein kann und mich trotzdem beinahe wohl fühle. Ehrlich gesagt ist es mir egal, dass ich klobige Treckingschuhe in verschmutztem Grau, statt luftige Sandaletten zu einem meiner Lieblingskleider trage. Normalerweise sind nämlich Schuhe und Handtasche farblich aufeinander abgestimmt, passen perfekt zum Kleid, genau wie der Lippenstift. Und natürlich gehe ich nicht aus dem Haus, ohne die Haare so perfekt wie möglich in Form gebracht zu haben. Hilfe, ich vergammle!
Nachdem ich endlich ein neues Fahrradschloss gekauft habe, bekommen wir eine kleine Führung durch das touristisch ziemlich überlaufene Haltern Am See. Dann gibt’s noch einen Ausflug zum Silbersee (der im Sommer so von Besuchern im Umkreis von 50 Kilometern überfüllt ist, dass die Anwohner schon längst nur noch nach Sonnenuntergang oder unter der Woche zum schwimmen in die ehemalige Sandgrube kommen). Anschließend fahren wir zum kleinen Yachthafen von Haltern, trinken mit Blick über den See auf einer netten Terrasse Mangoschorle, Weißwein und Radler.
Fünf Stunden Zeit hat sich meine Freundin für uns genommen. Fünf kostbare Stunden, die eigentlich noch zu wenig sind. Während sie um halb zehn zurück an den Schreibtisch muss, um ihre Seminare an der Uni für den folgenden Tag vorzubereiten, radeln wir entspannt durch die Dämmerung und durch den Wald zurück zu unserem Campingplatz. Und wie endet ein entspannter Abend? Richtig. Kompliziert. So gehört es sich einfach. Und deswegen stehen wir vor dem verschlossenen Eisentor. Es ist 22.30 Uhr, überall dunkel und keiner der Dauercamper führt seinen kleinen Köter zur Gutenachtrunde Gassi. Während ich mich schon lässig über das Tor klettern sehe (ohne genau zu wissen, wie ich das eigentlich bewerkstelligen soll), fummelt Christian mit unserem Hausschlüssel am Schloss rum. Es macht klack – und mit einer höflichen Verbeugung lässt mich mein Held eintreten. Ich bin fasziniert, begeistert und noch ein bisschen mehr verliebt als sowieso schon. Natürlich kommt in der Sekunde der Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner ein letztes Mal das Bein heben lässt und einer der Dauercamper fährt im Schritttempo mit seinem uralten Opel auf den Platz… Gute Nacht, Freunde. Es war ein ziemlich vollkommener Tag und die Zeit die uns Tinas Freundin geschenkt hat, macht mir wieder bewusst, dass Zeit eben ein unglaublicher Luxus sein kann. Wir haben im Moment diese Zeit und ich möchte an dieser Stelle mal ganz herzlich all jenen danken, die sie uns ermöglichen.
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siehst du diese Farbe, liest du meine Gedanken oder Anmerkungen zu Christians Text.
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Oh ja, so kann es gern weiterlaufen. Heute passt einfach Alles!
Die Stimmung ist gut, das Fass schnell geräumt und da das Zelt noch Zeit zum trocknen benötigt, können wir ganz in Ruhe trödeln und kommen so zwar erst um 11:30 Uhr vom Platz, dafür aber sehr entspannt.
Der nächste Supermarkt ist schnell gefunden und so versorgen wir uns erst einmal mit Frühstück und dem notwendigen Reiseproviant. Aus Tinas Packtaschen bauen wir uns einen Frühstücksraum direkt auf dem Parkplatz der Freiwilligen Feuerwehr von Bad Rothenfelde, die gestern während des Unwetters wahrscheinlich im Dauereinsatz war. Und weil heute hier alles so ruhig ist, philosophieren wir ein bisschen über das architektonisch wirklich schöne Gebäude. Grauer Backstein mit dezenten roten Elementen, d.h., pro Fensterrahmen eine rote Leiste. Irgendwie fast schick.
Der heutige Fahrtag steht gerade noch überhaupt nicht fest. Wir haben zwar ein Zwischenziel, nämlich Haltern am See, das ist aber insgesamt nur 95 Kilometer entfernt. Also steht die Frage im Raum, heute kurze Etappe, dafür morgen eine längere, oder heute lang und morgen kurz?
Ein Campingplatz liegt vor dem Ort Senden und einer dahinter. Wir knobeln, kommen aber auf Grund des Unwissens über unsere Fitness zu keinem eindeutigen Ergebnis. Da beide Plätze fast direkt auf der Strecke liegen, entscheiden wir später zu entscheiden. Klingt sinnvoll. Alter Schwede, sind wir flexibel.
Ich hoffe, ich liege richtig mit meiner Ortsbezeichnung, denn wo das Münsterland anfängt, aufhört und mittendrin ist, scheint keiner so genau zu wissen. Wir schon gar nicht. Jedenfalls hat uns das Münsterland lieb und unser treuer Begleiter, der Rückenwind, ebenso. Es läuft alles wie am Schnürchen. Kleine, idyllische Ortschaften wechseln sich ab mit kleinen, idyllischen Wäldern, mit kleinen, idyllischen Äckern, mit kleinen, idyllischen Bächen… ach, nach dem Ruhetag ist irgendwie alles idyllisch und so überfahren wir die Grenze nach Nordrhein-Westfalen, ohne es überhaupt zu bemerken. Keine unnötigen Pausen, keine kräftezehrenden Berge, nur ein bisschen Spießigkeit und dank des Navis kaum Verkehr. Schon witzig, dass ich da vorgestern noch im Schlusssprung reinhopsen wollte.
So landen wir auch in Rekordzeit in dem kleinen, und sehr süßen Städtchen Telgte – gesprochen Tellchte –, das wir kurzerhand zum Mittagspausendomizil erklären. Kurze Rechnung: Es ist knapp 14 Uhr und wir haben tatsächlich schon Halbzeit. Und das, obwohl wir erst um 12:15 Uhr Bad Rothenfelde gestartet sind. Looft! So können wir die Zeit noch für ein paar andere Dinge nutzen und Tina besorgt sich in der Apotheke ein Super-Spezial-Kunststoffpflaster, da ihr Sensor sich abzulösen droht. So Super-Spezial, dass es auch knapp 15 Kilometer halten wird. Ich hingegen kümmere mich um die wirklich wichtigen Dinge im Leben und kaufe ein Eis, bei einer sehr jungen Verkäuferin, die mir für vier Kugeln dann auch echt zwei Euro abnehmen möchte. Ich rechne nach und flüstere ihr dann zu ¨Nee, vier Euro! ” Ihr Chef verdreht die Augen und erwartet, dass wir es ihm von den Lippen ablesen: “Sie ist noch neu.” Das Mädchen wird rot, wir nicken und versichern, alles prima. Ich kann Gewicht von meiner Geldbörse in meinen Magen um verlagern (was übrigens viel zentraler und schwerpunkttechnisch auch optimaler ist), Tina hat ein enttäuschendes Pflaster Für zehn Euro, der Eisdielenchef (natürlich Italiener) vier, statt nur zwei Euro mehr in der Kasse und die junge Dame bald garantiert wieder mehr Tagesfreizeit. Top! Alle zufrieden, dann ab aufs Rad gen Münster. Zu Münster sei gesagt, dass hier nicht nur der beliebteste “Tatort” Deutschlands entsteht, sondern dass es auch eine der fahrradfreundlichsten unseres Landes ist. Mein Navi schlägt uns trotzdem die Umfahrung vor und so werden wir es vermutlich nie erfahren.
So stoppen wir erst wieder in dem südlichen Vorort Angelmodde, das uns mit seinem durchquerenden Flüsschen zu einer kleinen Hitzepause einlädt. Hier können wir allerhand seltsames Getier beobachten, allem voran eine Dame, die in kompletten Sätzen zu ihrem extrem übergewichtigen Kinderersatz namens Hund spricht und sich sehr darüber ärgert, dass Daisy ihren komplexen Ausführungen nicht folgen kann. Warum greife ich an solchen Stellen eigentlich nicht freundlich und bildungsbewusst, sprich besserwisserischer ein? Erkläre der Zweibeinerin am Ende der Leine, dass ihre Daisy nur deswegen immer das angeblich falsche tut, weil sie verwirrt ist von Frauchens Unsicherheit? Ach, ihr Hundeshalter dieser Welt. Hört endlich auf, eure Tiere zum Kinderersatz zu degradieren. Lest einfach mal ein Buch, wie z.B. Hunde funktionieren. Ich bin sicherlich kein Experte, aber ein vorwurfsvolles “Daisy! Jetzt hör aber mal auf, da geht es doch nicht lang. Du musst doch nicht immer da gehen, wo du nicht sollst. Und jetzt komm endlich, hier lang.” -, KEIN noch so kluger Hund dieser Welt versteht auch nur ein Wort. Ich habe ungefähr sechs Kilometer lang darüber nachgedacht, mit wem ich mehr Mitleid habe: Mit Daisy oder ihrem Frauchen. Am Ende siegte Daisy. Und just in dem Moment als Tina wieder antritt, um einen kleinen Berg zu überwinden, hält mich auch noch eine Dame an, die auf dem geliehenen Rad ihrer Schwägerin unterwegs ist. Sie bittet mich, ihr den Sattel nach oben zu stellen. Mein Christian, dein Freund und Helfer. Er wollte ihr eigentlich den Lenker höher stellen und ist sicher, dass der Sattel viel zu hoch war. Aber weiblicher Überredungskunst ist er nun mal nicht gewachsen und erfüllt dann eben jeden noch so bekloppten Wunsch. Ich darf das sagen, denn ich weiß genau, wovon ich rede. Durch diese Begegnungen werden wir den ersten großen Verlust dieser Tour erst später auf dem nächsten Campingplatz bemerken. Unsere wilde Fahrt durch die Münsteraner Umgebung geht noch einmal drei Kilometer weiter und wir halten als letztem Zwischenstopp an einer Apotheke, in der sich Tina von Ihrem Super-Spezial-Kunststoffpflaster trennt und es gegen ein braunes Pflaster von der Rolle ersetzt, das übrigens bis zum Ablauf des Sensors halten wird. Und garantiert noch weit darüber hinaus. Es geht doch nix über den schicken Leukoplasten. Unglaublich unsexy, dafür wahnsinnig wirksam.
Perfekt ausgerüstet, noch immer gut gelaunt, sind wir bereits am ersten Campingplatz der heutigen Etappe vorbei gerauscht und entscheiden uns für die Variante heute lang, morgen kurz. Was in Zahlen bedeutet: Nach 73 Kilometern landen wir dann gegen 19.15 Uhr auf dem heutigen Platz, der uns neben den üblichen Dauercampern zusätzlich aber mit einer Hütte für Radfahrer überrascht, die uns den Zeltaufbau erspart. Stell ein schnödes Gartenhaus auf einen Zeltplatz, nenn es Bike&Bed und Schwups, machst du zwei Radler überglücklich. In der Hütte stehen zwei etwas massivere Feldbetten, die wir zusammenrücken und somit die zweite Nacht in Folge fast wie zu Hause nebeneinander einschlafen können. Ein Vordach, ein Grillplatz, Strom, Wasser am Platz und ein dicker Niederländer, der den ganzen Abend Fernsehen auf seinem Smartphone schaut, während seine Frau in Ruhe ihren vierten Pullover des Urlaubs strickt. Urlaub auf niederländisch. Wie schön. Wir fahren noch einmal in die Baustellenstadt Senden, um uns für Abendessen einzudecken, kochen, duschen und nach exakt keiner Flasche Wein (stand zwar auf dem Zettel, hat es aber nicht in die engere Auswahl geschafft) zum Kniffeln gehen wir ziemlich zufrieden ins Bett. Nur eines fehlt: Tinas Fahrradschloss. Das liegt irgendwo in Münster und friert und ist allein… Abgehauen ist es, das dumme Ding. Weil es sich gelangweilt hat. Dabei habe ich ihm extra einen Außenplatz, direkt an der linken Satteltasche geschenkt. Freie Sicht auf alles! Und, was tut es, das undankbare Schloss? Ich bin empört. Enttäuscht. Und sehr sehr traurig. Hörst du, ABUS-9562? SEHR traurig!
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Eigentlich wollte ich an Ruhetagen über die vergangenen Fahrtage schreiben und nicht über den Ruhetag selbst. Da sich hier in Bad Rothenfelde jedoch trotz Sonntag und verordnetem Ruhetag das ein oder andere ergeben hat, vielleicht doch ein paar Kommentare. Der erste Regen der Tour und dann gleich ein Unwetter. Wir merken schon heute morgen beim Schreiben, dass sich etwas zusammenbraut. Außerdem steht noch etwas auf dem Plan, was ich gestern nicht umsetzen konnte: ein Bett. Denn auch in der letzten Nacht mussten wir im Zelt schlafen. Aber es gibt hier eine ganz neue und vor allem tolle Unterkunft, die aber in der letzten Nacht belegt war. Und zwar: Trommelwirbel… ein Fass! Richtig gehört, ein Fass. Aber mal von Anfang an.
Ganz Deutschland feiert heute Muttertag. Auch wir denken natürlich an unsere Mütter und übermitteln ihnen unsere Grüße per SMS. Allerdings läuft der Stimmungsmotor trotz des tollen Platzes, der netten Menschen und Begegnungen noch nicht wieder Hochtouren. Lieb untertrieben. Es läuft mehr als untertourig. Die Tour schlaucht einfach sehr und wir spüren unserer Körper geradezu aufdringlich. Wie ist eigentlich so ein Leben OHNE Rückenschmerzen und dem Dauergefühl, erschöpft und müde zu sein? Ich bitte um Verzeihung fürs lautstarke Lamentieren, aber man darf ja wohl darüber empört sein, auch nach mittlerweile über 700 gestrampelten Kilometern nicht müde genug zu sein, um wie ein Stein zu schlafen.
Also beschließen wir, als um 13:30 Uhr der Regen einsetzt, das Restaurant zum Schreiben zu okkupieren. Schnell richten wir uns ein (wie üblich chaotisches) Feldlager ein, bestellen uns leckeres Essen und beginnen mit der Schreiberei. Draußen wird der Regen immer stärker, was wir aber im Gewölberestaurant kaum zur Kenntnis nehmen. Tina war heute morgen nach dem Aufstehen gleich in der Rezeption, um ein Fass zu buchen. Der Preis schlägt mit 25 Euro/Nacht dem Fass auch nicht den Boden aus und wir hatten schon einen Campingplatz, da wollten die Betreiber das Gleiche für vier Quadratmeter harten Boden haben.
Draußen wir der Regen immer stärker… Drinnen setzt er zwischenzeitlich auch mal wieder ein. Ich sag nur: Übermüdung + Hormone + Hunger. Unsere freundlichen Bedienungen retten uns vor dem Hungertod und damit den kompletten Stimmungsabsturz. Nach gegrilltem Fisch an Salzkartoffeln und in Sauce Hollandaise ersäuften Bohnen schreibt es sich plötzlich viel leichter und beim abschließenden Megakniffel macht mir das verlieren nix aus. So beschließe ich mich einmal an der Rezeption nach der Bezugsfähigkeit unseres Fasses zu erkunden. Ein bisschen Verwirrung, da die Dame von heute Morgen in die Dame von heute Nachmittag gewechselt ist. Sie drückt mir einen Schlüssel in die Hand und sagt aber gleich, die Fässer sind von der letzten Belegung noch nicht gereinigt. Eventuell müssten wir uns die Bettwäsche selbst neu beziehen. Ich gehe zum Fass, schaue rein – sehr geil. Das will ich und wenn ich ich die Bettwäsche für heute Nacht erst selber häkeln müsste. Also stapfe ich durch den Regen zurück zur Rezeption, wo sich jetzt die Verwirrung gelegt hat und die liebe Helga Bartels mir einen Schlüssel für ein anderes, bereits gereinigtes Fass in die Hand drückt. Der Regen wird stärker.
Ich gehe zum neuen Fass Nummer 4 und bin genauso begeistert wie gerade eben. Nur eben mit sauberer Bettwäsche. Also gehe ich zurück und verkünde: ¨Gekauft, und ich zieh da nie wieder aus!¨ Der Regen wird noch ein bisschen stärker.
Ich wandere zurück ins Restaurant, um Tina die frohe Botschaft zu verkünden und deute an, bei der nächsten Rauchpause unsere Sachen aus dem Zelt in das Fass zu räumen. Während ich noch 30 Minuten schreibe, wird der Regen noch stärker. Draußen geht inzwischen die Welt unter. Die A2, das erfahren wir am nächsten Morgen, war wegen Überschwemmung mehrere Stunden gesperrt. Auch unserem Zelt und unseren Packtaschen droht der Ertrinkungstod, den Christian allerdings heldenhaft zu verhindern weiß. Und weil dieses ehemalige Waldkrankenhaus so genial konzipiert ist, kann man trockenen Fußes durch den halbkreisigen Bau vom Restaurant bis zur Rezeption wandeln. Großartig.
Als ich endlich beginne die Sachen umzuräumen, kann ich vor Regen die 40 Meter entfernten Bäume kaum noch sehen. Nach zwei von acht Packtaschen bin ich klitschnass. Nach acht von acht ist mir unglaublich kalt. Nur die Vorfreude auf das heutige Bett hält mich überhaupt noch bei Bewusstsein! Also beschließe ich duschen zu gehen. Also gleich nach dem Schreiben… und dem Kniffeln und überhaupt wenn es aufgehört hat zu regnen. Gaaaanz in Ruhe sozusagen. Als wir dann gegen 20 Uhr unsere Zelte abbrechen: Regnet es – nicht mehr.
Als ich am nächsten Morgen ins Zelt gucke, sehe ich, welcher nassen Nacht wir entgangen sind. Obwohl… Chance vertan, um auf einem Wasserbett zu schlafen. Der Regen, der uns kein einziges Mal während der Tour heimsuchte, fiel an diesem Ruhetag gesammelt. Während ich also im warmen und gemütlichen Gewölbekeller sitze und meine Sicht der Dinge schreibe, ersäuft mein geliebter Lebensmensch beinahe, ohne dass ich es auch nur ahne. Ja, es grollt ein bisschen gewitterig, aber tief unter der Erde, bei Weißwein Nummer zwei, ist das komplette Unwetterausmaß nicht mal zu erahnen. Was für einen unendlich fürsorglichen Mann ich an meiner Seite habe, weiß ich schon lange. Aber heute wird es mir einmal mehr bewusst, als er mich zu unserem Fass bringt: ALLE unsere Sachen sind sicher und trocken da, wo wir sie brauchen. Danke, Mister Lifeguard.
Lassen wir also mal Revue passieren. Die gestern von Tina ausgeschlagenen Übernachtungsmöglichkeiten wären alle keine wirkliche Option für einen Ruhetag gewesen. Hier kann man folgende Schlussfolgerung ziehen: Hör auf das Bauchgefühl Deines Weibes, wenn Du selber schon keines hast! Danke Tina, es war ein fantastischer Ruhetag.
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Christian
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Eigentlich hatte ich den Campingplatz im Weserbogen für einen Ruhetag ausgesucht. Aber irgendwie passt es nicht. Wie so oft, gibt es auch hier keinen Platz, an dem man vernünftig kochen oder gar schreiben kann. Eine Tatsache, die uns ein bisschen stört und mich echt verwundert. Werden es doch gefühlt immer mehr Reiseradler und die sind nun einmal hauptsächlich mit dem Zelt unterwegs. Oder täusche ich mich da? Du täuschst dich an dieser Stelle. Und zwar gewaltig. Wir haben bislang gerade mal vier Reiseradler getroffen und gesprochen, und zwei an uns grußlos vorbei rauschen sehen. Was ich schon enttäuschend finde. Warum also auf den Campingplätzen Sitz- und Kochmöglichkeiten zur Rarität werden… ich weiß es nicht. Aber ich. Ok, nicht wissen, aber vermuten. Für mich liegt es auf der Hand: Robuste Sitzmöglichkeiten inklusive Tisch brauchen Platz und kosten Geld. Den Platz eines Zeltes. Und weil es mit einem Sitzplatz-Ensemble pro Campingplatz nicht getan ist, verzichtet man auf Kosten, um weitere Einnahmen verbuchen zu können. Die inzwischen gemachten Erfahrungen sprechen allerdings ein wenig für sich. Denn gerade die kleineren Plätze bieten oftmals ein ursprünglicheres Campingerlebnis, wohingegen sich die großen, wie z.B. der Weserbogen, auf Strandbad, Gastronomie und vorwiegend Caravans zu konzentrieren scheinen. Also könnte man davon ausgehen, dass wir primär kleinere Campingplätze anfahren sollten, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Heute sollte es aber mal wieder ganz anders kommen.
Wenn ich morgens die Route plane, weiß ich nicht genau, was mich erwartet. Ich habe eine ungefähre Distanz, die ich zu planen versuche, suche auf der Strecke nach Einkaufsmöglichkeiten und schaue, dass ich uns von den großen Hauptstraßen fernhalte. Und genau diese Punkte machen die Planung mitunter schwierig. Schwierig, aber lebensrettend! Zwar sehe ich auf dem Navi, wo Berge unseren Weg kreuzen und auch grob, wie hoch die sind, aber selten kann ich die sie überquerenden Straßen einschätzen. Wie also der Belag aussieht, wie die Steigung und ob uns an den Straßenrändern wilde Tiere oder Drogendealer erwarten, verrät mir mein Navi nicht. Ich stelle dann eine Liste von zu durchfahrenden Ortschaften zusammen und klemme sie mir an die Karte, um nicht ständig auf das Telefon/Navigationsgerät schauen zu müssen. Mit ein bisschen Glück finden wir dann Radwege zu diesen einzelnen Zwischenzielen, das ist aber bislang nicht immer der Fall gewesen. Je nachdem, wie sadistisch der Radwegplaner gewesen ist, kommen manchmal dann mehr oder (gaaaaanz selten) weniger Kilometer am Ende zusammen. Plane ich 55 Kilometer werden es im Normalfall 60 oder 65 und das ganz ohne Verfahren. Dabei macht das Navi einen echt guten Job und leitet uns oft durch abgelegene Wälder auf meistens sehr gut befahrbaren Straßen. Aber nur Wald, nur Dorf oder nur Kanal ist eben genauso langweilig wie nur Stadt. Daher meine Umplanung nach Ortschaften, um wenigstens einmal ein bisschen Abwechslung in die Route zu bekommen. Was mich das mitunter nervt! Ausgewiesener Radweg – und wir nehmen trotzdem die Abbiegung. Nicht selten habe ich das Gefühl, wir fahren Umwege. Trotzdem kommen wir unterm Strich immer an. Erstaunlich, irgendwie.
Als wir heute morgen losfahren, ist wiedermal alles doof. Der vierte Fahrtag in Folge, wir fühlen uns mal wieder ein bisschen abgezockt, kein Frühstück. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Tag startet nicht wirklich gut. Beide haben wir keine gute Laune und die wird auch nicht besser, als wir nach Bad Oeynhausen hereinfahren. Obwohl das Wesertal uns eine wunderbare Auenlandschaft bietet, donnern über uns die Bahn und A2 hinweg und machen das navigieren wieder einmal unmöglich. Dass wir vorher vier Kilometer in die falsche Richtung mussten, um uns mit etwas Essbaren zu versorgen; dass sich der Himmel zuzieht und die Temperatur irgendwo zwischen kochend heiß und eiskalt liegt, verschlimmert meine Laune zusätzlich. Wir fahren mal wieder entgegen der roten Pfeile, eine Gruppe Rentner auf ihren E-Bikes fahren meiner Meinung nach in die richtige Richtung. Ich wage aufgrund der angespannten Stimmung aber keine Bemerkung zu machen, ahne aber, was passieren wird. So landet das Handy nach einer fehlverstandenen Navigationsaufforderung auch bald irgendwie aus Versehen im Acker neben dem Radweg. Dieser kleine cholerische Anfall sorgt dann auch für eine Zwangspause, die wir damit verbringen, Smartphone-Ostern zu spielen. Mit Argusaugen verfolge ich die sanfte Flugkurve des inzwischen echt olle Smartphone mit seiner bedauernswerten Spiderapp im Display. Ich gewinne die Suche und überreiche unseren doch eigentlich so treuen und zuverlässigen Lotsen an mein Rumpelstilzchen. Danke übrigens für die kleine Frust-Eruption. Sie hat geholfen, meine eigenen Befindlichkeiten zu vergessen. Offensichtlich habe ich die Gefühle meines elektronischen Begleiters aufs Ärgste beleidigt, denn nun fängt er an, uns im Zickzackkurs bergauf, bergab an Windkraftanlagen und durch hässliche Spießerreihenhaussiedlungen zu navigieren. Das hat zur Folge, dass unsere Kräfte schwinden und die Stimmung zu kippen droht. Und noch einer droht: Der Himmel über uns zieht sich ein ums andere Mal fürchterlich zu und scheint sich für einen gewaltigen Regenschauer zu sammeln, der uns dann aber doch den ganzen Tag erspart bleiben wird. Wenn die Tour zur Tortur zu werden droht, dann weißt du, dass irgendwas gerade ziemlich schief läuft. Einziger Trost ist das Wissen, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer werden kann. Kaum sind wir aus dem Wesertal raus, müssen wir uns durch den Teutoburger Wald kämpfen, der aber im Gegensatz zum völlig überbevölkertem Tal mit viel wunderschöner Natur und weiter Landschaft protzt. So wie die Umgebung wechselt auch unsere Stimmung plötzlich. Klar, wir sind immer noch erschöpft, aber wenigstens können wir wieder durchatmen und trotz der teils saftigen Steigungen unseren Gedanken freien Lauf lassen. Die Ruhe tut gut und macht das, was sie soll, beruhigen. Die Dörfer werden wieder hübscher, verlassener und vor allem langsamer. Da Tina heute morgen mit heftigen Rückenschmerzen aufgewacht ist und im Moment in den Nächten sowieso nur halbherzig schläft, habe ich großmeisterlich angeordnet, für heute eine Pension zu suchen. Diese Blöße hätte ich mir nie gegeben. Bin schließlich ein Kampfschwein. Allerdings ein ziemliches müdes und durch den unruhigen Halbschlaf dünnhäutiges. Außerdem wird es auch für mich einfach mal wieder Zeit in einem richtigen Bett zu schlafen. Allen Nachahmern sei geraten, Kuscheldefizite frühzeitig im Keim zu ersticken. Ansonsten besteht nämlich die Gefühlsgefahr, einen Kampfeinsatz irgendwie überstehen zu müssen, statt sich gemeinsam an einem Abenteuer zu erfreuen. Ich hatte im Vorfeld eine Ferienwohnung in Barnhausen herausgesucht. Aber Holländer kommen uns zuvor, die dort mit zwei Familien eingefallen sind. Also weiter ins nächste Dorf, das mit einer Pension und einem Gutshof aufwartet. Die Pension finden wir nicht und die Gutshofangestellten zeigen sich aufgrund einer Familienfeier nicht sonderlich interessiert an uns. Abgesehen davon hätte ich da nicht bleiben wollen. Es roch nach mehr als hochpreisig und dazu spießig. In der Stimmung bin ich gerade so gar nicht.
In der nächsten Stadt stimmt dann aber auch gar nichts. Das dortige Hotel strahlt eine Kerkerstimmung aus und auch wenn es sicherlich für eine Nacht okay gewesen wäre, einen Ruhetag wollen wir beide dort nicht verbringen. Bleibt also nur noch eine kleine Pension, die von einer Mittsiebzigerin geführt wird, die scheinbar hauptsächlich damit beschäftigt ist, dem Mobiliar aus ihren Kindheitstagen beim Altern zuzusehen. Umso erschreckender ist auch die folgende von Tina ausgeführte Preisaufstellung. So eine Anhäufung an altersmuffigen Ausstattung für 54 Euro anzubieten – natürlich mit Frühstück, junge Frau -, das muss man sich auch erst mal trauen. Ich spüre schon beim ersten Blick auf das Haus sich kräuselnde Zehennägel, nur Christian zuliebe klingle ich. Als sie öffnet, würde ich am liebsten so tun, als hätten wir uns geirrt. So aber folge ich ihr über eine schmale, steile, Teppichbelegte Treppe ins Obergeschoss, wo über allem der Geruch von Mottenkugeln hängt. Gruselig. Nennt mich Prinzessin auf der Erbse – mir doch egal. Nicht mal für Geld würde ich hier übernachten. Mir ist inzwischen schon alles egal. Ich hätte auch diese Pension genommen, nur um mal wieder ein Bett für uns zu haben. Aber Tina will nicht bleiben und drängt darauf, den nächsten Campingplatz anzusteuern, der ganz sicher nicht meine erste Wahl ist. Das Campotel in Bad Rothenfelde. “Campotel”, das hört sich ja schon an wie Luxuscamping auf der an ein Luxushotel angrenzenden Wiese. Auch die Kartenbilder meines Navis sehen eher aus wie eine große Golfanlage, nicht wie ein Campingplatz. Aber gut, einer muss Chef sein und heute bin ich es nun einmal nicht. Also spure ich und rechne die letzten 15 Kilometer durch, die uns zum Glück nur noch bergab aus dem Teutoburger Wald ins Münsterland führen. Zumindest körperliche Höchstleistungen sind jetzt nicht mehr gefragt. Für mich sind diese 15 Kilometer die leichtesten des ganzes Tages. Ob pure Verzweiflung die Restkräfte mobilisiert oder mein Biorhythmus gerade die Sinuskurve hochklettert. Es radelt sich quasi wie von selbst.
Und dann stehen wir plötzlich vor den Toren eines Campingplatzes, der Bettmar in meiner persönlichen Liste leider auf Platz 2 verdrängen wird. Denn das Campotel ist weder spießig noch teuer, noch ist es überhaupt ein Hotel. Dafür aber purer Campingluxus. Was erst mal einen Enttäuschungsschauer über meine sonnenverbrannten Handrücken jagt. Ich bin bereit, die goldene Kreditkarte zu zücken, nur um mal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu dürfen. Und was sagt die fröhlich-freundliche Martina Kraft an der Rezeption: “Haben wir – sind aber alle belegt.” Ich drohe ihr, mich auf den Boden zu werfen und die Luft anzuhalten. Was sie mit einem lächelnden Schulterzucken und den Verweis, sie würden auch Eis verkaufen, pariert.
Superfreundliches und wahnsinnig gut gelauntes Personal, ein liebevoll und durchdachter eingerichteter Platz von Jemandem, der offensichtlich wirklich Ahnung von den Bedürfnissen der Camper hat. Das aus einem ehemaligen Waldkrankenhaus und anschließender Bereitstellungskaserne der Bundeswehr geformte Areal bietet alles, was unsere Herzen begehren. Eine tolle Campingwiese, superschöne sanitäre Anlagen und zu allem Überfluss auch noch ein tolles Restaurant mit leckerem Essen und fantastischer Bedienung. Puh! Das sind dann doch mal ein bisschen sehr viel Superlative für meinen Geschmack. Darf ich freundlich an die drei Nachbarzelte mit den insgesamt neun Kindern zwischen vier und 13 Jahren erinnern, die von sich selber sagen, sie seien laut? Hm? Schon vergessen, dass in vier Toiletten das Wasser durchgehend lief, bzw. die Toiletten deswegen nicht zu nutzen waren? Ja darfst Du. Aber die Kinder haben nicht wirklich gestört und in den Damenklobereich setze ich eh nie einen Fuß. Bei den Männern war alles Bestens. Männer halt. Wir sind da viel ordentlicher. Als wir dann abends nach der wohltuenden Dusche beim Essen sitzen, kommen wir mit einem Holländer ins Gespräch, der uns den weiteren Verlauf unserer Reise sehr schmackhaft macht und in uns große Vorfreude auf die Niederlande weckt. Mit seinem rumänischen Hund, einer nicht funktionierenden EC-Karte und viel Lebenserfahrung versüßt er uns diesen doch sehr anstrengenden Tag und gibt uns viele praktische Tipps zu Zielen, die wir in den Niederlanden unbedingt ansteuern sollen. Viel mehr Ziele, als unsere Zeit herzugeben scheint. Der Holländer, mindestens 75, hat genau den Humor, der unseren deutschen Landsleuten so oft fehlt. Und dann der Akzent. Zum verlieben charmant. Und ja, die Service-Kräfte sind wirklich klasse. Vergessen zwei Mal hintereinander Christians Bestellung … Hat hier gerade jemand Nörgelliese gesagt?!Nörgelliese! Der junge Mann war erst seit einer Woche im Geschäft und hat sich vielfach entschuldigt. Außerdem ist die Vergesslichkeit im Laufe des Aufenthaltes irgendwie zum Running-Gag geworden. Unterm Strich werde ich nicht widersprechen. Im Gegenteil. Ein wunderbarer Platz. Dass ich gerade an diesem Tag mit dem linken Fuß aufgestanden bin, dafür können Vater (76), Mutter (75) und Kind (49) ja nichts. Dennoch. Die drei haben mich komplett aus der Fassung gebracht, als sie das Vorzelt ihres großen Karavans erst mit Teppich auslegen und anschließend unter Muttis jammerigen Vorwürfen erst den Kühlschrank mit Gefrierfach und anschließend die Wohnzimmergarnitur aus Plastik aus dem Transporter wuchten.
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Bedauerlicherweise können wir uns am folgenden Morgen nicht von der quirlig-herzlichen Birgit verabschieden. Vermutlich streift sie mit ihrer weißen Schäferhündin durch die Wiesen vom Erlengrund, diesem verzauberten Ort, irgendwo im Nirgendwo. Es geht gleich mit einer Steigung los, die mich spüren lässt, wie erschöpft ich bin. Meine Oberschenkel scheinen sich in den vergangenen sieben Tagen verdoppelt zu haben, sind krachhart und mit meinem Hintern könnte ich inzwischen vermutlich Nüsse knacken.
Die härteste Nuss des Tages allerdings, die hat Christian zu knacken. Weil mich mitten im Wald, etwa acht Kilometer von Bückeburg entfernt, eine gigantische Erschöpfungswelle überschwemmt (wir erinnern uns – ich trage den Titel Dramaqueen nicht zum Spaß! Wer das nachlesen möchte: sehr ausführlich unter www.millas-Blick.de beschrieben). Auf einem nach Harz und Wärme und Sommer riechenden Holzstamm sitzend, heule ich mir die Augen aus dem Kopf. Weltschmerz. Lebenskatastrophe. Sinnesverzweiflung. Von Allem in großen Portionen. Oh ja, ich weiß sehr genau, wie ich einen perfekten Vormittag ruinieren kann. Ganz im Ernst: Blauer Himmel, Sonne und nicht mal der Hauch einer zivilisatorischen Störung. Nur absolute und unbedingte Stille. Lediglich durchbrochen vom zarten Summen einer Biene. Oder dem kurzen Tschilpen eines sorglosen Vogels. Und da, aus heiterem Himmel, ist sie da die große Panik vor – sucht euch was aus, liebe Gemeinde der 40+. Ohne das blöde W Wort zu bemühen: Steckt nicht in jedem von uns immer mal wieder ein bisschen Weltschmerz?
Doch dann erreichen wir Pollenhagen. Ein kleiner Ort im Nirgendwo, verschlafen, wo scheinbar nur noch die Alten und die ganz Alten leben. Wo Anneliese mit einer Kollegin (vielleicht ist es ihre Schwester, vielleicht ihre Schwägerin. Wir haben es leider nicht rausgefunden) den kleinen EDEKA mit freundlichstem Fleiß täglich aufschließt. Frische Brötchen, frischen Aufschnitt, frischen Käse, aber auch Dosen- oder Tütensuppen, Kosmetikartikel und Keramika verkauft. Das, was früher als Tante-Emma-Laden bezeichnet wurde. Wir kaufen Brötchen und Aufschnitt und Christian fragt, ob er einen Kaffe haben kann. Was dann passiert, wird uns noch bis Ende der Tour als die Episode “Anneliese” in Erinnerung bleiben: Besagte Verkäuferin / Ladenbetreiberin verschwindet mit einem fröhlichen Lächeln hinter der Fleischtheke und taucht viele Minuten später mit einem Becher Kaffee in der Hand auf. Frisch aufgebrüht. Bezahlt haben wir 1 Euro (in Worten einen). Und während Christian noch an der Fleischtheke wartet, komme ich mit Annelieses Kollegin ins Gespräch. Sie verkauft mir eine Schachtel PallMall ohne Zusätze, ich fühle mich bemüßigt zu betonen, dass die Kippen nicht für mich sind, weil ich nämlich vor 5 Kilo aufgehört habe zu rauchen, und sie erzählt mir mit einigem Stolz, dass sie nie geraucht und deswegen auch nie Gewichtsprobleme gehabt hat. Sie hat früher Konfektionsgröße 34 getragen und jetzt, mit Ende 50, tut sie es immer noch. Naja, so genau wollte ich es dann eigentlich doch nicht wissen.
Ich frage beim bezahlen, ob wir mit unseren Brötchen und dem Kaffee auf der kleinen Mauer vor dem EDEKA sitzen und frühstücken dürfen. Wir dürfen. Mit dem 1-€-Kaffee, zwei Brötchen für jeden mit Aufschnitt sitzen wir also auf der Mauer, auf der Lauer und fühlen uns ein bisschen wie im Kino: Heinz kommt in seinem dicken Mercedes aus den späten 90er Jahren und hält direkt vor dem Fenster neben dem EDEKA. Das Fenster öffnet sich, ein Mann jenseits der 80 guckt raus und dann wird erst mal ausgiebig gesprochen. Leider zu leise, um zu verstehen, worum es geht. Eine voluminöse Frau, von der wir nicht wissen, ob sie die Mutti oder die Omma von der etwa 4-Jährigen an ihrer Hand ist, stellt fest, dass der kleine blonde Fratz seine Trinkflasche hat fallen lassen. Die ist unters Auto gerollt. Keine 10 Zentimeter von der Beifahrertür entfernt. Wir sehen sie. Mutti (oder Omma, wer weiß es schon so genau) sieht es auch und handelt. Nein, sie kniet nicht nieder, um mit ausgestrecktem Arm die Flasche zu angeln. Nein. Sie steigt ein, fährt vor, steigt wieder aus, hebt die Trinkflasche auf, putzt den Schnuller an ihrer wallenden Hemdbluse ab, öffnet die hintere Tür, reicht dem Kind die Flasche, steigt vorne wieder ein und fährt. Ja. Genauso ist es gewesen, in Pollenhagen, Mittags gegen 13 Uhr.
Bei aller Fröhlichkeit und Abenteuerfreude: Tag für Tag um die 100 Kilo Gewicht nur Kraft seiner Beine von A nach B zu transportieren, ist nun mal kein Urlaub. Wir reden hier nicht ausschließlich von Tina, sondern noch von Fahrrad und Gepäck. Den haben mir übrigens viele Freunde und Bekannte gewünscht: Einen schönen, spannenden Urlaub. Nein, liebe Daheimbleiber und treue Blogleser. Eine Radtour wie diese ist kein Urlaub im klassischen Sinn, auch wenn sie viele klassische Elemente enthält. Sich Tag für Tag zu motivieren, seine körperliche Belastbarkeit auszutesten, wahlweise zu überschreiten, ist eine Grenzerfahrung, wie zumindest ich sie noch nicht in der Form erlebt habe. Ich bin versucht, es klein zu reden, fürchte allerdings Christians Tadel und gestehe deswegen: Die Tour ist arschanstrengend. Und ich rede an dieser Stelle nicht von den Naturgewalten wie Gegenwind, knallende Sonne, Steigungen, die mich an die Kotzschwelle bringen. Auch nicht die zum Teil unfassbar rücksichtslosen Autofahrer, die schlechten Radwege, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Nein, es ist das Alleinsein mit sich und seinen Gedanken, die Tango tanzen und sich nur schwer in Zaum halten lassen. Da können schon auch alte Geschichten von Verrat und Verlassenwerdens hochkommen, die Wut auf Freunde, die keine mehr sind, die Trauer über Verluste. Ja, es ist tatsächlich nicht nur spaßiger Luxus, so viel Zeit für sich selber und seine Gedanken und Erinnerungen zu haben. Was aber nicht bedeutet, dass ich bislang auch nur eine Minute / nur einen gefahrenen Kilometer bereue.
Der Frustanfall dauert eine knappe halbe Stunde – dann muss einfach Schluss sein, wir haben keine Taschentücher mehr übrig und auch das Klopapier wird knapp. Christian lenkt meine Gedanken auf einen Mistkäfer und es dauert ziemlich lange, bis ich begreife, worauf er hinauswill. Mit verquollenen Augen und dem wilden Wunsch, mich nicht von meinen Emotionen und Ängsten ernsthaft aus der Bahn werfen zu lassen, treten wir in die Pedale, erreichen nach 3:42 Stunden reiner Fahrzeit und 59,11 Kilometer den Campingplatz Weserbogen um 16.10 Uhr. Bauen unser Zelt auf, räumen es ein – und die zweite Erschöpfungswelle droht mich ohne Rücksicht auf Nachbarn in ihren Zelten und Wohnwagen zu ersäufen wie eine kleine Katze im Sack eines gefühlskalten Bauern. Es hilft nichts – außer aushalten. Und hoffen, dass der nächste Tag besser wird. Gute Nacht, böse Gedanken. Ich denke, ohne es genau zu wissen, Tina erlebt gerade das Gleiche wie viele andere, die eine beschwerliche Pilgerreise wagen. Im Alltag verdrängen wir böse Gedanken und verstecken sie unter allerhand Beschäftigung. Um unsere eigenen Probleme nicht thematisieren zu müssen, stürzen wir uns manchmal leidenschaftlich auf die Probleme der Anderen. Das alles geht hier nicht. Beim Touren bin ich dazu gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, denn Gespräche beim Fahren sind zumindest auf öffentlichen Straßen kaum möglich.
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Es scheint uns zu verfolgen: An einem Tag ist der Campingplatz hervorragend und am nächsten echt schwierig.
Anrum hat uns gezeigt, wie Camping scheinbar heutzutage verstanden wird, und wie wir es auf keinen Fall haben möchten. Wir haben viel gesprochen, sind uns einig: Dauercamper sind an sich in Ordnung. Aber eine maximale Gewinnausbeute an Grund und Boden wie es in Anrum betrieben wird, ist genauso schwachsinnig wie riesige Hotelkomplexe an der Mittelmeerküste. Sowohl die Umwelt als auch die Menschen verlieren an Ursprünglichkeit und werden einfach zu einer grauen Masse. Es ist irgendwie ein bisschen wie zu Hause, wo immer mehr gut betuchte, großstadtmüde Menschen Häuser kaufen und sich so in einer ruhigen Gegend mit netter Bevölkerung eine neue Heimat schaffen wollen. Aber es sind leider zu viele von diesen ich-hab-das-Geld-um-mir-zu-kaufen-was-ich-will-Menschen und diese verdrängen Stück für Stück die ursprüngliche, die nette Bevölkerung. Letztendlich wohnen die Geldsäcke dann doch wieder nur unter Ihresgleichen und sind wieder unglücklich. Für die, die weichen müssen, bleibt dann oft nur der Neuanfang. Bis dann die mit dem Geld wieder wie Heuschrecken über das neue Stückchen ruhige Gegend herfallen. Campingplätze, die jeden Quadratmeter Land vermarkten, verlieren irgendwann eben das Flair eines Campingplatzes und somit ihr Tagesgeschäft. Es ist sicherlich verklärend von den guten alten Zeiten zu sprechen. Aber ich bin quasi auf einem Campingplatz aufgewachsen. Ich erinnere mich absolut lebhaft an unser Sommerdomizil im Fürstental, am hessischen Edersee. Die Wiesen waren schräg und blieben schräg. Es wurden Birken gepflanzt, weil die schnell wachsen und entsprechend schnell Schatten spenden. Unsere Väter bauten Stege, von denen wir ins Wasser hüpften. Am Abend saßen wir unten am Ufer am Lagerfeuer. Niemand parkte sein Auto neben seinem eingebunkerten Wohnwagen, in den Vorzelten standen weder Kühlschränke noch Spülmaschinen oder gar Flachbildschirme. Wir holten für unsere Nachbarn mit Brötchen, spielten Volleyball oder veranstalteten Segel- und Surfregatten, paddelten über den See und wenn es regnete, lagen wir in unseren Zelten und lasen oder kniffelten mit unseren Eltern im Wohnwagen. Es war ein freundliches, fröhliches, offenes Miteinander. Ich fürchte allerdings, dass mein Kindheitsparadies inzwischen auch eine Menge von seiner Unschuld verloren haben könnte. Es wird vermutlich Zeit, das mal zu überprüfen.
Eine blöde Serie in meiner Planungswut sollte uns allerdings für diesen Tag wieder einmal zu einem fantastischen Campingplatz führen und dass, weil keiner von uns bereit war, noch einmal so eine Abzocknummer zu akzeptieren. Aber vorerst die Geschichte, die uns zur Geschichte geführt hat.
Wir verschwinden morgens früh und wieder ohne Frühstück vom Campingplatz. Das Ziel der heutigen Etappe ist ein Campingplatz in Mardorf am Steinhuder Meer. Obwohl Niedersächsin, war selbst Tina noch nie dort, hat aber Freunde, die davon schwärmen. Also bin ich ein bisschen Co-aufgeregt ob der Aussicht auf einen tollen Campingplatz. Das Einzige, was ich nicht berechnet hatte, war der Vatertag. Klar, im Vorfeld wussten wir schon, dass es ein Feiertag ist und haben uns daher auch mit allen Nötigem eingedeckt, um diesen Tag zu überstehen. Aber: Vatertag heißt eben auch ein darauffolgender Brückentag. Selbstredend, dass dieser Tag gern als verlängertes Wochenende genutzt wird. Gerade bei Gelegenheits-Campern ist dies doch der erste offizielle Tag der Saison. Diesmal gibt es dann leider auch kein Frühstück beim Bäcker, sondern an der Tankstelle mit zwei noch warmen und wirklich ausgezeichneten Brötchen. Gut gestärkt, sehen wir uns bereit für die Durchfahrt von Hannover. Die ersten Traktoren mit trinkstarken und gut gelaunten Männern ziehen bereits in den ersten Minuten an uns vorbei, sind überraschenderweise kein bisschen nervig. Ich habe mich nur den ganzen Tag gefragt, unter welchen Umständen der Fahrer bestimmt wird. Was bringt diesen armen Kerl dazu, den ganzen Tag seine besoffenen Kumpel durch die Gegend zu kutschieren? Ich fürchte, die auserwählten Fahrer haben viele Leichen in ihren Kellern.
In Hannover weichen die zahlreichen Träckergespanne dann hauptsächlich Jugendgruppen mit Bollerwagen, die auch ohne Frage sehr lustig und kein bisschen aggressiv sind. Als wir auf den Leineradweg entlangfahren, spielt aus einem der soundtechnisch modifizierten Gefährte sogar ein uns gut bekanntes Salsa-Lied. Dispositio – ich LIEBE diesen Song. Und ein bisschen hatte ich gehofft, dass er unser Tour-Song wird. Ich fordere Christian zum tanzen auf und obwohl er sich für einen Moment geniert, hat er genauso viel Spaß wie ich. Ich wusste nicht, dass ich in Fahrradschuhen Salsa tanzen kann. Für unsere kleine Tanzeinlage ernten wir Beifall und Jubelrufe. Als wir durch Seelze fahren, kommt Tina auf die Idee, den in Hannover lebenden besten Freund ihres verstorbenen Vaters zu besuchen. Kurzentschlossen ruft sie bei ihm an und wir werden herzlich von ihm und seiner Frau eingeladen. Ein klitzekleiner Umweg, der mich zu zwei wunderbaren und unglaublich gastfreundlichen Menschen führt, die mir ohne Tina vorenthalten worden wären. Rolf und Edith kenne ich seit über 40 Jahren und auch wenn wir uns nur selten sehen – das letzte Mal auf der Beerdigung meines Vaters vor eineinhalb Jahren -, sind sie wichtige Menschen in meinem Leben. Nicht nur, weil sie quasi mit die engste Verbindung zu meinem Vater sind. ¨Oh, ihr seid mit dem Rad da, dann sage ich den Tisch beim Italiener wieder ab und wir kochen etwas!¨ Rolf ist kein Mensch großer Reden, er macht einfach und so werden wir nach einer kurzen Wohnungsführung köstlich mit Nudeln und, eine Neuheit für mich, gebratenem Fenchel bewirtet. Wir wären gern noch eine Weile geblieben und hätten sicher auch den ganzen Nachmittag verquatschen können. Aber leider sind es noch 30 Kilometer bis zum Steinhuder Meer. Daher müssen wir uns nach zwei Stunden und damit viel zu schnell verabschieden. Vielleicht hätten wir doch noch ein bisschen bleiben sollen, denn plötzlich hat sich der Wind gegen uns verschworen und bläst uns kräftig entgegen. Ein Omen auf das, was uns am Steinhuder Meer erwarten sollte?
Der auserwählte Platz liegt im Nordwesten des Sees und so schlägt das Navi eine Route über die östliche Küste vor. Es sind zwar wieder die altbekannten, wunderschönen, niedersächsischen Ortschaften, die da der nicht sonderlich hübschen Silhouette von Hannover einen Platz abringen, aber vom eigentlichen See haben wir nichts gesehen. Das muss man erst mal stemmen: Zum Steinhuder Meer fahren, ohne einen Tropfen Wasser gesehen zu haben.) Als sich 12 Kilometer vor dem Campingplatz auch noch ein Wolkenbruch ankündigt, legen wir in weiser Voraussicht schon einmal die Regensachen an und sicheren die Packtaschen. Regen gibt es dann aber auch im Norden des Steinhuder Meeres nicht, genau wie wir auch weiterhin kein Wasser zu Gesicht bekommen sollten. Der nördliche Weg führt aber durch ein Moorgebiet, was nicht besser zur vom Wetter verströmenden Stimmung hätte passen können. Und so kommen wir dann um kurz nach 16:30 Uhr an dem Platz an, der uns einen nachhaltigen Eindruck von Wirtschaftscamping vermittelt. Von Außen macht er einen guten Eindruck, wir bekommen aber bereits an der Anmeldung unsere Abreibung, als man von uns den Unkostenbeitrag für drei Tage verlangt. Nur mal so: Ein Zelt, zwei Personen, eine Nacht, sollte 51 – in Worten einundfünfzig Euro kosten! Hallo?!?! Gehts eigentlich noch? Zeltplätze werden dort nämlich über Himmelfahrt und Pfingsten nur für das gesamte Wochenende vergeben. Also entweder 3 Tage zahlen oder wieder abziehen. Als wir der mittelalten Rezeptionsdame erklären, dass uns das zu teuer ist, erwidert sie mit einer Mischung aus Hohn und Mitleid, dass wir es gerne wo anders probieren können, es aber überall genauso teuer ist und es überall so voll sein wird.
Nach dem Reinfall mit Anrum verlassen wir die Rezeption mit einiger Wut im Bauch. Im Übrigen: ¨voll¨ war dieser Campingplatz keineswegs. Gut gefüllt ja, aber voll auf keinen Fall. Wir sind beide bockig und suchen eine Alternative, die uns noch weitere 20 Kilometer kosten soll. Dazu müssen wir durch Mardorf, ein kleines touristisches Örtchen, in dem die Leute offensichtlich jeden zweiten Tag einen anderen Markt veranstalten. Heute ist der Dorf- und Bauernmarkt dran und so können wir wenigsten noch eine Waffel, einen Kaffee und ein paar Stück Kuchen ergattern. Und haben auch noch was Gutes getan: Der Erlös vom Kuchen ging komplett an die Konfirmandengruppe. Habe nix mit Kirche am Hut – aber solche Sachen unterstütze ich aus Nostalgiegründen gerne.So gestärkt, aber dennoch demotiviert geht es auf die heutige Schlussetappe nach Münchenhagen, einem Zeltplatz, der mit direktem Anschluss an das Dino-Land auch wieder nichts Gutes verheißt. In Gedanken male ich mir schon Kinderterrorgruppen aus, die einen mit einem überforderten Studenten ausgestopften Stoffdino drangsalierten. Aber Pech gehabt, denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Mitten im Tal gelegen, lag einer der großartigsten Campingplätze unserer bisherigen Tour. Pferde, Hunde, nette Camper und Birgit, die Herrin des Platzes heißen uns herzlich willkommen und ihr Mann Harry bekocht uns in seiner Kneipe ¨Harry`s Wild es Eck¨ wie bei Mutti. Aus der Raupe mit Namen ¨miese Erwartung¨ entpuppte sich ein wahrer Schmetterling mit Namen ¨Erlengrund¨. Ich weiß übrigens gar nicht, warum meine Tina immer schimpft, dass ich nichts von Romantik verstehe – kann ich doch! Zum Thema Romantik könnte an dieser Stelle vielleicht vorsichtig angemerkt werden, dass sie eben immer sehr unerwartet kommt. Und dann bin ich so überfordert… ok. Keine weiteren Beziehungsinterna. Was mein Herzensmann aber vergessen hat zu erwähnen: Vor der Belohnung hat der liebe Gott (oder wer auch immer) die Strapaze gesetzt. Und die waren in diesem speziellen Fall enorm und in Form böser Steigungen, und ich bin ein klitzekleines bisschen empört, hier kein Wort darüber zu lesen! Der Weg ins verwunschene Paradies war buchstäblich steil und steinig. Das sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt. Und wären die Duschen ein bisschen moderner gewesen, Erlengrund hätte Bettmar vorläufig vom ersten Platz verdrängt.
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